Chor trifft Krise

Von Gerd Brendel · 15.07.2010
Drei Länder, drei Sprachen, drei Aufführungsorte: Beim "hellenic Festival" in der griechischen Hauptstadt zeigten Theodorus Terzopoulos, Shahika Tekant und "Rimini Protokoll" ihre aktuellen Blicke auf einen antiken Helden.
Der antike Chor wälzt sich im Staub. Prometheus keucht seinen Widerstand gegen Zeus auf Türkisch. Hermes, der Götterbote, schleudert ihm das Urteil der Götter über den unbotmäßigen Feuerdiebstahl auf Deutsch entgegen.

Der griechische Altmeister Theodoros Terzopoulos hat Erfahrung mit multiethnischen Ensembles. Als er vor vier Jahren "Die Perser" im Amphitheater von Epidauros teilweise auf Türkisch inszenierte, empörten sich noch konservative Kritiker über das angebliche Sakrileg. Für seinen "Prometheus" hat der Bildhauer Jannis Kounellis ein provisorisches Amphitheater in eine Industriebrache gebaut. Die leeren Fensterhöhlen einer alten Fabrik geben die unwirtliche Kulisse ab für ein Drama, in dem Terzopolous eindeutig Partei für den rebellischen Helden ergreift. Sein Chor kommentiert nicht unbeteiligt das Geschehen, sondern identifiziert sich mit dem tragischen Prometheus. Trotz Sprachbarriere ist der Pathos so real wie der rote Sand, den die Darsteller aufwirbeln.

"Also es war ganz anders, als wir es in Deutschland an den normalen Schauspielschulen so zu lernen bekommen, so mit ’ner inneren Stimme, mit so ’ner archaischen Energie und auch sehr körperlich."

Ismael Deniz, deutscher Schauspieler mit türkischen Eltern ist einer der Wenigen, der zwei der drei Aufführungssprachen beherrscht:

"Hier ist der Körper viel wichtiger wohl gewesen und das Sprechen ’ne Begleiterscheinung, die aber trotzdem auch sehr ernst genommen wird."

So ernst oder so unernst wie die Familiengeschichten der Ensemblemitglieder: Terzopoulos’ Familie stammt von der Schwarzmeerküste, Ismaels Vorfahren aus dem armenischen Eriwan. Aber am Ende der Probenarbeit bleibt die eine Einsicht: "wie deckungsgleich griechische und türkische Kultur sein können."

Shahika Tekand: "Was die antike griechische Kultur und die Kultur Anatoliens trennt, ist nur das Meer dazwischen."

Auch Terzopoulos’ türkische Kollegin Shahika Tekand betont das gemeinsame Erbe und die gemeinsame Erfahrung im Kapitalismus von heute. In ihrem "Anti-Prometheus" sind alle deutschen und türkischen Darsteller gebrochene Helden. Kein Gott hat sie an einen Felsen gefesselt, stattdessen trägt jeder eine meterhohe Stuhlpyramide. Wie Spielfiguren springen sie von einem Neonröhren-Rechteck ins nächste. Von Aufbegehren keine Spur, im Gegenteil.

Shahika Tekand: "Unsere Zeitgenossen auf der Bühne sind das Gegenteil von Prometheus. Denn um den Schmerz zu besiegen, muss man ihn anerkennen, und ständig reden sie sich ein, dass es ihnen gut geht."

Einen Tag nach der Premiere holt die Wirklichkeit die Bühne ein. Der sechste Generalstreik in Folge legt den öffentlichen Verkehr der Stadt einen halben Tag lang lahm. Und bis mittags um zwei demonstrieren die Streikenden vor dem Parlament prometheische Unbeugsamkeit.

Auf die Suche nach tragischen Helden des Alltags haben sich Helgard Haug und Daniel Wetzel von "Rimini Protokoll" gemacht. Für ihren "Prometheus von Athen" haben sie 100 Athener nach ihrer Lieblingsfigur aus dem Drama befragt. Herausgekommen ist ein Stück Doku-Theater in der ältesten intakten Spielstätte der Stadt, dem Odeion des Herodes Atticus. Hinter dem obersten Rang versinkt die Sonne. Die Zikaden liefern die Begleitmusik, und unten auf der Bühne probt die Personalreferentin Fani Malalaki ihren Auftritt.

Malalakis Lieblingscharakter ist Hephaistos, der Prometheus widerwillig an den Felsen schmiedet. Malalaki erzählt von den letzten Kollegen, denen sie kündigen musste. "Wer muss im Alltag Anordnungen gegen seine Überzeugung befolgen?", fragt sie ins Publikum - und 99 Athener stellen sich hinter ihr in zwei Gruppen auf:

"Und dann bewegen sich alle ... rüber … und dann kommt die nächste Phase … ja, nein, ja, nein … ich … ich nicht… " … erklärt Daniel Wetzel. "Wie man eben so Umfragen visualisiert, und dabei gehen wir eben durch den gefesselten Prometheus einmal durch."

Wer war schon mal im Gefängnis? Wer befindet sich auf einer Irrfahrt? Wer glaubt, dass sich Widerstand lohnt? So entsteht das Bild einer Gesellschaft auf der Suche nach sich selbst:

Daniel Wetzel: "Demokratie - funktioniert das so, dass sich alle Leute anschauen und dass da vorne einer steht und wir fühlen uns alle repräsentiert? Wie weit geht das? Wie wichtig ist uns das? Steht das auf’m Spiel? Ist gerade wirklich hier ’ne Frage. Deshalb versuchen wir das, dass man zumindest mit so Fragen rausgeht und etwas Emotionales damit verknüpft."

Am Ende erwartet auch hier wie bei Aischylos Prometheus die Unterwelt. Aber bei "Rimini Protokoll" fahren die 100 Athener singend zur Hölle. Wenn ausgerechnet ein Gefängniswärter ein alter Revolutionslied aus den 70-ern anstimmt, dann wird klar, dass Katharsis auch etwas mit Hoffnung zu tun hat - darauf, dass weder Götter noch Wirtschaftssysteme das letzte Wort haben müssen.

Die drei Inszenierungen der "Promethiade" sind vom 23. Juli bis zum 7. August 2010 in Essen in Zeche Zollverein zu sehen.
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