China und der Westen

"Zwei Systeme, die nicht kompatibel sind"

29:13 Minuten
Symbolbild: Ein unfertiges Puzzle, das einen Teil der Flagge der USA zeigt, liegt über einem anderen Puzzle, das einen Teil der Flagge Chinas zeigt.
Der Westen solle gegenüber China seine Werte verteidigen, sagt Journalist Matthias Naß. Denn das seien universelle Werte: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. © imago images / ktsdesign / Panthermedia
Matthias Naß im Gespräch mit Patrick Garber · 20.02.2021
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Die jahrelange Euphorie ist Ernüchterung gewichen: Der Westen sortiere seine Beziehungen zu China neu, sagt der Asienkenner Matthias Naß. Und das zu Recht, denn das Land sei zwar Partner, aber auch systemischer Rivale. Zeit für neue Allianzen in Asien.
Corona zeigt die Stärken und Schwächen Chinas, sagt der "Zeit"-Korrespondent und Buchautor Matthias Naß. Die Pekinger Führung habe das Virus einigermaßen im Griff und die Wirtschaft boome wieder. Aber der Preis sei die völlige Abriegelung von Millionen von Menschen gewesen. Kein Vorbild für den Westen.

Chinesischer "Irrweg"

Ohnehin sieht Matthias Naß in China unter Staats- und Parteichef Xi Jinping eine "ideologische Rolle rückwärts". Die Kommunistische Partei regele alle Lebensbereiche, Meinungen und Minderheiten würden immer heftiger unterdrückt. Und der starke Mann Xi Jinping konzentriere mehr und mehr Macht auf sich, als "Vorsitzender von allem." Ein "Irrweg", findet Matthias Naß.
Nicht nur darum mache sich nach Jahren der China-Euphorie Ernüchterung in vielen Ländern des Westens breit. Pekings Repression im Inneren des Riesenreichs, sein aggressives Auftreten im Südchinesischen Meer, aber auch Verstöße gegen die Spielregeln des Welthandels – der Westen müsse seine Beziehungen zu China neu justieren, betont Naß.
Das wisse auch der neue US-Präsident Joe Biden, der im Verhältnis zu China in einer gewissen Kontinuität zu seinem Vorgänger Trump stehe. Wobei Biden aber nicht nur die Konfrontation suche, sondern auch Zusammenarbeit, etwa in der Coronakrise oder beim Klimaschutz.

Strategische Rivalität

Im Westpazifik stoßen allerdings die strategischen Interessen der USA und Chinas hart aufeinander, beobachtet der internationale Korrespondent der "Zeit". China wolle in der Region nicht "die zweite Geige spielen", während Amerika sich dort als Friedensmacht sehe. Und das erwarteten von den USA auch Länder wie Japan, Südkorea oder Australien.
Mit diesen Staaten, aber auch mit Indien, intensivierten die USA die militärische Zusammenarbeit, analysiert Matthias Naß. Auch die NATO nehme die Region Indischer Ozean und westlicher Pazifik verstärkt in den Blick. So könnte demnächst eine deutsche Fregatte im Südchinesischen Meer Flagge zeigen, wie das die US-Navy regelmäßig tut.
Letztlich gehe es darum, dass der Westen und die westlich ausgerichteten Staaten der Indo-Pazifik-Region ihre Werte gegenüber China gemeinsam vertreten, sagt Matthias Naß. Denn es seien universelle Werte.
(pag)

Matthias Naß ist internationaler Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit". Nach Studium der Geschichte, Sinologie und Politologie in Göttingen, Honolulu und Hamburg war er 1978-1982 Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde. 1983 kam Naß zur "Zeit", deren stellvertretender Chefredakteur er 1998-2010 war.

Am 22.02.2021 erscheint sein neues Buch:
"Drachentanz - Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er bedeutet"
Verlag C.H.Beck, München 2021
320 Seiten, 24,95 Euro


