Chor und Orgel, wer braucht das?

Von Igal Avidan · 05.10.2012
Vor der Shoah gab es in der liberalen Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße einen Organisten und einen Kantor für die musikalische Begleitung der Gottesdienste. Diese Tradition lebte nach dem Krieg im Berliner Westen, in der Pestalozzistraße, weiter. Nun kann die Gemeinde die Chorsänger nicht mehr bezahlen.
Seit ihrer Kindheit ist Marguerite Marcus mit der Synagoge Pestalozzistraße verbunden, die sie seit 50 Jahren besucht. Zu den hohen Feiertagen war die liberale Synagoge West-Berlins dermaßen überfüllt, dass liberale Gottesdienste auch im Gemeindezentrum in der Fasanenstraße stattfanden. Eigentlich sei sie für einen egalitären Gottesdienst, sagt Marcus, aber die Musik des legendären jüdischen Komponisten Louis Lewandowski, die nur in der Pestalozzistraße jeden Gottesdienst begleitet, zieht sie dennoch jedes Mal dorthin:

"Wenn ich in die Pestalozzistraße komme und die Orgel und den Chor höre, dann ist das, wie nach Hause kommen. Am zweiten Abend-Sukkot komme ich und denke: Oh, sie haben kein Minjan, weil ich höre nichts. Und das war nicht die Amida, es ist normal, das stille Gebet und ... Ich wusste gar nicht, wie wichtig der Chor dafür ist, denn die Liturgie beschreibt es so, dass es ein Wechselgesang gibt zwischen dem Kantor und der Gemeinde. Und die Gemeinde ist gewohnt, dass der Chor diesen Wechsel übernimmt und dann gar nicht einspringen kann so schnell und den Part übernehmen kann. Und insofern war es ein sehr trauriges Erlebnis, was zu einem Festtag und Freudentag wie Sukkot leider gar nicht passte."

Der Chor wurde an dem Tag zum ersten Mal eingespart, weil das Geld für die acht professionellen Sänger nicht mehr ausreicht. Denn kein jüdischer Feiertag fiel auf einen Shabbat und daher musste der Chor öfter auftreten. Die Vorsteher der Synagoge hoffen, den fehlenden Betrag von rund 5000 Euro durch Spenden zu decken. Für das kommende Jahr will der Gemeindevorstand diese Mittel in Höhe von 35.000 Euro um 10.000 Euro kürzen, was den einzigartigen Gottesdienst ernsthaft gefährdet.

Die Synagoge Pestalozzistraße führt seit ihrer Neueinweihung im September 1947 den liberalen Ritus mit elektrischer Orgel und gemischtem Chor. Diesen Ritus haben Kantor Leo Gollanin und der katholische Organist Artur Zepke eingeführt, beide waren vor der Shoah in der liberalen Synagoge Oranienburger Straße tätig. Kantor Estrongo Nachama setzte diese einzigartige Tradition fast 50 Jahre fort.

In der Synagoge Pestalozzistraße findet man nicht nur eine leere Kasse, sonder auch ein großes Misstrauen gegenüber dem neuen Vorstand. Die Synagoge Pestalozzistraße muss seit Jahren dringend saniert werden. Deswegen sollten die liberalen Beter im Mai dieses Jahres für 16 Monate ins Gemeindehaus an der Fasanenstraße einziehen. Doch bei einer Begehung des Gemeindezentrums im März sprach sich der neue Kultusdezernent Boris Braun dagegen, dass die liberalen Gottesdienste im Gemeindezentrum stattfinden sollten. Schließlich wurde er im Vorstand überstimmt und der Umzug ohnehin aus finanziellen Gründen zuerst verschoben. Doch das Misstrauen ist geblieben.

Rabbiner Tovia Ben-Chorin betreut seit vier Jahren die liberalen Berliner Juden, auch in der Synagoge Pestalozzistraße:

"Es ist das Gefühl da, dass durch die neuen Wahlen in der Berliner Gemeinde ein Versuch ist, das liberale Judentum so weit wie möglich wegzudrängen, verkleinern, und sie sollen (dort) bleiben, wo sie sind. Das merken wir in dem Budget für die Synagoge.

Als Rabbiner habe ich das Gefühl, dass die Tradition des 19. Jahrhunderts die neue Administration davon überhaupt nicht angesprochen wird, die kennen es auch nicht, die meisten Leute, die jetzt gewählt worden sind. Und das liberale Judentum haben sie, in den Ländern aus denen sie kamen, nicht gekannt.

Jetzt ist die Frage: Müssen wir uns in Berlin anpassen an den Traditionen, die die Leute aus ihren Ländern gebracht haben, oder müssen sie sich anpassen an die Tradition von Berlin? So wie ich mich anpassen musste."

Liberale Beter wie Marguerite Marcus befürchten, sie könnten nicht mehr in ihre Synagoge zurückkehren, wenn sie sie einmal verlassen haben. Oder dass der Vorstand den liberalen Gottesdienst einstellen würde. Kultusdezernent Boris Braun versteht die ganze Aufregung nicht. Zuerst macht er klar, dass er zwar orthodox ist und von der liberalen Tradition wirklich nichts verstehe. Zugleich betont er, dass er keinerlei Absicht habe, den liberalen Ritus anzutasten.

Auf das Gerücht, der Vorstand könne die Pestalozzistraße während der Renovierung an Chabad übertragen, reagiert Boris Braun mit Erstaunen:

"Das finde ich wirklich! Ich habe diese Gerüchte gehört und ich bin zu der Sukka gekommen, extra von zu Hause, um das zu schaffen und den Leuten zu erklären: Leute, Chabad ist Chabad, Joachimstaler ist Joachimstaler und Pestalozzistraße bleibet Pestalozzistraße ... Solange ich Kultusdezernent bin, verspreche ich: Kein Haar von der Pestalozzistraße wird runterfallen. Das bleibt so wie das ist. Ich werde das nicht ändern. Ich werde nie in meinem Leben Pestalozzistraße anfassen, zu verbessern oder zu verschlechtern. Das werde ich niemals machen. Und Pestalozzistraße bleibt liberal, ganz einfach."

Die Renovierung der Synagoge Pestalozzistraße wurde nur verschoben, weil die Lottostiftung die Mittel dafür noch nicht überwiesen hätten, erklärt Boris Braun. Die Entscheidung des Vorstandes stehe fest, man werde nach liberalem Ritus in der Fasanenstraße beten dürfen. Auch wenn Brauen persönlich dagegen war, wie er offen sagt, um die orthodoxen Besucher des Restaurants nicht zu stören. Zurzeit kürzt Boris Braun die Mittel für alle Synagogen, wie er betont.

Damit der professionelle Chor weiterhin bestehen kann, ruft er die Beter zu mehr Eigeninitiative auf:

"Wenn wirklich Geld fehlt, dann steht der Gabbai auf und sagt: 'Hei, wir haben ein Problem, Leute, wir kriegen nicht so viel Geld, bitte steigt euch ein, jeder soll fünf Euro, zehn Euro spenden im Monat'. Das wird hinkommen. Das Problem ist, wir sind in großen Schulden. Der Senat hat uns klar und deutlich gemacht, wenn wir nicht bis zum Ende Jahr zeigen, was wir gespart haben und wie wir weiter noch sparen, dann werden wir keine Unterstützung mehr kriegen. Wir müssen wirklich zeigen, über 20 bis 30 Prozent Sparmaßnahmen bei unserem Budget."