Chinabild in der Viruskrise

Was Philosophie mit Corona-Rassismus zu tun hat

04:39 Minuten
Eine Person überquert eine breite Straße, sonst sind keine Autos oder Menschen zu sehen.
Wuhan während des Lockdowns. Noch immer sind unsere Denkmuster von kolonialistischen Ideen geprägt, erklärt Lea Schneider. © Getty Images
Von Lea Schneider · 19.04.2020
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In der Coronakrise haben negative China-Stereotype Konjunktur. Auch der Philosoph Alain Badiou stimmt in diesen Chor ein. Und offenbart damit, wie eng der Vernunftbegriff der Aufklärung mit rassistischen Denkmustern verwoben ist, meint die Sinologin Lea Schneider.
Wussten Sie, dass in der Stadt Wuhan nicht nur das Coronavirus ausbrach, sondern auch eine Revolution, die 1911 zur Gründung der Republik China führte? Und dass diese Republik die erste Demokratie Asiens war? Nein? Von einer demokratischen Tradition in China hören Sie gerade überhaupt zum ersten Mal? Keine Sorge, damit sind Sie nicht allein.

Philosophie: Lange Geschichte rassistischer Klischees

In der Coronakrise zeigt sich so deutlich wie lange nicht mehr, wie sehr unser Bild des chinesischen Kulturraums von postkolonialen Kontinuitäten geprägt wird. Es sind rassistische Klischees mit einer langen Geschichte, die ihren Anfang unter anderem in der Philosophie der Aufklärung haben.
So beschreibt zum Beispiel Hegel China als einen Staat, der "außer(halb) der Weltgeschichte" liege. Da die chinesische Kultur komplett statisch sei, gebe es in ihr weder Fortschritt noch Freiheit. "Die Orientalen wissen es noch nicht,", schreibt Hegel, "daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen, sind sie es nicht."

Alain Badiou: Neuauflage alter Denkmuster in Coronazeiten

Eine Wiederauflage erfährt dieses Denken aktuell in einem Essay des französischen Philosophen Alain Badiou. Der Ausbruch des Virus in Wuhan habe "archaische Gründe" und liege an den "altmodischen Bräuchen" des Landes, behauptet Badiou. "Die gefährliche Schmutzigkeit chinesischer Märkte" sei ebenso bekannt wie "ihre unbezähmbare Vorliebe für den Verkauf von allen möglichen lebenden Tieren".
Zur Lösung der Krise beruft Badiou sich ganz cartesianisch auf die Vernunft, die gerade in Zeiten von Panik und Unsicherheit hochzuhalten sei. Das Problem mit diesem Ansatz hat der chinesische Kulturwissenschaftler Xiang Zairong in einer klugen Antwort formuliert: Zusammen mit dem Vernunftbegriff der Aufklärung aktualisiert Badiou rassistische Denkmuster, die diesem von Anfang an eingeschrieben sind – nämlich die Trennung von Kulturen in "rational" und "irrational", "modern" und "rückständig", "zivilisiert" und "wild".
Eine junge Frau mit kurzen Haare und runder Brille lehnt an einer Fensterwand und schaut schräg nach oben.
Lea Schneider: "In der Coronakrise zeigt sich so deutlich wie lange nicht mehr, wie sehr unser Bild des chinesischen Kulturraums von postkolonialen Kontinuitäten geprägt wird."© Annette Mueck
Es sind solche über Jahrhunderte verfestigte Denkfiguren, die uns heute daran hindern, die chinesische Realität zu sehen: Auch in Xi Jinpings Diktatur gibt es eine kritisch denkende Zivilgesellschaft, die nicht nur aus gebrainwashten Untertanen besteht. Heftige Proteste gegen das Zensursystem erschüttern dort seit Februar die sozialen Medien. Währenddessen gilt die eingangs erwähnte Republik China, die sich heute auf Taiwan befindet, als weltweiter Vorreiter bei der Bekämpfung von Corona.
Ihre linksprogressive Präsidentin Tsai Ing-wen hat es geschafft, die Todesrate minimal zu halten, ohne auch nur ein einziges demokratisches Grundrecht vorübergehend abzuschaffen. In Deutschland hingegen tritt der antiasiatische Rassismus seit Beginn der Krise so offen zutage, dass sich unter dem Hashtag "Ich bin kein Virus" gleich mehrere Initiativen gegründet haben, um entsprechende Vorfälle zu dokumentieren.

Verwoben: Kolonialismus, Philosophie und Corona-Rassismus

Vielleicht hätten sie weniger zu tun, wenn es ein selbstverständlicher Teil unseres Weltwissens wäre, dass in Wuhan nicht nur die chinesische Demokratie einen ihrer Anfänge hat, sondern auch der deutsche Kolonialismus. 1895 nahm das deutsche Kaiserreich hier seine erste chinesische Konzession in Besitz – nur drei Jahre, bevor man China mit einem brutalen Invavionskrieg überzog.
Gut möglich, dass Sie auch vom deutschen Kolonialismus in Asien gerade zum ersten Mal hören. Lange haben wir die Ausbeutung von "rückständigen" Kulturen nicht als Verbrechen betrachtet, sondern als Hilfestellung bei deren "Zivilisierung". Die Philosophie hatte und hat dabei keinen geringen Anteil an unserem überhöhten Selbstbild. Ausgerechnet so etwas vermeintlich Kulturloses wie ein Virus zeigt uns nun erneut, wie wichtig historische Aufarbeitung ist.

Lea Schneider ist Autorin, Übersetzerin und Sinologin. Sie forscht zu Online-Literatur in China, Deutschland und den USA und hat zahlreiche chinesische Autoren und Autorinnen ins Deutsche übertragen. Kürzlich erschien im Verlagshaus Berlin ihr Essayband "made in china", in dem sie sich mit der Komplexität der chinesischen Gegenwart und den historischen Verflechtungen europäischer und chinesischer Kulturen beschäftigt.

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