Chile und Argentinien

Hier Rebellion, dort Linksruck

21:41 Minuten
Protest in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile gegen die Regierung am 23. Oktober. Menschen mit Plakaten in der Hand.
Protest in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile © imago / Aton Chile
Anne Herrberg · 24.10.2019
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Die extreme Kluft zwischen Arm und Reich bringt in Chile Menschen aller Altersgruppen auf die Barrikaden. Im Nachbarland Argentinien herrscht angespannte Ruhe vor dem Sturm. Am Sonntag ist Wahltag und es wird abgerechnet.
Seit Freitag vergangener Woche herrscht in Chile Ausnahmezustand. Auslöser der Proteste war eine relativ moderate Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr. Aber inzwischen geht es um viel mehr, wie die Studentin Natalia Cevedo erklärt:
"Die Proteste gehen weiter, denn auch wenn die Erhöhungen der Ticketpreise zurückgenommen wurde, hier geht es um all die Themen, die wir seit langem reklamieren: die hohen Studiengebühren, der schlechte und ungleiche Zugang zu Bildung und Gesundheit, die niedrigen Renten und Pensionen.

Bildung, Gesundheit, Rente – alles privatisiert

Präsident Sebastián Piñeras sprach anfangs von "Krieg" und schickte das Militär auf die Straße. Dann machte er plötzlich Zugeständnisse und versprach in einer Panikreaktion eine 20-preozentige Erhöhung des Mindestlohns und der Rente. Eine devote Entschuldigung an alle Chileninnen und Chilenen folgte.
Aber es ist wohl zu spät. Die Proteste reißen nicht ab und werden von einem breiten Bündnis in der Bevölkerung getragen. In keinem anderen OECD-Land ist die Kluft zwischen arm und reich derart extrem. Das will vor allem die junge Generation nicht mehr hinnehmen. Die hat im Gegensatz zu den Älteren keine Angst – sie kennen die Militärdiktatur nur noch aus Erzählungen.

Eine Luftaufnahme von Tausenden Demonstrierenden am 23. Oktober auf einer großen Straße in Santiago de Chile. 
Tausende Demonstrierende am 23. Oktober in Santiago de Chile. Auslöser für die Proteste waren steigende Preise im Nahverkehr.© imago images/Aton Chile
Für den argentinischen Präsidenten Mauricio Macri kommen die Proteste im Nachbarland zur Unzeit. Er tritt am Sonntag für eine zweite Amtszeit an und will wieder gewinnen. Aber die Chancen stehen sehr schlecht. Bei den Vorwahlen musste er eine krachende Niederlage hinnehmen. Aber in Barrancas de Belgrano glauben sie noch an ihn – ein traditionelles Viertel der wohlhabenden Mittelschicht im Norden von Buenos Aires, mit seinen alten Herrenhäusern, edlen Wohntürmen und dem hübschen Park mit griechischen Statuen.
"Si se puede" – "Ja, wir schaffen das", rufen sie. Etwa 5000 sind gekommen, die meisten haben die 50 bereits überschritten. Karina Bailanti schwenkt wie viele ein kleines, hellblau-weißes Argentinienfähnchen und hält ein gelbes Tuch in die Luft: "Ich wähle Macri", steht darauf.
"Wir sind hier, um die Regierung zu verteidigen, damit diese Bande von Korrupten nicht zurückkommt, die vorher regiert hat."
Patricio Lennard steht neben ihr, ebenfalls mit Fähnchen.
"Hier gibt es zwei Seiten. Die Guten und die Bösen. Die, die an die Republik, die Freiheit und die Institutionen glauben. Und die, die das Land ausrauben möchten, die auf Kosten des Staates leben und nicht arbeiten wollen."
Liliana Maiola hat konkrete Angst.
"Wir alle hoffen, dass Macri gewinnt. Wir wollen nicht wie Venezuela werden. Wir wollen wieder die Kornkammer der Welt sein."

Macri braucht dringend positive Bilder

Es ist ein Heimspiel für den Präsidenten. In aufgekrempeltem Hemd, Steppweste und Jeans winkt Mauricio Macri in die Menge. Kameradrohnen kreisen über der Szenerie. Macri braucht diese Bilder. Denn eigentlich glaubt in Argentinien gerade kaum noch einer daran, dass er Chancen auf eine zweite Amtszeit hat. Bei den Vorwahlen, einer Art Generalprobe für den Urnengang Ende Oktober, hat er haushoch verloren gegen seinen Herausforderer aus dem peronistischen Lager. Nun versucht Macri zu retten, was zu retten ist. Mit der "Si-Se-Puede"-Rally. Er reist durchs Land, schwenkt Fähnchen, reckt die Faust, küsst sogar Füße:
"Ich weiß, dass die letzten anderthalb Jahre sehr schwierig waren und dass ihr, die Mittelschicht, die größten Anstrengungen unternommen habt. Ihr wart wütend, zu Recht, aber ich habe euch gehört, ich habe Notiz genommen."