Das Interview in ganzer Länge:
Deutschlandfunk Kultur: In China hat sie angefangen, die Corona-Pandemie. Doch das Reich der Mitte scheint die Lage einigermaßen im Griff zu haben. Die Fallzahlen sind niedrig. Wo das Virus sich trotzdem zeigt, wird es sofort eingedämmt. Und die Wirtschaft wächst. – Ein weiteres Kapitel in der Erfolgsgeschichte Chinas?
Darüber rede ich nun mit Matthias Naß. Er ist internationaler Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit", gelernter Sinologe und er hat gerade ein Buch über China geschrieben, das am kommenden Montag erscheint. Guten Tag nach Hamburg. Herr Naß, heißt "von China lernen siegen lernen", zumindest im Kampf gegen das Coronavirus?
Matthias Naß: Nein, das glaube ich nicht, also, höchstens teilweise. Ich glaube, der Umgang mit dem Coronavirus zeigt sowohl die Stärken, aber auch die Schwächen des Systems. Die Schwächen konnte man vor allem am Anfang sehen, also zu Beginn vergangenen Jahres. Da ist das Virus verharmlost worden. Es ist die Gefährlichkeit der Seuche vertuscht worden. Die Funktionäre wollten keine schlechten Nachrichten nach oben melden und wagten zugleich nicht, sich an Ort und Stelle allein zu entscheiden, was zu tun war. Mit anderen Worten: Man hat zu spät gehandelt. Zeit ist verstrichen und mindestens drei bis vier Wochen, würde ich sagen, hat man damals verspielt. Das war sicherlich eine Schwäche des Systems.
Aber es gibt auch Stärken. Die wurden dann auch relativ schnell sichtbar. Die Stärke, die ich meine, ist vor allem eine unglaubliche Mobilisierungsfähigkeit. Also, das Militär wurde in Marsch gesetzt. Ärzte und Krankenschwestern aus dem ganzen Land wurden zusammengezogen nach Wuhan, wo das ja begann. Krankenhäuser wurden aus dem Boden gestampft. Und dann aber, und darüber kann man dann streiten, ob das eine Stärke oder eine Schwäche ist, wurde diese Stadt – fast zehn Millionen – und die umliegende Provinz Hubei, insgesamt 60 Millionen Menschen, komplett abgesperrt. Keiner kam herein, keiner kam heraus – und das 76 Tage lang.
Das ist in Deutschland undenkbar. Insofern: Nein, ich glaube nicht, dass wir von China lernen können, wie wir die Coronaseuche besiegen.

Ernüchterung über China im Westen

Deutschlandfunk Kultur: Corona, das beschreiben Sie in Ihrem Buch "Drachentanz – Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet", so der Titel, Corona also hat China zu einem ungünstigen Zeitpunkt erwischt, als nämlich der Führung in Peking der Wind ziemlich ins Gesicht blies. Da waren der Handelskrieg mit den USA, ziviler Ungehorsam in Hongkong, wachsende internationale Kritik an Pekings Politik gegenüber den Uiguren im eigenen Land und gegenüber Taiwan. Hat Chinas Erfolgsgeschichte damals, also 2019/ 2020, eine Delle bekommen, zumindest was sein Ansehen in der Welt angeht?
Naß: Ja, ich denke schon. Sie haben im Grunde alle wichtigen Kritikpunkte aufgezählt. Und dann kam das Coronavirus noch dazu. Ich glaube, es hat in der Tat eine Ernüchterung gegeben im Westen. Es gab ja vorher, wie Sie wissen, eine große China-Euphorie, jedenfalls, was die Wirtschaft Chinas anbetrifft. Ich glaube, man hatte immer die Hoffnung, dass die wirtschaftliche Modernisierung des Landes am Ende auch zu einer politischen Liberalisierung führen würde.
Diese Hoffnung ist enttäuscht worden. Das begann auch nicht erst im vergangenen Jahr. Das geht, glaube ich, seit einigen Jahren schon so. Aber im vergangenen Jahr oder in den beiden vergangenen Jahren wurde es besonders offenkundig. Das hat eben zu einer Enttäuschung geführt. China wurde ja – ein formell kommunistisches Land hat sich der WTO angeschlossen, also letztlich dem freien liberalen Welthandel, hat sich dann aber nicht an die Regeln gehalten. Das hat man in Amerika genauso konstatiert wie in Europa. Trump hat sehr dramatisch oder brutal darauf reagiert mit einem Handelskrieg. Das war die wirtschaftliche Seite.
Und politisch war es so, dass seit dem Amtsantritt des jetzigen Staatspräsidenten und Parteichefs Xi Jinping 2012 im Inneren die Zensur noch mal sehr verschärft wurde, die Überwachung der Menschen. Die sozialen Medien wie Google, Facebook und Twitter wurden ausgeschlossen. Es wurde ein Kampf gegen die "westlichen Werte", wie es heißt, begonnen. Also, dieses alles hat zu einer Ernüchterung geführt. Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Die Chinesen haben den Bogen überspannt? Denn all diese Sachen waren ja nicht so ganz neu.
Naß: Ja. Sie haben ihn überspannt. Sie sind sehr selbstbewusst geworden. Man muss ihnen auch zugutehalten, dass seit Beginn der Reformpolitik, das heißt, seit Ende der 70er-Jahre, das Land einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung genommen hat. Das hat China oder hat die Führung selbstbewusst gemacht. China tritt heute ganz anders auf als noch vor 20, 30 oder gar 40 Jahren. Mit diesem Selbstbewusstsein versucht das Land seine Interessen durchzusetzen. Da gibt es natürlich Interessenkonflikte. Das kann nicht ausbleiben.

