Chinas ungelöster Konflikt

Von Astrid Freyeisen · 08.09.2009
Am 5. Juli 2009 brachen in Urumqi, der Hauptstadt der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang, blutige Unruhen aus. Wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, ist noch immer ungeklärt. Mittlerweile ist in der Provinz zwar Ruhe eingekehrt. Aber die Menschen wirken deprimiert, verängstigt und unzufrieden.
Die Bilder schockierten ganz China: Menschenjagd auf den Straßen von Urumqi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang im Nordwesten. Frauen und Kinder in Blutlachen auf dem Boden, die meisten umgebracht durch Schläge auf den Kopf. Die offizielle Bilanz dieses 5. Juli 2009: 197 Tote. Duan Zongcheng hat nur mit Glück überlebt. Er ist Mechaniker in einem Autohaus der chinesischen Marke Geely:

"Anfangs kamen viele Uiguren die Straße hoch, sie haben mit Steinen chinesische Geschäfte verwüstet. Dann haben sie angefangen, Leute umzubringen. Sie haben sie aus ihren Autos gezerrt. Ich hatte Angst. Dann sind sie über den Zaun geklettert, in unser Geschäft gekommen und haben alle Autos kaputt geschlagen. Meine Kollegen und ich waren zu fünft. Wir sind in den Keller geflüchtet. Ich trauere um die Opfer. Sie hatten keine Chance, sich zu wehren, so schnell schlug man sie tot."

Duan Zongcheng ist erst 18, Sohn von Zuwanderern aus der Nachbarprovinz Gansu. Seine Familie gehört zu den Han-Chinesen, die über 90 Prozent der Menschen in der Volksrepublik stellen. Duan Zongcheng ist in Xinjiang geboren, das offiziell als autonomes Gebiet der Uiguren bezeichnet wird. Der junge Mechaniker wirkt verloren in den Überresten des Autohauses: Die Innenwände sind Ruß geschwärzt, auf dem Hof stehen ausgebrannte Wracks. Duan ist dabei, Trümmer wegzuräumen. Bald schon will sein Chef renovieren und wieder öffnen. Der ausgebrannte Geely-Handel ist ein Symbol der Gewalt vom 5. Juli, der zerstörte Laden war überall im Fernsehen zu sehen:

"Ich habe vorher keine Anzeichen für Gewalt bemerkt. Wir und die Uiguren kamen miteinander aus. Ich wohne in einem uigurischen Viertel, hier gleich gegenüber. Manchmal habe ich versucht, auf Uigurisch etwas zu ihnen zu sagen. Jetzt spüre ich einen Graben. Früher war es völlig natürlich, wenn ich meine uigurischen Nachbarn gegrüßt habe. Jetzt fühlt sich das unehrlich an."

Duan Zongcheng deutet auf sein Wohnviertel: Niedrige gekachelte Flachdachhäuser, eine Moschee, ein Straßenmarkt. Vor dem Eingang haben mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten Posten bezogen. Sie beobachten nur, man kann problemlos passieren. Die staubigen Gassen wirken unnatürlich leer: Vor dem 5. Juli drängelten sich hier Hausfrauen beim Einkauf, Melonenhändler, spielende Kinder. Jetzt sind vor allem Uiguren unterwegs, die Ausweise umhängen haben: Angehörige der Nachbarschaftskomitees, offiziell beauftragt, für Ruhe zu sorgen:

Die Männer vom Nachbarschaftskomitee wollen wissen, wer wir sind. Dann lassen sie uns gehen. Aber jeder konnte sehen, dass wir kontrolliert wurden. Unter diesen Umständen ist es nicht einfach, Uiguren zu finden, die mit uns sprechen wollen. Wie dieser Friseur, der aus der nördlichen Stadt Yili nach Urumqi gezogen ist. Er sagt, er habe sich am 5. Juli nicht aus dem Haus getraut:

"Ich hatte Angst. Ich wollte ja nicht erstochen werden. 80 Prozent der Leute in diesem Viertel sind seither fortgezogen. Vor den Unruhen habe ich umgerechnet bis zu 80 Euro am Tag verdient, jetzt nur noch 10. Die Jobsituation ist hart. Nicht mal Studenten bekommen eine Arbeit, und wer schlechter ausgebildet ist, hat noch weniger Chancen.
Die Leute in dieser Nachbarschaft stammen alle aus dem Süden der Provinz Xinjiang, aus Aksu, Hotan und Kashgar."

