Chris Whitaker: „Was auf das Ende folgt“

Abgründige Idylle

04:48 Minuten
Cover des Romans „Was auf das Ende folgt“ von Chris Whitaker.
© Piper

Chris Whitaker

Aus dem Englischen von Wolfgang Müller

Was auf das Ende folgtPiper, München 2022

400 Seiten

22,00 Euro

Von Irene Binal · 30.07.2022
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Krimi, Psycho-Drama, Screwball-Comedy: Der Debüt-Roman von Chris Whitaker ist ein erfrischender Genre-Mix und erzählt von den Bewohnern einer US-amerikanischen Kleinstadt, die alle etwas zu verbergen haben.
Irgendwo in Kalifornien liegt die Kleinstadt Tall Oaks. Hier kennt jeder jeden und jeder weiß alles über seine Nachbarn – oder vielleicht doch nicht? Als der dreijährige Harry eines Nachts spurlos verschwindet, bekommt die idyllische Fassade plötzlich Risse. Denn tatsächlich hat jeder in Tall Oaks Geheimnisse, die unvermittelt an die Oberfläche drängen.

Alkohol und bedeutungsloser Sex

Jess, Harrys Mutter, die auch Monate nach Harrys Verschwinden Plakate mit seinem Foto aufhängt, betäubt ihren Kummer mit Alkohol und bedeutungslosem Sex. Polizist Jim, verliebt in die trauernde Jess, kann seine Wut nicht immer zügeln. Henrietta, Harrys Tante, deren Ehe mit Roger sich abgenützt hat, verbirgt etwas in ihrem Arbeitszimmer, während Roger sich auf Porno-Webseiten herumtreibt und mit seinen Selbstzweifeln kämpft.
Der dicke Jerry mit der hohen Stimme und dem langsamen Verstand pflegt seine todkranke gehässige Mutter und flüchtet vor dem Spott der Nachbarn in sein Hobby, die Fotografie. Die alleinerziehende Mutter Elena fühlt sich zu dem charmanten Autoverkäufer Jared hingezogen, aber der scheint nicht der zu sein, für den er sich ausgibt. Und Elenas Teenagersohn Manny streift im Gangsterlook durch die Straßen, bis er sich in die Nachbarstochter Furat verliebt.

Mal feinfühlig, mal düster

Diesen beachtlichen Figurenkosmos managt Chris Whitaker souverän, mit leichter Hand und großer Wandlungsfähigkeit. Seine Prosa ist mal feinfühlig, wenn er von Jess erzählt. Sie wird nicht nur vom Verschwinden ihres Sohnes aus der Bahn geworfen, sondern auch davon, dass ihr Mann sie verlassen hat. Der Text wird düster, wenn es um Jerry geht, der von seiner Mutter gepeinigt und von seinem Umfeld verlacht wird. Und mal baut Whitaker komödiantische Passagen ein, wenn Manny im Nadelstreifen-Dreiteiler mit Fedora und Schnurrbart den Gangsterboss gibt, aber als Schutzgelderpresser beklagenswert erfolglos bleibt, weil ihn niemand ernst nehmen will.
Es ist eine gewagte Mixtur aus verschiedenen Genres, und dass all das nicht in Belang- oder Geschmacklosigkeit abgleitet, ist Whitakers Stilgefühl zu verdanken. Er hält seinen Roman in der Balance, widmet jeder einzelnen Figur gleichermaßen seine Aufmerksamkeit und vermeidet es, sich in allzu großem Detailreichtum zu verlieren.

Verzweiflung, Wut und Zusammenhalt

Harrys Verschwinden ist der rote Faden in einem Buch, das weit über einen Krimi hinausgeht: Nicht nur um die Suche nach einem Kind geht es, sondern um menschliche Abgründe, um enttäuschte Hoffnungen, Verzweiflung und Wut, aber auch um Zuneigung, Großherzigkeit und Zusammenhalt in schwierigen Zeiten.
Ein beinahe perfekter Roman also – wäre da nicht der deutsche Titel, an dem Chris Whitaker freilich keinerlei Schuld trägt. „Was auf das Ende folgt“ wirkt trivial angesichts der ebenso spannenden wie reichhaltigen Handlung, der liebevollen Figurenzeichnung und der feinen Psychologie des Textes.
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