Ohne Freunde und Verbündete

Deutschlandfunk Kultur: Sie schreiben, China habe an Ansehen verloren. Es habe zwar weiterhin Geschäftspartner, auch Nachbarn, die es fürchten, aber es habe keine Freunde, keine Verbündeten. Wie wichtig ist das denn in der internationalen Politik wie im Wirtschaftsleben? Sind da Interessen, gemeinsame Interessen, Geschäftsinteressen, strategische Interessen nicht viel wichtiger als Freundschaft oder gemeinsame Werte?
Naß: Ich denke schon, dass beides wichtig ist. Natürlich heißt es immer, Staaten haben Interessen und keine Freundschaften. Aber wenn Sie das mit einer Lage in Europa vergleichen: Wie wichtig ist uns die Freundschaft zu Frankreich oder zu allen anderen Nachbarländern? Das ist schon, glaube ich, elementar wichtig, dass man Freunde hat oder dass man für andere Leute ein Hoffnungsort ist, vielleicht sogar ein Sehnsuchtsort, so wie das die Vereinigten Staaten ja lange, lange waren – unter Trump nun gerade nicht. Aber man merkt sofort, jetzt mit dem Wechsel zu Biden, wie sich neue Erwartungen wieder an Amerika richten.
Deswegen: Ja, wirtschaftlich sehr stark, auch mit dem Potenzial, andere Länder durchaus zu erpressen. Aber es hat eigentlich keine Freunde und keine Verbündeten, so wie wir das in Europa haben oder mit der NATO haben. Das hat China in dieser Form alles nicht.

Chinas Impfstoff-Diplomatie

Deutschlandfunk Kultur: China setzt jetzt auf eine neue Form von Diplomatie, die "Impfstoff-Diplomatie". Viele Länder des Südens, aber auch die Türkei oder Ungarn werden derzeit mit Corona-Impfstoff Made in China beliefert, während Europa und die USA ja ihren Impfstoff erst mal für sich selbst verwenden, soweit sie ihn haben. Gewinnt China mit dieser Impfdiplomatie an Einfluss – gerade in ärmeren Ländern?
Naß: Vielleicht kurzfristig. Es ist ja auch gut, wenn China Impfstoff zur Verfügung stellt an Länder, die sonst vielleicht diesen Impfstoff nicht haben. Brasilien ist ja ein Beispiel. Indonesien ist ein Beispiel, in Europa in der Tat Serbien oder Ungarn. Das kann man ja nicht kritisieren. Diese Impfstoff-Diplomatie, wie Sie es genannt haben, hatte ja schon einen Vorgänger mit der "Masken-Diplomatie". Das heißt, bei Ausbruch der Pandemie hat China ja Masken und Schutzanzüge verteilt.
Was mich daran etwas gestört hat, ist diese offenkundige Erwartung, dass einem dafür dann auch sehr öffentlich sehr viel Dankbarkeit bezeugt wird, also, dass dann überall Kameras stehen und die Gaben sozusagen aus Peking groß ins Bild stellen. Das finde ich etwas mühsam. Aber ansonsten finde ich es absolut begrüßenswert, wenn China Impfstoff zur Verfügung stellt. Wir sollten das auch tun.
Deutschlandfunk Kultur: Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat kürzlich vor dem Politbüro seiner Kommunistischen Partei verkündet, die Zeit und das Momentum seien auf der Seite Chinas. Das ist natürlich Zweckoptimismus. Aber ist da nicht auch was dran, dass nach dieser Delle des internationalen Ansehens, über die wir gerade gesprochen haben, jetzt doch die Zeit wieder für China läuft?
Naß: Na, das muss man mal sehen. Es ist halt immer etwas ambivalent. Also, wirtschaftlich hat sich das Land in der Tat sehr schnell wieder gefangen, aber mit Methoden, die wir so nicht nachahmen können und wollen. Deswegen ist China auch kein Vorbild. Aber natürlich ist das hilfreich, auch für uns ist es wirtschaftlich hilfreich, wenn ein so riesiges Land wie China schnell wieder auf die Beine kommt.
Also: Wenn Mercedes jetzt so gute Zahlen für das vergangene Jahr vorlegt, wie es das gerade getan hat, dann hängt das damit zusammen, dass sie in China so viele Autos verkaufen. Während hier die Wirtschaft zurückgegangen ist, ist sie dort gestiegen. Und davon profitieren wir auch. Aber politisch schlägt sich das – soweit ich das beurteilen kann – im Augenblick nicht positiv für China nieder.