Dort, wo die Uiguren noch deutlich die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Wo die Städte an Tausendundeine Nacht erinnern, die Stadtkerne noch keine Ansammlung von Hochhäusern sind.
Die Uiguren sind ein muslimisches Turkvolk. In der Hauptstadt Urumqi sind sie in der Minderheit, wie im gesamten fruchtbaren Norden der Provinz.

"Zu Hause haben Leute wie wir kein Land, das sie bewirtschaften könnten. Also sind sie hier, um Arbeit zu finden. Aber seit den Unruhen haben viele aus Angst die Stadt verlassen. Ich will bleiben. Was kann ich sonst machen? Die Regierung gibt mir nichts, das Geschäft läuft schlecht, ich habe nur so viel, um mich selbst durchzubringen."

Als wir den uigurischen Friseur nach seiner Meinung über die Gründe der Gewalt vom 5. Juli fragen, sagt er nur "weiß nicht" und rennt davon. Ein paar Minuten später biegen drei schwarz gekleidete Männer um die Ecke: Polizisten. Auf der Wache überprüfen die Beamten den Journalistenausweis. Mit dem freundlichen Hinweis, dass wir auf unsere Sicherheit achten sollen, lässt man uns gehen. Zurück auf der Straße, dauert es nicht lange, bis uns wieder jemand aufhält. Ein Mann mit einem Abzeichen der kommunistischen Partei am T-Shirt:

"Ich komme von der Regierung. Machen Sie Interviews? Über was? Wenn sie interviewen, brauchen sie eine spezielle Erlaubnis der Regierung."

Brauchen wir nicht laut Pressegesetz. Es ist völlig klar, dass sich der Mann nur aufspielen will. Doch er ist nicht der Einzige in unserem Schlepptau: Tagelang folgen uns zwei bis drei Männer in etwa 100 Metern Abstand überallhin. Fahren wir im Auto, ist ihres nicht weit. Nachts vor unserem Hotel kommt eine Ablösung für die Männer. Und das, obwohl wir uns strikt an die Vorschriften halten. Obwohl die Ausländerbehörde Urumqi für Reporter sogar ausdrücklich freigegeben hat. Ein Uigure ist so eingeschüchtert, dass er ein Interview mit dem Hinweis ablehnt, er bräuchte dafür ein Empfehlungsschreiben der Regierung. Die Chinesen verhalten sich deutlich selbstbewusster. In jenem uigurischen Viertel, in dem auch der junge Automechaniker wohnt, sitzen ein paar Männer am Straßenrand:

"Als der Aufstand losbrach, wurde draußen gebrandschatzt und geplündert. Ich habe da keinen Schritt vor die Tür gemacht. Wer hätte sich das schon getraut? Überall wurde gemordet. Von drinnen habe ich den Rauch gesehen und gehört, wie Autos explodiert sind.
Am nächsten Tag hat sich kein Han-Chinese auf die Straße getraut. Nur Uiguren waren draußen zu sehen und sie wirkten sehr stolz. Als ob sie etwas Großes erreicht hätten. Am 7. Juli kam dann die bewaffnete Polizei. Nach einer Weile haben sich die Chinesen, deren Angehörige getötet oder verletzt wurden, zusammengetan. Mit Stöcken und Messern wollten sie in unserm Viertel Rache an den Uiguren nehmen. Die Uiguren hatten Angst und wirkten gar nicht mehr stolz."

Der Chinese ist verzweifelt. In Urumqi lebt er 3000 Kilometer entfernt von seiner Heimat in der Provinz Hubei. Die hat er nur verlassen, weil er von besseren Verdienstchancen in Urumqi gehört hatte. Er ist Lastwagenfahrer, seit dem 5. Juli rechnet es sich nicht mehr, die Fremde zu ertragen. Seine Familie hat der Mann bereits nach Hause geschickt:

"Ich mache mir Sorgen um die Sicherheit meiner Kinder. Wer weiß, was als Nächstes passiert. Wenn sich das Geschäft nicht bessert, gehen wir fort von hier. Es ist kompletter Unsinn, wenn die Uiguren behaupten, wir nähmen ihnen die Jobs weg. Was ist dann mit den Uiguren in den Küstenregionen? Die Regierung bildet sie aus und schickt sie nach Zhejiang, Qingdao und Guangzhou. Stehlen sie nicht auch anderen die Jobs?"