Dazu muss man wissen: Der steinreiche Unternehmer Macri war 2015 als Hoffnungsträger angetreten. Nach dem Autarkie-Kurs der linken Kirchner-Regierung, die Argentiniens Wirtschaft immer mehr abschottete und das Budget überzog, versprach er nichts weniger als einen Epochenwechsel: Mit marktliberalen Reformen wollte er das Land von Inflation und Armut befreien, den Weg zu Wohlstand und Wachstum ebnen. Zuerst jedoch musste gespart werden. Die Märkte jubelten, die Argentinier schnallten den Gürtel enger. Mauricio Macri:
Der amtierende argentinische Präsident Mauricio Macri Ende September auf einer Wahlveranstaltung in Buenos Aires. Ein älterer Mann hält ein Mikro in der Hand und hält eine Rede.
Der amtierende argentinische Präsident Mauricio Macri Ende September auf einer Wahlveranstaltung in Buenos Aires.© imago images/Fotoarena
"Ich möchte euch sagen, dass der Aufwand nicht umsonst war, weil wir damit begonnen haben, die Probleme der letzten 70 Jahre zu lösen. Jetzt kommt das Wachstum, die Arbeit und die Erleichterung, die wir alle so dringend am Monatsende in unseren Taschen brauchen."

Argentinien gilt wieder als Pleitekandidat

Macris Problem ist: Die versprochene Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Um Argentiniens Wirtschaft steht es heute schlechter als vor vier Jahren. Mittlerweile ist die Inflation auf 55 Prozent geklettert, die Wirtschaft schrumpft, die Armut wächst und Argentinien gilt wieder als Pleitekandidat. Und das, obwohl der Internationale Währungsfonds Macri mit 57 Milliarden US-Dollar unter die Arme gegriffen hat, es ist der höchsten IWF-Kredit aller Zeiten. Bei den Argentiniern weckt das böse Erinnerungen: an 2001, den letzten großen Staatsbankrott.
Sie wurden zum Symbol für diese Zeit – nun werden es wieder mehr: Die Cartoneros, die mit ihren meterhoch beladenen, scheppernden Handkarren durch Buenos Aires ziehen und Müll sammeln. Wie Ani Rodriguez. "Dream Big", steht auf ihrem ausgewaschenen T-Shirt, aber Ani kann nicht träumen, sie kann nicht warten, sie muss überleben. Tag für Tag
"Brot zum Beispiel, das Kilo kostet heute 100 Pesos! Zucker, 54 Pesos! Ja, gut, sie haben die Straße hier breiter gemacht und eine Schnellbuslinie gebaut, alles schön und gut, aber fürs Essen reicht es nicht mehr. Ohne Essen, was sollen wir da tun? Etwa Asphalt essen?"


Ani Rodriguez zieht sich am Rand einer Mülltonne hoch, schwingt über und lässt sich hinabsinken in den stinkenden Abfall. Eine schmale Frau mit harten Zügen. Sie fischt Dosen, Karton und Altpapier heraus und ab und an auch mal eine aufgeweichte Teigtasche, eine Empanada, oder eine halbleere Colaflasche.
Ani Rodriguez bestreitet in Buenos Aires ihren Lebensunterhalt mit Müllsammeln. Eine Frau steht vor einem Handkarren.
Ani Rodriguez bestreitet in Buenos Aires ihren Lebensunterhalt mit Müllsammeln.© Deutschlandradio / Anne Herrberg
Sechs bis 20 Peso bekommt sie beim Recyclinghof, je nach Material, das sind weniger als 30 Eurocent pro Kilo. Zum Vergleich: Ein Kilo Brot kostet umgerechnet 1 Euro 50. Morgen können es auch 1 Euro 60 sein, denn die Preise klettern fast täglich nach oben. Und das hat, wie fast alles in Argentinien, mit dem US-Dollar zu tun – beziehungsweise damit, dass der Peso immer weniger wert ist.
"Der Dollar raubt uns den Schlaf, den Appetit und die Freude am Leben. Denn er beeinflusst hier alles. Steigt der Dollar, steigt der Preis für Weizen, für Benzin, für Gas und Strom, für alles. Wie eine Kette. Früher konnten wir mit 500 Pesos zwei, drei Tage gut leben, heute reicht es nicht mal für einen Eintopf. Macri versteht das nicht, er war sein Leben lang reich, das ist der Unterschied."