"Kontinuität zwischen Trump und Biden, was China betrifft"

Deutschlandfunk Kultur: Zumal mit Joe Biden, über den wir ja schon kurz gesprochen haben, jemand neuerdings im Weißen Haus in Washington sitzt, der China kennt, der Xi Jinping auch kennt aus seiner Zeit als Vize-Präsident. Und Joe Biden hat Xi im Wahlkampf einen "Gangster" genannt. – Stehen die Zeichen zwischen China und den USA erst recht auf Konfrontation nach der schon turbulenten Zeit unter Trump?
Naß: Ich denke nicht, dass sich das Verhältnis noch weiter verschlechtern wird, aber es wird sich auch nicht deutlich verbessern. Ich glaube, die Kontinuität zwischen Trump und Biden, was China betrifft, wird sehr groß sein. Das ist auch schon deutlich geworden in ersten Reden und in einem ersten Telefonat, das die beiden geführt haben – also, Joe Biden und Xi Jinping. Das war offenbar nicht besonders freundlich.
Die objektiven Interessen und Gegensätze bleiben halt – im wirtschaftlichen Bereich, Handelsbereich, aber auch im politischen Bereich und im militärischen Bereich. Und überall dort gibt es im Augenblick noch keine Ansätze und Anzeichen einer Annäherung. Also, auch unter der Regierung Biden bleibt China der entscheidende Rivale oder der wichtigste Gegner. Das hat Biden jetzt gerade noch einmal in einer Grundsatzrede im Außenministerium in Washington bekräftigt. Insofern wird es da keine wirkliche Verbesserung geben.
Der Unterschied, den ich sehe, ist, dass Biden im Gegensatz zu Trump auch betont, wo es Möglichkeiten zur Zusammenarbeit gibt. Das hat Trump überhaupt nicht erwähnt und er hat auch nicht danach gehandelt. Diese Möglichkeiten einer Zusammenarbeit sieht Biden zum Beispiel beim Klimawandel, Amerika hat sich jetzt gerade wieder dem Pariser Klimaabkommen angeschlossen, im Bereich der Gesundheitspolitik – im Augenblick natürlich zentral wichtig, aber auch bei anderen Themen, etwa: Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen.
Überall dort wird es Bereitschaft zur Zusammenarbeit geben. Aber in den anderen Bereichen wird es wahrscheinlich bei den sehr harten Gegensätzen bleiben.
Deutschlandfunk Kultur: Donald Trump hatte ja einen Handelskrieg mit China vom Zaun gebrochen, hat chinesische Technologiefirmen wie Huawei attackiert. – Hat das China eigentlich wirtschaftlich geschadet? Kann man das schon überblicken?
Naß: Also, Huawei hat es jedenfalls geschadet, also, erheblich. Da macht sowohl die Firma als auch die Regierung in Peking gar kein Hehl daraus. Denn es ist ja nicht nur Amerika, das Huawei boykottiert, sondern andere Länder wie Australien zum Beispiel oder in Europa Großbritannien und andere tun das ja auch. Also, der Rückschlag für dieses Unternehmen war beträchtlich.

Globalisierung ist nicht zurückzudrehen

Deutschlandfunk Kultur: Sprechen wir noch ein bisschen weiter über die Wirtschaft, bevor wir gleich noch zur Strategie kommen, die Sie ja auch schon angesprochen haben. Der Schlüsselbegriff für die US-Politik gegenüber China in wirtschaftlichen Dingen heißt "Entkopplung". Das heißt, die wirtschaftliche Verflechtung wird verringert. Die Lieferketten werden entflochten, mehr im eigenen Land produziert, statt in Abhängigkeit von Importen aus China zu verharren. – Ist diese Entkopplung das Gebot der Stunde, auch für Europa vielleicht?
Naß: Also, da wäre ich sehr vorsichtig. "Entkopplung" heißt ja so etwas wie Rückabwicklung der Globalisierung. Ich glaube, das kann es nicht geben. Eine totale Entkopplung für so ein exportorientiertes Land wie Deutschland ist überhaupt nicht vorstellbar.
Aber, was – glaube ich – schon bedenkenswert ist, ist sich zu fragen: Wo ist man zu abhängig geworden? Wo sind wir zum Beispiel auch in Deutschland zu abhängig geworden von China? Das ist im Bereich der Automobilindustrie evident. Ungefähr 40 Prozent der deutschen Autos werden heute in China verkauft. Da ist natürlich eine große Abhängigkeit, auch eine – wenn Sie so wollen – Erpressbarkeit. Und da gibts ein Umdenken.
Es gab vor einigen Jahren eine Tendenz, dass immer mehr chinesische Firmen in Europa, auch gerade in Deutschland, auf Einkaufstour gingen, also deutsche Firmen aufgekauft haben, auch gerade im Hochtechnologiebereich, zum Beispiel ein Robotik-Unternehmen, ein großes, wichtiges Robotik-Unternehmen.
Da hat die Bundesregierung dann irgendwann gesagt, "nee, da ist uns zu gefährlich", und hat dieses gestoppt, also hat Einspruch erhoben gegen weitere Verkäufe. Da ist man vorsichtiger geworden. Das können Sie auch Entkopplung nennen, aber nicht in einem umfassenden Sinne.