Die Stimmung in Urumqi macht deutlich, wie gravierend der ungelöste Konflikt zwischen Uiguren und (Han-)Chinesen ist – das wohl gravierendste ethnische Problem in China. Eins fällt auf: Der Graben zwischen den Volksgruppen ist vor allem ein wirtschaftlicher Graben, vertieft durch die Politik. Die autonome Uiguren-Region Xinjiang gehört seit 1949 zur Volksrepublik China. Deren Regierung wird nicht müde zu betonen, dass die Wurzeln dieser Zugehörigkeit Jahrhunderte zurückreichen. Im Museum von Urumqi werden westliche Ausländer von einer uigurischen Studentin herumgeführt. Sie gibt die offizielle Version wider:

"Wir gehen jetzt in den Korridor der Zeit hinein. Hier sind wir in der Han-Dynastie. 59 vor Christus wurde die westliche Grenzregion errichtet. Xinjiang ist seither unverbrüchlich ein Teil von China."

Diese Meinung teilen viele Uiguren nicht. Sie weisen auf die faktische Unabhängigkeit ihrer Heimat in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts hin. Die Uiguren stellen mittlerweile nur noch rund 45 Prozent der Bevölkerung Xinjiangs. Ihr Stammland ist der Süden der Provinz. Dieser Süden werde immer ein problematisches Gebiet bleiben, glaubt Turgunjan Mehsut. Der junge Uigure arbeitet am Institut für Sozialwissenschaften in Urumqi:

"Süd-Xinjiang ist rückständiger als der Norden. Hauptgrund ist die geologische Lage. Süd-Xinjiang ist fast zur Gänze ein Teil der Wüste Taklamakan. Obwohl es ein riesiges Land ist, sind die bewohnbaren Gegenden auf die Oasen begrenzt. Die Bevölkerungsdichte ist hoch und die Wasservorräte knapp. Die Bauern dort können ihr Einkommen nicht durch die Landwirtschaft erhöhen. Es gibt dort keine Hoffnung, es sei denn, man weiß, wie man Gold anbaut."

Turgunjan Mehsut stammt selbst aus Süd-Xinjiang, aus einem Dorf in der Nähe von Kashgar. Sein fantastisches Chinesisch hat er auf der Universität für Minderheiten in Peking gelernt. Er ist ein junger aufstrebender Kader, ein Modell-Uigure sozusagen. Die Welt der Zuwanderer in Urumqi dreht sich um andere Fragen. Im Viertel, wo am 5. Juli gemordet wurde, sitzen Nachbarn im Schatten vor ihrem Haus. Als die Gewalt ausbrach, hätten sie sich hinter verschlossenen Türen verschanzt, erzählt ein Mädchen, eine Uigurin:

"Jetzt sind wir nicht mehr so angespannt. Angst haben wir keine mehr, denn vorne am Eingang der Gasse stehen ja die bewaffneten Polizisten."

Das Mädchen spricht deutlich besser Chinesisch als ihr Vater und die Nachbarn. Sie sagt: In der Schule lerne sie Chinesisch, Englisch und Uigurisch. In Urumqi seien die Schulen viel besser als in der alten Heimat, wo den Schülern keine Computer zur Verfügung stünden. Das Mädchen hilft ihrem Vater und den Nachbarn bei der Unterhaltung mit uns. Wann immer die Männer uns nicht verstehen, dolmetscht sie Chinesisch-Uigurisch:

"Ich bin hier seit 1997. Ich bin gekommen, um Geld zu verdienen. Das Wetter zu Hause in Hotan ist schlecht. Es gibt nicht genug Wasser. Die Bauern verdienen nicht genug. Zu viele Leute, zu wenig Land. Deshalb bleibe ich in Urumqi. Ich gehe nicht zurück. Dort habe ich umgerechnet nicht mal 100 Euro im Monat.

Als ich hier ankam, konnte ich kein Wort Chinesisch. Meine Freunde haben mir geholfen und mir Wort für Wort beigebracht, wie man schreibt. Jetzt geht es schon viel besser.
Wenn ich nicht weiß, was der Chef zu mir sagt und er mich nicht versteht, dann gibt er mir keine Arbeit. Jetzt, da ich Chinesisch kann, finde ich leichter Jobs. Es gibt chinesische und uigurische Chefs, aber viel mehr chinesische. Die uigurischen sind nicht so erfolgreich."