Das erstaunliche Comeback einer schillernden Frau

Ani, ihr Mann und die sechs Kinder essen in einem Comedor, einer Suppenküche. Die restliche Zeit halten sie sich mit gezuckertem Mate-Tee über Wasser. So geht es heute fast vier der 44 Millionen in Argentinien, einem Land, das Nahrung für 400 Millionen Menschen produziert. Gerade musste der Kongress den Lebensmittel-Notstand ausrufen. Das erklärt schon viel über Macris Wahldebakel – und über das erstaunliche Comeback einer Frau, mit deren politischem Projekt er eigentlich ein für alle Mal aufräumen wollte.
Nun ist sie wieder da. Cristina Fernandez de Kirchner winkt ins vollbesetzte Auditorium der Universität von La Matanza. Auch sie tourt durchs Land. Mit ihren Memoiren. Und das hier ist ihr Heimspiel.
La Matanza liegt im dicht besiedelten Vorstadtgürtel von Buenos Aires, Kernland des Peronismus, jener bedeutenden politischen Bewegung Argentiniens, die auf den Volkstribun Juan Domingo Peron zurückgeht. Begründer des ersten Wohlfahrtsstaates in Argentinien in den 1940er -und 50er-Jahren, andere nennen ihn einen autoritären Populisten. Der Saal platzt aus allen Nähten, draußen übertragen Großleinwände, Fahnen wehen, Fanartikel werden verkauft. Mehr als Zehntausend Fans sind gekommen, um Cristina zu sehen.


"Sie hat uns viel gegeben, wir hoffen, dass sie zurückkommt. Sie war das Beste, was unserem Land passiert ist."
Cristina Fernandez de Kirchner auf einer Wahlkampfveranstaltung am 17. Oktober in Santa Rosa, Argentinien. Eine Frau steht auf einer Bühne und winkt Menschen zu, die die argentinische Flagge halten.
Cristina Fernandez de Kirchner auf einer Wahlkampfveranstaltung am 17. Oktober in Santa Rosa, Argentinien. © picture allilance/dpa/Natacha Pisarenko
Cristina lächelt, legt die Hand aufs Herz, dann streicht sie sorgfältig ihre rotbraune Wellenpracht zurück. "Sinceramente" heißt ihr gerade erschienenes Buch. Auf Deutsch: "Ehrlich gesagt". Ein sehr subjektiver Rückblick auf ihre Regierungsjahre, als in ganz Südamerika linke Regierungen das Kommando übernahmen, den ökonomischen Rezepten aus Washington trotzig den Rücken kehrten und die Milliarden in Sozialprogramme steckten. In Kirchners Augen eine gewonnene Dekade, ihre Gegner sprechen vom verlorenen, populistischen Jahrzehnt. Gegen Kirchner laufen derzeit dreizehn Korruptionsverfahren. Doch auch darüber gibt es geteilte Ansichten, schließlich hat Argentiniens Justiz ebenfalls ein Glaubwürdigkeitsproblem.
"Es waren zwölf Jahre mit großen Fortschritten und Veränderungen und natürlich auch mit Problemen, nur Tote haben keine Probleme. Aber die Probleme, die es gab, wurden multipliziert und dazu kamen neue, solche, die wir eigentlich glaubten, überwunden zu haben. Und ich persönlich muss sagen: Staatsverschuldung und Hunger, das sind Probleme, die ich nicht tolerieren und nicht ertragen kann!"