China will nicht die zweite Geige spielen

Deutschlandfunk Kultur: Zumal im Handel ja gerade gemeldet worden ist, dass die EU im vergangenen Jahr erstmals mehr Handel mit China betrieben hat als mit den USA.
Naß: Das gilt für Deutschland schon länger, aber es gilt jetzt auch für die ganze Europäische Union.
Deutschlandfunk Kultur: Die Rivalität zwischen den USA und China ist neben der wirtschaftlichen ja auch eine geostrategische. China sieht weite Teile des Südchinesischen und auch des Ostchinesischen Meeres als seine Hoheitsgewässer an, während die USA auf die Freiheit der Meere pochen. – Strebt China nach Hegemonie in Ostasien? Will es die USA aus der Region raus drängen?
Naß: Also, in der Tat glaube ich, dass China zwar keine Weltmacht werden möchte wie Amerika, auf absehbare Zeit, aber in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht die zweite Geige spielen möchte. Die Amerikaner sind seit über 100 Jahren im westlichen Pazifik sehr präsent, auch direkt in der Nachbarschaft Chinas. Man muss ja sehen, Amerika hat enge Verbündete direkt in Nachbarländern, also Korea, Japan, Taiwan, Philippinen, Thailand usw. Und das stört China sehr. Also, in diesem Raum des westlichen Pazifiks möchte es im Grunde die Vormacht sein.
Es ist nur nicht allein eine Rivalität Chinas und Amerikas, sondern die Staaten der Region – in der großen Mehrheit jedenfalls – haben ein Interesse an einer fortwährenden Präsenz Amerikas als Gegengewicht zu China. Also, die aller-allermeisten Staaten finden es eigentlich gut und in ihrem Sinne, dass Amerika dort militärisch präsent ist, um diesem Riesenland China, das ja wie ein Gigant über diesen kleineren Staaten der Region liegt, etwas entgegensetzen zu können.
Also, im Grunde wollen die meisten Staaten der Region Schutz, militärischen, sicherheitspolitischen Schutz Amerikas, gleichzeitig aber guten Handel, gute Wirtschaftsbeziehungen zu China. Das ist so das Ideale, die ideale Balance für diese Länder.

Eine pazifische NATO?

Deutschlandfunk Kultur: US-Präsident Biden lässt nun die gesamte Militärstrategie für den Raum Westpazifik und Indischer Ozean auf den Prüfstand stellen. – Wenn das Pentagon Sie als Asienkenner um Rat fragen würde, ich weiß nicht, ob bei Ihnen schon angerufen worden ist, aber wenn sie fragen würden, was würden Sie empfehlen? Wie sollten sich die USA gegenüber China strategisch aufstellen in dieser Region?
Naß: Also, das Pentagon hat bisher noch nicht angefragt. Und es ist auch nicht meine Aufgabe, denen Rat zu geben. Aber es gibt seit mehreren Jahren schon, das hat unter Barack Obama schon begonnen, eine Hinwendung zu dem Raum, zum pazifischen Raum. Unter Obama hieß das "pivot to Asia", also, weg vom atlantischen Raum hin zum pazifischen Raum, einfach, weil da – wir haben jetzt drüber gesprochen – die Wirtschaft sich so wahnsinnig entwickelt hat und da vielleicht heute mehr die Musik spielt.
Dieser "pivot to Asia" hatte immer eine Komponente einer Eindämmung Chinas. Und Amerika wollte wieder mehr Präsenz dort zeigen. Und aus der Interessenlage der Vereinigten Staaten ist das auch richtig.
Das, was jetzt neu ist seit mehreren Jahren unter Trump und was Biden weiterführen wird, ist, dass man den Indischen und den Pazifischen Ozean gemeinsam nennt, diese Indo-Pazifik-Strategie, wie das genannt wird. Dort versucht man halt mit Partnern jetzt zusammenzuarbeiten in einer lockeren Form, also nicht so eng wie in Europa mit der NATO, aber doch in einer engeren Form, als es früher der Fall war. Und das sind Partner wie Japan, Indien, Australien. Und dieses ist kein festes Bündnis, mehr eine informelle lockere Form der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit, aber immerhin mit gemeinsamen Militär-Manövern. Und das richtet sich ganz eindeutig gegen China. Und das wird in Peking auch so wahrgenommen als eine sogenannte "Anti-China-Allianz" bzw. eine "pazifische NATO". Das ist das, was sich in den letzten Jahren wirklich verändert hat.

