Chinas Forschung an Künstlicher Intelligenz

Im Reich allwissender Algorithmen

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Eine Besucherin hat eine Fernbedienung in der Hand und steht vor einem Bildschirm, auf dem eine digitale Darstellung einer Person zu sehen ist.
Schlüsseltechnologie KI: Gründer Huang Yongzhen spricht von einer "offenen Denkweise der Nutzer". © Getty Images / Barcroft Media / Costfoto
Von Axel Dorloff · 09.07.2020
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Ungebremst ist China auf dem Weg zur KI-Supermacht. Gesichts-, Gang- oder Spracherkennung: Künstliche Intelligenz durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche. Riesige Datenmengen treiben die Entwicklung an, Regulierung spielt kaum eine Rolle.
Chinas Welt der Künstlichen Intelligenz zur besten Sendezeit: "Ji zhi guo ren" heißt eine Spielshow im chinesischen Staatsfernsehen. Übersetzt: "Die Maschine ist klüger als der Mensch". Neue Technologien aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz treten gegen Menschen an.
Eine Aufgabe: Personen identifizieren. Männliche Vierlinge tanzen mit weiblichen Vierlingen – die Geschwisterpaare sehen identisch aus und tragen exakt die gleiche Kleidung. Wer kann die Paare besser voneinander unterscheiden: die intelligente Kamera oder der Mensch?

Die Überlegenheit der Maschine

Die Kamera hat souverän die Nase vorn, kann die Paare jederzeit und fehlerlos zuordnen. Mithilfe einer Erkennungssoftware des Pekinger Unternehmens Watrix. Die Kamera ordnet Personen zu, indem sie ihren Gang erkennt. Das System kann Menschen und auch Tiere auf Distanzen von bis zu 50 Metern identifizieren – und gilt dabei als genauer und effizienter als die Gesichtserkennung.
Watrix ist in China eins der wichtigsten Start-ups im Bereich der Künstlichen Intelligenz, kurz KI. Das Unternehmen ist in einem der zahl- und gesichtslosen Pekinger Hochhäuser zu Hause. Die Büroräume sind weiß gestrichen, weiß glänzen die Schreibtische. Die Atmosphäre wirkt aufgeräumt und konzentriert. Der Gründer von Watrix heißt Huang Yongzhen und ist 35 Jahre alt.
"Soweit ich weiß, gibt es etwa 20 Teams weltweit, die im Bereich der Gangerkennung forschen", erzählt er. "Aber bislang hat es noch niemand wirklich kommerzialisiert und in die breite Anwendung gebracht."

Gangerkennung per Algorithmus: Täuschung ist zwecklos

Und genau dabei möchte Watrix ganz vorne sein. Wenige Schritte vor der Kamera genügen, und das Kamerasystem hat eine Person erfasst. Es analysiert dabei verschiedene Merkmale des Körpers, misst Größenverhältnisse und Abstände, analysiert Bewegungsabläufe.
Watrix-Technikchef Li Zijun befestigt auf dem Teppichboden Klebeband für einen Selbstversuch. In einem Bereich von wenigen Quadratmetern soll ich ein paar Meter hin und her spazieren. Nach kurzer Zeit hat die Kamera mich registriert und ein Profil für mich angelegt.
Sobald ich wieder ins Bild laufe, erkennt mich die Kamera innerhalb von zwei bis drei Sekunden. Mein Profil taucht auf dem Monitor auf.
Täuschungsversuche seien zwecklos, sagt Technikchef Li: "Du hast dich mit deiner normalen Gangart registriert, und jetzt hast du absichtlich gehumpelt und das eine Bein hinterher gezogen. Aber das System erkennt deine Gangart trotzdem. Unsere Technologie identifiziert Menschen schon von fern – bevor diese die Kamera überhaupt erkennen können. Genauso ist das natürlich auch bei Kriminellen."