Die Opposition stellt sich vereint gegen Macri

Cristina ist im Wahlkampf. Natürlich ist das Buch nur ein Alibi. Im Mai überraschte die Ex-Präsidentin mit der Ankündigung, nur als Vize kandidieren zu wollen – als Stellvertreterin an der Seite eines langjährigen Weggefährten: Alberto Fernandez. Er war Kabinettschef ihres Ehemannes und Vorgängers im Amt, dem inzwischen verstorbenen Néstor Kirchner. Mit Cristina hatte sich Fernández später überworfen. Wie andere Peronisten auch. Doch das ist Vergangenheit. Die einst zersplitterte Opposition hat sich geeint. Zur "Frente de Todos", eine Koalition all derjenigen, die gegen Macri sind.
"Ich frage: Was sollen wir noch tun, um zu zeigen, dass wir bereit sind, eine andere Geschichte zu schreiben. Ich erinnere mich noch an die Zeitungsartikel: Wenn Cristina es nicht wird, dann niemand. Glaubt ihr wirklich, dass sich alles nur darum dreht, dass ich Präsidentschaftskandidatin werde? Wie kleinlich wäre das von Cristina gewesen, wie kleinlich! "
Es war ein politischer Schachzug, mit dem Macri nicht gerechnet hatte. Und der ihm den Wind aus dem Segeln nahm. Schließlich hatte er seine Kampagne, ja seine gesamte Präsidentschaft, auf eine Polarisierung mit der Vorgängerin gestützt, sagt Juan Gabriel Tokatlian. Er ist Soziologe und Leiter Fakultät für Internationale Beziehungen an der Universität Torcuato di Tela.
"In Schlüsselmomenten ist es wichtig, die Koalition zu erweitern. Und es gibt Politiker, die das verstehen, und andere, die sich irren. Cristina Fernandez hat es verstanden, indem sie einen Schritt zur Seite getreten ist für jemanden, der ihr vertraut ist, der sie aber auch kritisiert und sich mit ihr überworfen hatte. Eine Figur der Mitte, die in der Lage war, die zersplitterte Opposition zu einen, der von den Linken und den sozialen Bewegungen akzeptiert wurde, aber auch vom konservativen Lager. Cristina Fernandez de Kirchner hat erkannt: Allein bin ich zu schwach. Mit anderen zusammen bin ich ein Trumpf."

Panik an der Börse und Einbruch des Peso

Die Märkte überzeugte dieser Schachzug allerdings weit weniger als die argentinischen Wähler. Die Linkspopulistin gilt als Investorenschreck. Während ihrer Regierungszeit ging sie auf Konfrontation mit den Finanzmärkten und führte Kapital- und Devisenkontrollen ein. Am Tag nach Macris Wahldebakel brach an Argentiniens Börse die nackte Panik aus.
Innerhalb von Stunden ratterten die Kurse in den Keller. Die Landeswährung Peso brach um mehr als ein Viertel ein, argentinische Anleihen kollabierten und die Zinssätze, die Argentinien für neue Schulden zahlen muss, schossen in die Höhe. "Alles wegen Cristina", erklärte ein angesäuerter Macri am selben Abend auf einer Pressekonferenz.
Carlos Arhancet schüttelt den Kopf. Märkte haben keine Ideologie, sagt er. Arhancet, 61, braun gebrannt, volles Haar, ist Market Maker, Wertpapierhändler.
"Was nach den Vorwahlen passiert ist, war eine übertriebene Reaktion. Sie zeugt von der Hysterie in einem Land, dessen Wirtschaft seit über 50 Jahren hin- und herpendelt. Und das kein Vertrauen in seine Währung hat. Hier ist ein Haufen Papier im Umlauf, das sich Pesos nennt, das aber im Grunde niemand haben will. Weil es immer weniger wert ist. In unserer Geschichte mussten wir bereits 14 Nullen wegstreichen. Deswegen flüchten sich die Menschen in den US-Dollar. Was der Absturz deutlich gemacht hat, ist die Schwäche unseres ganzen Finanzsystems."
Dabei ist mit Mauricio Macri 2015 ein Freund der Wall Street in Argentiniens rosafarbenen Präsidentenpalast eingezogen. Er riss Kirchners protektionistische Schranken ein, zahlte die von ihr als "Geierfonds" beschimpften Hedgefonds aus, gab den Wechselkurs des Peso frei und nahm im Rekordtempo neue Schulden auf. Die Märkte jubelten, Argentinien wurde zum neuen Superstar des Südens gekürt. Frisches Kapital strömte ins Land, denn die argentinische Zentralbank vergab hohe Zinsen – im Gegensetz zum Rest der Welt.
"Es war also sehr verlockend, sich im Ausland für einen niedrigen Zinssatz Dollar zu leihen, und sie kurzfristig, aber mit hohem Gewinn, in Argentinienanleihen anzulegen. Wir reden von einem Profit von 40 bis 50 Prozent. Argentinien ist ein sehr interessantes Land, um Geschäfte zu machen."
Für Leute wie Arhancet, die am Finanzmarkt operieren und spekulieren. Der versprochene Investitions-Regen blieb dagegen aus. Und dann kam der sogenannte "Sudden Stopp": Als in den USA die Zinsen steigen, der Handelsstreit mit China die Weltwirtschaft lahmt, zusätzliche eine Dürre, die Argentiniens Agrarexporte einbrechen lässt, und Anleger ihr Geld aus den Schwellenländern abziehen, gerät der neue Superstar Argentinien ins Strudeln.