Deutsche Fregatten im Südchinesischen Meer?

Deutschlandfunk Kultur: Sollte sich dafür auch die atlantische NATO, also das Nordatlantik-Bündnis im alten Sinn interessieren, einschließlich des NATO-Mitglieds Deutschland?
Naß: Das tut es inzwischen schon. Es gibt seit ungefähr einem Jahr erstmals offizielle Stellungnahmen der NATO zum Indo-Pazifik. Das hat erst mal begonnen im Dezember 2019, dass es in einem Kommuniqué auftauchte – nicht in dem Sinne, dass man jetzt quasi eine globale Allianz werden will, aber dass die NATO mit westlich orientierten Ländern in Asien, die man auch als Partner bezeichnet, enger zusammenarbeitet. Das sind dieselben Länder, die ich eben gerade genannt habe, also Japan zum Beispiel, Südkorea, Australien, auch Indien. Nur alle diese Länder haben auch ihre eigenen Interessen, sind zum Teil sehr, sehr vorsichtig. Also, man kann da nicht erwarten, dass es eine allzu enge Zusammenarbeit geben wird.
Was Deutschland angeht, wir sind natürlich ganz besonders zurückhaltend aus bekannten politischen und historischen Gründen. Wir werden dort nicht besonders Flagge zeigen. Aber es gibt seit dem September letzten Jahres sogenannte Richtlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik. Die widmen sich vor allem wirtschaftspolitischen Fragen, also Handelsfragen. Aber sie haben auch eine sicherheitspolitische Komponente und das ist neu. Da muss man mal sehen, wohin sich das entwickelt.
Also, immerhin wird wahrscheinlich in diesem Jahr, 2021 zum ersten Mal eine deutsche Fregatte auch in dem Raum auftauchen im Südchinesischen Meer, wo ja Amerika ganz bewusst immer seine Kriegsschiffe durchschickt, um zu sagen: "Das ist kein chinesisches Gebiet. Das ist internationales Gebiet, für den freien Handel unverzichtbar." Das haben schon auch Franzosen gemacht und Engländer, aber zum ersten Mal wird es jetzt wahrscheinlich auch die deutsche Marine tun.

"Ideologische Rolle rückwärts"

Deutschlandfunk Kultur: Wir haben bisher, Herr Naß, über Chinas Erfolge bei der Corona-Pandemie gesprochen, über Wirtschaft und Geostrategie. Lassen Sie uns nun einen Blick in dieses Land hinein werfen, auf die innere Verfasstheit dieses Staates mit 1,3 Milliarden Einwohnern. Sie schreiben ganz am Ende Ihres Buchs, Chinas politisches System befinde sich auf einem Irrweg. Warum?
Naß: Weil aus meiner Sicht das Land seit knapp zehn Jahren wieder einen falschen Weg zurück sozusagen geht. Und unter dem jetzigen Staats- und Parteichef Xi Jinping hat das Land nach meinem Dafürhalten eine ideologische Rolle rückwärts eingeschlagen. Es war nie ein freies Land, aber die Meinungsräume, die Freiheitsräume waren etwas größer geworden unter den beiden Vorgängern von Xi. Und jetzt verschärft sich einigen Jahren wieder alles.
Also, die Zensur wird weiter ausgeweitet. Die Überwachung wird perfektioniert. Es gibt einen Kampf gegen sogenannte westliche Werte. Das betrifft also letztlich auch die Freiheit von der Wissenschaft und der Lehre. Dieses alles ist eine Entwicklung, die ich nicht gut finde für China, weil es Freiheitsräume beschneidet, wie ich glaube, auch Innovationen hemmt. Deswegen habe ich das als einen Irrweg bezeichnet.