Genau das sei die Wurzel des Übels, die Lunte am Sprengstoff in Xinjiang, sagt Helet Niyaz. Wie Turgunjan Mehsut , der Sozialwissenschaftler, ist auch er Uigure und spricht hervorragend Chinesisch. Bis Ende 2008 war Helet Niyaz Journalist bei der staatlichen Wirtschaftszeitung in Urumqi. Dann hat man ihn entlassen. Seither verbringt er seine Tage damit, auf den Straßen und im Internet die Situation in seiner Heimat zu beobachten.

"Seit 30 Jahren haben die Uiguren mit Problemen auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen. Die Zahl der Arbeiter, Dienstleister und Beamten unter ihnen ist sehr niedrig. Jedes Jahr finden nur 20 Prozent der mehr als 10.000 uigurischen Hochschulabsolventen Arbeit. Im Gegensatz dazu gelingt dies 94 Prozent der chinesischen Studenten. 95 Prozent der Firmen in Xinjiang sind in der Hand von Chinesen. Sie wollen keine Uiguren. Sie finden, dass es schwierig ist, Uiguren zu managen. Man muss dann zum Beispiel extra eine Kantine mit muslimischen Speisen einrichten. Bei Jobbörsen stellen viele Firmen einfach Schilder auf: Keine Uiguren."

Helet Niyaz fordert eine Art Minderheitenquote für Unternehmen in Xinjiang. Wer keine Uiguren einstellen wolle, der müsse höhere Steuern zahlen. Der Journalist ist überzeugt, dass die Regierung ihre Minderheitenpolitik ändern muss, wenn sie langfristig Frieden will. Sozialwissenschaftler Turgunjan Mehsut vertritt die Linie der Regierung, die stets betont, sie achte die verschiedenen Kulturen in der Vielvölkerprovinz Xinjiang – was allerdings Exil-Uiguren vehement bestreiten. Turgunjan Mehsut sagt:

"In unserer Akademie wird alles auf Chinesisch, Uigurisch und Kasachisch veröffentlicht. Viele Bücher in Xinjiang erscheinen in sechs Sprachen. Wir haben Fernsehkanäle in verschiedenen Sprachen. Dennoch ist es unmöglich, diese Praxis überall durchzuziehen. Wenn eine chinesische Firma in Xinjiang investieren will, dann will sie vor allem maximalen Profit erzielen. Sie kommt nicht, um verschiedenen ethnischen Gruppen Arbeit zu geben. Natürlich wird sie Leute anstellen wollen, die sofort anfangen können. Sie wird sich nicht um Sprachausbildung kümmern wollen. In China ist die tragende Kultur die chinesische. Obwohl Xinjiang eine autonome Region ist, ist die Provinz nicht abgeschnitten vom Rest des Landes."

Im Gegenteil. Xinjiang ist eine sehr wichtige Region für China: Flächenmäßig sogar die größte Provinz, mit langen Grenzen zu Russland, Kirgisien, Kasachstan, Tadschikistan und Unruhestaaten wie Afghanistan und Pakistan. Noch wichtiger angesichts des Rohstoffhungers der Volksrepublik: Xinjiang birgt wertvolle Vorkommen an Öl und Gas, der Norden bietet zudem auf Hunderten von Quadratkilometern wertvolles Ackerland. Neben Peking und Guangdong sei Xinjiang die Region in China mit den meisten Zuwanderern aus anderen Landesteilen, sagt Sozialwissenschaftler Turgunjan Mehsut. Ein Riesenproblem, findet Journalist Helet Niyaz:

"Die Ölindustrie ist die größte Branche in Xinjiang. 50 Prozent der Einnahmen in der Provinz stammen aus dem Ölgeschäft. Man findet nicht viele Uiguren in der Ölindustrie. Die Politik der Regierung hat immer nur den zehn Millionen Han-Chinesen in Xinjiang genützt, nicht den Minderheiten. Man kann das an den Einkommensunterschieden sehen. Und wenn ich Chinesen sage, dann meine ich auch die Grenztruppen, die in Xinjiang leben. Die offizielle Zahl der uigurischen Bauern ohne Arbeit liegt bei 1,5 Millionen. Gleichzeitig stellen die Grenztruppen im Norden chinesische Bauern in Massen ein. Neue Fabriken beschäftigen nur Chinesen."