Eine Software für Kripo, Krankenhaus und Küchengeräte

Und genau da liegt eine Chance der Anwendung. Im Sicherheitsbereich, vor allem bei Ermittlungs- und Überwachungsbehörden. Die Polizei in Peking, Shanghai und auch in der Uiguren-Region Xinjiang wendet das Gangerkennungssystem von Watrix bereits in der Praxis an, erzählt Firmen-Chef Huang.
"Die Ermittlungsbehörden von Shanghai nutzen das System, um Verdächtige oder Kriminelle zu registrieren und zu suchen", sagt er. "Außerdem kooperieren einige Krankenhäuser mit uns. Wir forschen gemeinsam daran, ob und wie sich das Sturzrisiko älterer Menschen einschätzen und vorhersagen lässt. Auch die großen Hersteller von Haushaltsgeräten nutzen unser System, damit die Geräte die Familienmitglieder erkennen können."
Das System zur Identifizierung von Menschen anhand ihres Ganges der chinesischen Firma Watrix.
Lässt sich durch Humpeln nicht überlisten: Das System zur Identifizierung von Menschen anhand ihres Ganges von Watrix.© Axel Dorloff
Der Eintritt zum Smart Home oder die Bedienung von Haushaltsgeräten funktioniert dann nur noch, wenn das Erkennungssystem die Legitimität einer Person erfolgreich überprüft hat. Was gestern noch Science-Fiction war, ist heute Realität: das Gesicht oder der Gang als Ausweisersatz und Türöffner. Die Jagd nach Kriminellen mit Hilfe von Gang- oder Gesichtserkennung.
In China gibt es für den Einsatz dieser neuen Technologien ein hohes Maß an Akzeptanz, sagt Watrix-Gründer Huang Yongzhen.
"Im Westen gibt es einen größeren Schutz der eigenen Daten und Privatsphäre", erklärt er. "Das liegt in der Kultur begründet und hat viel mit Gewohnheit zu tun. Die Menschen dort möchten, dass ihre Daten möglichst nur ihnen gehören. In China ist die Kultur oder die Meinung dazu eine etwas andere. Chinesen wollen neue Technologien ausprobieren, wenn sie ihr Leben bequemer und sicherer machen. Diese offene Denkweise der Nutzer ist eine andere als im Westen."

Künstliche Intelligenz gilt in China als Allheilmittel

Und einer der Gründe, warum KI-Startup-Unternehmen wie Watrix in China so rasant wachsen und sich weiterentwickeln. Produkte können hier schnell und unkompliziert in die Anwendung gehen, bestätigt Hans Uszkoreit, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI).

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Er ist zuständig für die Kooperation mit China. Aus seinem Büro im elften Stock blickt er über die breiten Ringstraßen der chinesischen Hauptstadt.
"Natürlich ist es so, dass in China Anwendungen, die aus Kamerabildern Schlüsse ziehen, viel verbreiteter sind", erzählt er. "Die Kameras werden zur Sicherung von Gebäuden, zum Aufdecken oder Erkennen von Verkehrsverstößen, zur Sicherheit überall eingesetzt. In China ist die Kameradichte bestimmt ein Vielfaches von der, die wir in den USA haben. Und nochmal ein Vielfaches von dem, was wir in Europa und in Deutschland haben. Das heißt, bestimmte Technologien finden hier natürlich viel leichter ihre Märkte."
Künstliche Intelligenz gilt in China als Allheilmittel. Für die Modernisierung der Wirtschaft über die Versorgung der alternden Bevölkerung bis hin zur umfassenden Kontrolle der Bürger.
Im Sommer 2017 hatte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping angekündigt, China zur KI-Supermacht aufbauen zu wollen. Der technische Fortschritt läuft seitdem auf Hochtouren.