"Vorsitzender von allem"

Deutschlandfunk Kultur: Welche Rolle spielt da die Kommunistische Partei Chinas? Das ist ja eine altehrwürdige Institution – ehrwürdig? - auf jeden Fall eine alte Institution, die dieses Jahr 100 Jahre alt wird. – Ist sie wieder auf dem Vormarsch?
Naß: Sie war nie auf dem Rückzug. China ist ein Einparteienstaat. Die Partei hat 90 Millionen Mitglieder. Die Partei ist auch viel stärker als der Staatsapparat als solcher. Also, die Partei hat in China das Sagen.
Was aber neu ist, dass unter Xi Jinping die Macht noch einmal in einer wirklich viel, viel stärkeren Art und Weise konzentriert wird. Also, er ist der Parteichef, das ist wahrscheinlich das Wichtigste. Er ist der Staatspräsident, das ist mehr so ein repräsentatives Amt. Er ist Chef der Militärkommission, also Oberkommandierender der Armee. Und er ist dann noch Vorsitzender von ungefähr einem Dutzend anderer Kommissionen. Deswegen nennt man ihn auch so gern den "Vorsitzenden von allem".
Diese Machtkonzentration halte ich für ganz, ganz ungesund. Es gab seit Deng Xiaoping mehr die Tendenz einer kollektiven Führung, also eines Kreises im Politbüro, in dem die Macht so ein bisschen aufgeteilt wird. Jetzt ist die Macht vollkommen konzentriert.
Was neu ist, was an Mao so ein bisschen erinnert, ist dieser Personenkult, der um Xi Jinping inszeniert wird – bis zur Aufnahme der sogenannten Xi-Jinping-Ideen in die Verfassung, in das Parteistatut. Und was ich ganz problematisch finde: Unter ihm ist die bis dahin geltende Begrenzung der Amtszeit von maximal zehn Jahren, diese Begrenzung ist aufgehoben worden. Also, er wird sicherlich weiter amtieren, auch über den nächsten Parteitag hinaus. Und China ist unter ihm sozusagen von einer Ein-Parteien-Herrschaft zu einer Ein-Mann-Herrschaft geworden. Das finde ich, ja, einen Irrweg.

Freiräume – und eine dicke rote Linie

Deutschlandfunk Kultur: Aber in China sind doch viele Menschen in den letzten Jahren zu einem gewissen Wohlstand gekommen. Es hat sich so was wie eine Mittelschicht herausgebildet. Fordert die nicht mehr Mitsprache gegenüber Parteikadern und auch gegenüber dem allmächtigen großen Vorsitzenden?
Naß: Ich glaube, in China ist der Freiraum im privaten Raum größer geworden, ist wahrscheinlich heute trotz dieser Rückschritte, über die ich gerade gesprochen habe, immer noch größer als es je in der chinesischen Geschichte war – im rein Privaten. Dann gibt es aber einen großen Unterschied oder eine dicke rote Linie zum politischen Bereich. Dort ist eben von Freiräumen nichts zu spüren – im Gegenteil, sie werden wieder eingeschränkt.
Wenn man sich von der Politik fernhält, wenn einen das nicht interessiert oder wenn man Angst hat oder sich damit einfach nicht beschäftigen möchte, dann kann es einem in China gut gehen, besser jedenfalls als je zuvor. Wenn man also nur Geld verdienen will und nicht dazwischenreden möchte, dann sind die Dinge besser geworden. Aber wie Sie sagen: Eine Mittelschicht, die zu Wohlstand gekommen ist, will in der Regel mitsprechen politisch. Das hat man in Asien gesehen in Korea oder auch auf Taiwan, wo alte Militärdiktaturen plötzlich sich zu Demokratien entwickelt haben. Dieses findet in China nicht statt – im Gegenteil. Es wird mit aller Kraft verhindert.
Deutschlandfunk Kultur: Wie fest sitzt Xi Jinping im Sattel?
Naß: Ich glaube, er sitzt im Augenblick sehr fest im Sattel. Ich sagte ja gerade, die Begrenzung der Amtszeit ist aufgehoben. Er wird wiedergewählt. Es gibt keinen Rivalen, den ich irgendwo erkennen kann. Es gibt keinen Nachfolger, der aufgebaut ist. Also, ich würde sagen, er sitzt im Augenblick sehr fest im Sattel.