Canossagang zum IWF

Was folgt, ist Macris Canossagang zum Internationalen Währungsfonds. Der sagt Argentinien ganze 57 Milliarden US-Dollar zu, der größte IWF-Kredit aller Zeiten, über 60 Prozent seines ganzen Kapitals. Ein Fehler, glauben heute nicht nur Kritiker wie Tokatlian:
"Maßgeblich war meines Erachtens ein geopolitisches Interesse, vor allem der USA. Unter der Regierung Trump ist Washington zu einer Art neuer Monroe-Doktrin geschwenkt, Amerika den Amerikanern, mit dem klaren Interesse, Chinas Einfluss in der Region zurückzudrängen. Ich glaube, das ging schief. Dazu kommt natürlich auch das Interesse des IWF, der erneut versucht hat, ein orthodoxes Rezept durchzusetzen, das schon in der Vergangenheit nicht funktioniert hat."
Wo ist das ganze Geld, fragt Cristina Kirchner bei ihrem Auftritt in La Matanza. Und unterstützt nun ihren ehemaligen Widersacher Alberto Fernandez. Alle fragen sich: Wer ist dieser Mann, der die Kirchner-Ära erst begleitet hat und sie dann kritisierte.
Die Medien scheut er nicht. Auch wenn jedes Interview mit der gleichen Frage beginnt, wie hier, bereits im Juni in America TV. Wer hat die Fäden in der Hand? Wer garantiert, dass am Schluss nicht doch wieder Cristina das Zepter übernimmt?
"Ich. Ich garantiere das. Und meine Geschichte. Ehrlich gesagt, ich verstehe euch nicht ganz. Als ich die Regierung von Cristina kritisiert habe und auf Distanz gegangen bin, hieß es: Wie mutig, wie standfest von Alberto Fernández. Und jetzt, so scheint es, habe ich mich in eine Marionette verwandelt?"
Eher gilt er als Strippenzieher: Alberto Fernández, 60 Jahre, markanter Schnauzer, Jurist und Dozent an der Universität von Buenos Aires. Ein Pragmatiker, kein Mann der Extreme, glaubt der Soziologe Juan Gabriel Tokatlian. Die Financial Times bezeichnete ihn kürzlich gar als Sozialdemokraten.
"Er ist ein Mann, den ich mehr in der Mitte verorten würde als im linken Lager. Ein Mann, der großes politisches Geschick bewiesen hat innerhalb des Peronismus, der ja eine ideologisch sehr heterogene Bewegung ist. Er versteht internationale Dynamiken und weiß, dass das die derzeitigen Konditionen für Argentinien alles andere als günstig sind. Für mich ist es ein Mann, der sehr viel mehr den Konsens und den Ausgleich sucht als die Konfrontation."


Fernández‘ Mantra ist das vom großen nationalen Dialog: mit sozialen Bewegungen, Industrie, Agrarsektor und Gewerkschaften. Gleichzeitig haben er und die ihm nahestehenden Ökonomen versöhnliche Signale an die Märkte ausgesendet. Sie wissen: Ein erneuter Default, ein erneuter Zahlungsausfall, käme Argentinien teuer zu stehen. Aber die große Frage ist: Zu wieviel Konsens sind die einzelnen Lager in der "Frente de Todos" bereit im Fall, dass aus dem Wahlbündnis tatsächlich eine Regierungskoalition wird?
Präsidentschaftskandidat Alberto Fernández während einer Debatte am 21. Oktober in Buenos Aires.
Präsidentschaftskandidat Alberto Fernández während einer Debatte am 21. Oktober in Buenos Aires. © imago images/Agencia EFE
Schon jetzt ist klar: Seine Schulden, sowohl mit dem Internationalen Währungsfonds als auch mit privaten Gläubigern, wird Argentinien nicht wie vorgesehen zurückzahlen können und stattdessen neu verhandeln müssen.
"Sie sagen uns, dass wir uns immer wieder über den selben Stein stolpern, aber sie sind der Stein, der uns stolpern lässt. Politik ist mehr als durch Coaching erlernte Diskurse. Politik bedeutet, die Menschen nicht anzulügen und Verantwortung zu übernehmen."
Alberto Fernandez mit einer Botschaft an die Regierung. Es ist der 17. Oktober, zehn Tage vor der Wahl. Es ist der Tag, an dem vor fast 75 Jahren der Mythos des Peronismus als Volksbewegung begründet wurde, die sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat. Seitdem gab es linken und rechten Peronismus, nationalistischen und liberalen. Die einen sagen, es ist die Lösung, andere halten ihn für den Untergang des Landes. Doch ohne Peronismus, wie auch immer er aussieht, ging es nie in Argentinien. Und das ist wahrscheinlich auch der größte Trumpf im Ärmel von Alberto Fernandez.
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