Die Grenztruppen, auf Chinesisch: bingtuan. Als die Volksrepublik 1949 gegründet wurde, schickte Mao seine Truppen auch nach Xinjiang. Damals stellten die Uiguren 75 Prozent der Bevölkerung, die Han hatten nur sechs Prozent. Mao befahl den bingtuan, sich anzusiedeln . 1954 wurden sie zu einer dauerhaften Institution erhoben: 175 000 Soldaten kamen damals auf einen Schlag. Ein Schachzug, den die Grenztruppen in ihren Videos immer noch feiern:

"Zwei Generationen von Bauernsoldaten haben mit Schweiß und Blut Geschichte geschrieben. Sie hatten ein Gewehr in der einen und eine Schaufel in der anderen Hand."
"Generationen von Bauernsoldaten haben diesen schönen Garten mitten in der Wüste geschaffen, ein Wunder von Menschenhand."

Die Grenztruppen sind ein Staat im Staate. Mit 2,6 Millionen Menschen, von denen fast 90 Prozent Han-Chinesen sind. Weil sie direkt der Regierung in Peking und nicht der Provinzverwaltung von Xinjiang unterstellt sind, tauchen sie in der Bevölkerungsstatistik von Xinjiang nicht auf. Bingtuan ist eine wirtschaftliche Macht, einer der größten Produzenten von Tomatenmark weltweit. Darauf ist man in Shihezi ganz besonders stolz, der zweitgrößten Stadt in Xinjiang, die den bingtuan gehört. Hier sind Interviews nicht erlaubt. Shihezi ist ein unwirklicher Ort: Überall säumen Blumenteppiche die Straßenränder. Hochhäuser gibt es nicht, auch nicht die sonst üblichen Reklameschilder westlicher Firmen. Shihezi wirkt wie eine chinesische Stadt vor dem Wirtschaftsboom der 90er-Jahre, nur sauberer.

"In Shihezi begann die Baumwollproduktion. Baumwolle ist heute eins der wichtigsten Produkte von Xinjiang."

Im Museum von Shihezi. Schon der erste Raum zeigt, was im Selbstverständnis der Grenztruppen offenbar wesentlich ist: Fein säuberlich listen Schautafeln die Aufstände auf, die von den Grenztruppen in Xinjiang niedergeschlagen wurden, vor allem in den 90er-Jahren. Im Internet zu sehen: Exerzierübungen:

Im Selbstverständnis der Grenztruppen ging es bei den blutigen Einsätzen stets gegen Terroristen, die China spalten wollten. In einem Memorandum über Terrorismuskämpfung empfiehlt bingtuan: Man müsse massenweise Chinesen in jenen Gegenden Xinjiangs ansiedeln, deren Bevölkerungsmehrheit noch Uiguren sind. Also im armen Süden, wo die Arbeitslosigkeit am schlimmsten ist. Peking ist auch einem weiteren Vorschlag der Grenztruppen gefolgt: Junge Uiguren zu Hunderttausenden zum Arbeiten in andere Landesteile zu schicken. Turgunjan Mehsut zweifelt daran, ob dies sinnvoll ist:

"Viele kehren bald nach Hause zurück. Mit einer so anderen Kultur konfrontiert zu werden, ist für sie ein Kulturschock. Die einzigen, mit denen sie reden können, sind die anderen Uiguren in der Fabrik. Und viele der Arbeiter sind erst 16, 17."

Diese Politik ist die Erklärung für den Umstand, dass eine Fabrik mehrere 1000 Kilometer von Xinjiang entfernt zum Auslöser der Gewalt vom 5. Juli werden konnte. Eine Spielzeugfabrik in Shaoguan in der Provinz Guangdong. Dort kam es Ende Juni zu Lynchjustiz, mindestens zwei Uiguren wurden von ihren chinesischen Kollegen brutal erschlagen. Auslöser war ein Gerücht: Uiguren hätten eine chinesische Arbeiterin vergewaltigt. Die Behörden in Xinjiang stellten das Gerücht vor laufenden Fernsehkameras später als Tatsache hin. Die Hongkonger Zeitung South China Morning Post fand die Arbeiterin, sie sagte, Zitat:

"Ich bin nie von Uiguren vergewaltigt worden. Ich hatte mich nur im Arbeiterwohnheim in der Tür geirrt, stand plötzlich im Zimmer der Uiguren und schrie erschreckt auf."