Zeitbombe Demografie

Deutschlandfunk Kultur: Aber wie straff er und seine Getreuen auch immer die Zügel anziehen, China hat ja ein paar strukturelle Probleme, die bisher anscheinend nicht in den Griff zu bekommen sind. Etwa die stetig steigende Binnen-Verschuldung oder die schwache Inlandsnachfrage bei weiterhin hoher Abhängigkeit vom Export. Das sollte ja alles geändert werden, aber das ist noch nicht so richtig gelungen. Und die demografische Entwicklung: Ich habe vor ein paar Tagen gelesen, dass China 2020 die niedrigste Geburtenrate seit Gründung der Volksrepublik erzielt hat. Also, die Bevölkerung wird immer älter und sie schrumpft. – Was bedeutet das für die Zukunft?
Naß: Ja, das bedeutet für die Zukunft sozusagen eine Minderung der Dynamik, die wir bisher gerade ja beschrieben haben. Es ist in der Tat so, das ist eine Folge der Ein-Kind-Politik, die man damals unter Mao beschlossen hat, weil in der Tat die Bevölkerung sehr, sehr schnell gewachsen ist und das Land vielleicht auch wirklich überfordert hat. Bloß, diese Ein-Kind-Politik hat zur Folge, obwohl man sie jetzt inzwischen gelockert hat, aber die Chinesen bekommen trotzdem weiter sehr wenig Kinder. Also, faktisch haben wir eine Ein-Kind-Politik nach wie vor.
Die bedeutet natürlich in der Tat, dass die Bevölkerung irgendwann schrumpfen wird. Also, man erwartet das für das Ende dieses Jahrzehnts. Ab etwa 2029 wird die Bevölkerung Chinas abnehmen, möglicherweise jedes Jahr um fünf Millionen Menschen. Das heißt, die Bevölkerung wird kleiner werden und sie wird älter werden, und das in einem Land, in dem die Altersabsicherung bisher noch nicht besonders ausgebaut ist. Viele sagen deswegen auch: China wird alt werden, bevor es wirklich reich werden wird. Das ist sicherlich eines der Hauptprobleme des Landes.

Partner, Wettbewerber, Rivale

Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir uns das alles jetzt vor Augen halten, Herr Naß, worüber wir gesprochen haben: China ist auf dem Weg zumindest zu einer Regionalmacht, wenn vielleicht auch nicht gleich zu einer Weltmacht. Es ist wirtschaftlich erfolgreich, außenpolitisch zunehmend selbstbewusst bis aggressiv, nach innen sehr repressiv und propagiert ganz andere Werte als wir sie im Westen kennen oder schätzen.
Wie soll der Westen damit umgehen? Eindämmen, sich wirtschaftlich entkoppeln, wie es die USA versuchen? Oder einbinden in vielerlei Kooperationen, wie das Europa zumindest bisher versucht hat?
Naß: Die Europäische Union hat im Jahr 2019 ein Grundsatzpapier zu China formuliert. Darin nennt es China einen Partner, einen Wettbewerber und einen systemischen Rivalen. Ich finde, das ist eine ganz gute Beschreibung dessen, was ist, und auch, wie wir auf China blicken und damit umgehen sollen.
Partner, wann immer es sich anbietet: Also, im Augenblick bei der Bekämpfung der Pandemie natürlich. Wettbewerber: Klar, das sind wir wirtschaftlich. Und da muss man drauf achten, dass dieser Wettbewerb fair ist, anständig geführt wird, man sich auch dort schützt, wo man vielleicht in der Vergangenheit – zum Beispiel beim Transfer von Hochtechnologie – zu leichtsinnig war. Also, Macron, der französische Staatspräsident, hat mal vom "Ende der Naivität" gesprochen. Das halte ich auch für richtig.
Also, Partner, Wettbewerber und dann aber auch eben systemischer Rivale. Und da geht es in der Tat darum, dass da zwei Systeme aufeinanderstoßen, die eigentlich nicht kompatibel sind. Wir sollten nach meiner Meinung in der Tat unsere Werte verteidigen, weil das – wie ich überzeugt bin – universelle Werte sind, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, und dort auch diejenigen in China unterstützen, die sich dafür einsetzen, soweit wir das eben können. Hongkong zum Beispiel mit der Demokratiebewegung. Dieser Dreiklang, ich glaube, der würde als Richtschnur ganz vernünftig sein.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, Europa wäre auch gut beraten, der eher kritischen Haltung von Joe Biden, des neuen amerikanischen Präsidenten, sich anzuschließen?
Naß: Im Prinzip ja. Auf der außenpolitischen Agenda von Biden steht das Verhältnis zu China ganz oben, wirklich ganz oben. Und er plädiert sehr dafür, wirbt darum, dass es eine gemeinsame Chinapolitik des Westens geben soll. Das halte ich auch für richtig. Denn, auch wenn die Amerikaner heute noch die Weltmacht Nr. 1 sind, auch Amerika braucht Partner. Und wir Europäer sind, glaube ich, in diesen Fragen wirklich Partner der USA, gemeinsam dann allerdings auch mit asiatischen Ländern wie zum Beispiel Japan oder Südkorea, teilweise auch Indien oder pazifischen Ländern wie Australien.
Diese westlich ausgerichteten Länder sollten ihre Werte gemeinsam vertreten – wie gesagt –, weil ich meine, es sind universelle Werte; und soweit es eben möglich ist, gegenüber China auch zusammenarbeiten.
Deutschlandfunk Kultur: Sagt Matthias Naß – Asienkenner, internationaler Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit" und Autor eines neuen Buches über China.
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