Riesige Datenmengen als Treibstoff der Entwicklung

Auch wenn die Amerikaner in der Künstliche-Intelligenz-Forschung noch den Ton angeben, China ist bereits heute der wichtigste Standort für die Entwicklung neuer Produkte. Auch, weil die Sammlung und Auswertung der Daten einfacher funktioniert als in den USA oder Europa.
Chinesische Unternehmen können mit einer riesigen Menge von Daten arbeiten. Die sind wiederum eine Art Raketentreibstoff für die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz. Davon profitiert China, sagt der deutsche KI-Forscher Uszkoreit.
"Wenn man davon ausgeht, dass die neuronalen Netze in ihrem Datenhunger, das heißt in der Möglichkeit, aus noch mehr Daten von noch mehr Gesichtern, noch mehr Bewegungsabläufen noch bessere Erkennung zu erzielen, dann ist natürlich China der Ort, an dem man diesen Hunger am besten stillen kann", sagt er. "Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für die AI, für die Artificial Intelligence, die Künstliche Intelligenz. AI ist extrem datenhungrig und in China gibt es gute Möglichkeiten, diesen Hunger zu stillen."

"Menschen sind sehr pragmatisch und sicherheitsbewusst"

Kameras, Chips und damit auch Überwachung und Kontrolle – die Bereitschaft in China, das alles zuzulassen, sei hoch, sagt der in Peking lebende KI-Forscher Hans Uszkoreit.
"Natürlich spielt es eine große Rolle, dass China wegen Bevölkerungsdichte, Geschichte, politischem System eine stärkere Kontrolle hat, das ist ja allen kla", erklärt er. "Aber das ist es nicht nur. Es ist auch eine andere Kultur. Die Menschen sind sehr, sehr pragmatisch und sehr, sehr sicherheitsbewusst. Und es macht ihnen nicht viel aus. Sie werden sowieso jeden Tag von Tausenden anderen gesehen, wenn sie durch die Straßen gehen. Und wenn da noch ein paar Kameras sind und sie sehen noch ein paar mehr, das macht ihnen nicht viel aus. Selbst wenn man die Menschen abstimmen lassen würde – das ist nicht nur Regierungsedikt – die würden für die Kameras stimmen."
Ob der chinesische Staat, große Technikunternehmen oder kleinere KI-Startups – alle versuchen, die Menschen für die neuen Technologien und den Einsatz Künstlicher Intelligenz zu begeistern.
Ein autonom fahrender Bus im Haidian Park in Peking. Er ist blau und hoch.
Ein autonom fahrender Bus im Haidian Park in Peking.© Axel Dorloff
Auch Peking wirbt seit Ende 2018 für das Thema Künstliche Intelligenz. Dafür wurde der Haidian-Park im Westen der Stadt umgerüstet: Aus dem ganz normalen Stadtpark, mit viel Grün, kleinen Brücken, Pavillons und Wanderwegen, wurde eine digitaler Vergnügungspark der Zukunft.

Autonom fahrende Busse im Stadtpark

Schon wer den Park betritt, kann autonom fahrende Busse besteigen. Die Kleinbusse rollen langsam die gepflasterten Wege entlang. Die vergleichsweise ruhige Verkehrssituation im Park eignet sich gut zum Testen autonomer Fahrzeuge, erklärt Fu Duanling, Projektleiterin für den Park der Künstlichen Intelligenz.
"Dies ist der weltweit erste autonom fahrende L4 - Level 4 Minibus", erklärt sie. "Es gibt im Innenraum kein Lenkrad, normalerweise passen hier 14 Passagiere rein."
Fu Duanling arbeitet für Baidu, eine Art chinesisches Google. Für die Zukunft setzt das Unternehmen voll auf Künstliche Intelligenz und auf automatisiertes Fahren. Die Busse, die im Park unterwegs sind, gehören zum so genannten Apollo-Programm, bei dem Baidu unter anderem mit Daimler kooperiert.
Entlang der Busstrecke steht ein riesiger Bildschirm: Wer hier aussteigt, kann Tai-Chi trainieren, in einem virtuellen Raum mit dem berühmten Tai-Chi-Professor Wu Dong von der Pekinger Sportuniversität.
Projektleiterin Fu Duanling erklärt die Anwendung: "Das ist der Tai-Chi-Meister in der virtuellen Realität. Du kannst hier in der Mitte stehen und mit dem Meister zusammen Tai-Chi üben, als ob er direkt vor dir stehen würde. Eine Anwendung aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz von Baidu. Der Meister erkennt deine Körper-Bewegungen und analysiert, wie nah du an der optimalen Bewegung dran bist. Am Ende kommt das Ergebnis."