Als die Zeitung die Wahrheit schrieb, war es bereits zu spät. Von der Lynchjustiz in Shaoguan gab es Bilder im Internet. Journalist Helet Niyat war entsetzt über die Reaktionen im Netz:

"Da waren Han-chinesische Nationalisten, die sagten: Gut gemacht, gut getötet! Solche Kommentare fand ich auf Hunderten von Seiten. Niemand hat gesagt, dass da ein schreckliches Verbrechen passiert war. Solche Beschimpfungen haben die Gefühle der uigurischen Internetnutzer tief verletzt. Sie wurden ins Uigurische übersetzt und auf uigurische Websites gestellt."

Der uigurische Weltkongress in München rief Anfang Juli zu weltweiten Demonstrationen gegen die Morde von Shaoguan auf. Helet Niyaz hörte den Aufruf über Radio Free Asia. Er sah Schlimmes kommen und versuchte vergeblich, Freunde in der Provinzregierung zu warnen.

"Ich habe meinem Freund gesagt, dass es nie bei einer friedlichen Demonstration in Urumqi bleiben würde. So etwas beginnt immer friedlich und endet in Gewalt."

So ist es geschehen. Die Opfer kämpfen noch immer mit den Folgen des Pogroms. Etwa Ran Heping, ein Chinese, der Speiseabfälle an Bauern verkauft.

"Wir waren im Müllauto unterwegs. Bevor wir uns versahen, waren die Scheiben zertrümmert. Mein Sohn und ich wurden am Kopf getroffen. Sie haben mich gejagt. Ich rannte in eine Baustelle, wo mich Leute versteckt haben. Mein Müllauto haben sie in Brand gesteckt. Mein größter Wunsch ist es nun, Entschädigung für das Müllauto zu kriegen, sodass ich meine Schulden abzahlen kann. Nicht nur ich, viele sind unzufrieden mit den staatlichen Entschädigungen."

Noch tiefer verunsichert ist ein Friseur, Zuwanderer aus Sichuan. Der Massagesalon neben seinem Laden ist ausgebrannt.

"Wenn nun zwei, drei Uiguren hereinkommen, habe ich schon Angst. Einige meiner Freunde aus Sichuan wurden umgebracht. Da war eine sechsköpfige Familie, vier wurden ermordet. Ein fünfjähriges Mädchen wurde am Arm verletzt, ein Uigure hat sie gerettet. Seit den Unruhen kann ich nicht mehr schlafen. Ich denke besonders oft an einen meiner toten Freunde. Wir waren uns so nahe. Mich überkommt eine solche Wut, wenn ich an ihn denke."

Journalist Helet Niyaz ist überzeugt: Der blutige 5. Juli 2009 wird zwei, vielleicht sogar drei Generationen lang die Gesellschaft spalten. Die Wut sitzt tief in Xinjiang. Bei den Uiguren, die sich als Terroristen diffamiert und im eigenen Stammland wirtschaftlich an den Rand gedrängt fühlen. Aber auch bei den Han-Chinesen, sagt Pan Zhiping, Regierungsberater von der Akademie der Sozialwissenschaften in Urumqi:

"Sie denken, dass die Regierung sie nicht beschützt hat. Sie sehen die Autorität der Regierung mit Misstrauen. Wir brauchen noch lange Zeit Bestimmungen, die die Minderheiten begünstigen. Das ist unvermeidlich. Han-Chinesen kritisieren solche Bestimmungen. Sie fragen: Warum braucht mein Kind so viel mehr Punkte als Kinder von Minderheiten, um an einer Universität aufgenommen zu werden? Aber ohne solche Vergünstigungen hätten viel weniger Angehörige von Minderheiten die Chance auf höhere Bildung."

Pan Zhiping erinnert daran, dass Angehörige von Minderheiten bis zu drei Kinder bekommen dürfen. Er findet, dass China auf lange Sicht seine ethnische Politik ändern muss, die noch aus stalinistischer Zeit stammt:

"Ich finde, in einer modernen Gesellschaft sollten wir die Idee des Bürgers stärken. Wir sollten die ethnische Zugehörigkeit nicht betonen. Wie ist es denn in Deutschland? Steht da im Pass, zu welcher ethnischen Gruppe jemand gehört? Das wäre ja wohl nicht erlaubt, das wäre doch fast rassistisch. Was wir erreichen müssen: Wenn jemand sagt, dass er zu einer Volksgruppe gehört und dafür Respekt will, dann sollte er diesen Respekt kriegen. Das ist das Wichtigste. Wenn er das aber nicht für wichtig hält, sollte die Ethnie keine Rolle spielen."