Fitnessbahn registriert Jogger per Gesichtserkennung

Besucher des Parks können sich am Eingang per Gesichtserkennung registrieren lassen. Das hat den Vorteil, dass man als Jogger eine intelligente Fitnessbahn benutzen kann. Nach jeder Runde durch den Park kommen aktuelle Infos: Schnelligkeit, Kalorienverbrauch, Zeit pro Runde, sagt Fu Duanling.
"Vor uns ist ein Bildschirm, der alle Leute anzeigt, die hier im Park trainiert haben. Der schnellste Läufer im Park ist durchschnittlich 16 Kilometer pro Stunde gelaufen. Hier steht die gesamte Laufzeit und auch die gelaufene Distanz. Der Topläufer ist eine Strecke von 40 Kilometern gelaufen."
Aber auch für Entschleunigung ist im Park gesorgt: Hinter Bäumen und Blumen steht ein malerisch anmutender Holzpavillon zum Ausruhen. Nur wer genau hinschaut, entdeckt ganz oben im Gebälk versteckt - den digitalen Assistenten Namens Xiao Du.
Auf die Frage, ob er die deutsche Bundeskanzlerin kennt, legt er los. Der digitale Assistent referiert im Detail den Werdegang von Angela Merkel.
Wen das nicht interessiert, dem kann der digitale Assistent Xiao Du natürlich auch kommunistische Revolutionssongs spielen. Ideologisches Futter auf der Parkbank. "Der Osten ist Rot. Kein neues China ohne die Kommunistische Partei", heißt es dort.
So übt China im Haidan Park für die neue Revolution der Künstlichen Intelligenz. Es geht darum zu überzeugen, dass die Welt mit Künstlicher Intelligenz schöner und einfacher sein kann. Denn wenn die Volksrepublik bis 2030 KI-Supermacht werden möchte, braucht es die größtmögliche Unterstützung für die neuen Technologien.
Dabei stehen die chinesischen Provinzen geradezu im Wettstreit, wer am meisten in diese Zukunft investiert. Kaum eine Provinz in China, die nicht einen KI-Park etabliert hat und gezielt versucht, Unternehmen anzusiedeln.

KI als effizientes System für autoritäre Herrschaft

Aber die entsprechend geförderten Unternehmen forschen und entwickeln nicht nur, sie sind auch in der Lage, für ihre Technologien einen Markt zu finden. Ihre Produkte zu verkaufen. Dieser Kreislauf funktioniert.
Eine Überwachungskamera filmt Menschen, die den Yu-Garten in Shanghai besuchen.
Überwachungskamera in Shanghai: "Bevor wir diese Technologien hatten, haben wir auf menschliche Fähigkeiten vertraut", sagt Huang Yongzhen.© picture alliance / dpa
Warnungen, vor allem aus westlichen Ländern, dass sich Künstliche Intelligenz hervorragend dazu eignet, autoritäre Herrschaft zu zementieren, haben bislang nicht geschadet. Bedenken werden auch nicht öffentlich diskutiert. Und die Unternehmen seien da auch nicht in der Pflicht, meint Watrix-Gründer Huang Yongzhen, der als einer der wenigen weltweit das System der Gangerkennung in die Anwendung bringt.
"Bevor wir diese Technologien hatten, haben wir auf menschliche Fähigkeiten vertraut, um die gleichen Dinge zu tun", erzählt er. "Mit der KI-Technologie wird es nun deutlich effizienter. Es geht also nicht darum, ob die Künstliche Intelligenz Dinge macht, vor denen wir Angst haben. Sondern es geht darum, ob die politischen Absichten der Regierungen gut sind. Wenn man dieses Problem lösen will, liegt der Schlüssel nicht bei Unternehmen wie uns."
Die technische Entwicklung in China ist atemberaubend. Und das Land ist nah dran, als erstes die nächste Stufe in der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz zu erreichen. Eine Regulierung der neuen Technologien und die Fragen, wo auch Grenzen erreicht sind, spielen allerdings kaum eine Rolle.
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