Chemnitz nach den Ausschreitungen

Kein Weg aus dem Alltagsrassismus

01.11.2018, Sachsen, Chemitz: Frank-Walter Steinmeier (M), Bundespräsident, spricht an einer Cafétafel im Sächsischen Archäologiemuseum in Chemnitz mit Bürgerinnen und Bürgern. Das Staatsoberhaupt informiert sich in Sachsen über die aktuelle Lage. Chemnitz war zuletzt durch rechtsextreme Proteste und Ausschreitungen auch international in die Schlagzeilen geraten. Foto: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier traf sich diese Woche mit Bürgerinnen und Bürgern in Chemnitz zum Gespräch. © Hendrik Schmidt/dpa
Vanessa Vu im Gespräch mit Julius Stucke  · 03.11.2018
Nach den Ausschreitungen vom August ist Chemnitz zum Reiseziel zahlreicher Politiker geworden. Die Zeit-Journalistin Vanessa Vu fordert mehr Einsatz für Menschen mit Migrationshintergrund, die in der sächsischen Stadt leben.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Chemnitz erst am Donnerstag besucht, um mit Bürgern zu sprechen. Am heutigen Samstag kam Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) die sächsische Stadt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat ihre Visite für den 16. November angekündigt. Auch unser Studiogast, die Zeit-Journalistin Vanessa Vu, war diese Woche wieder in Chemnitz, um zu recherchieren, wie heute Menschen mit Migrationshintergrund in der Stadt leben, die Ende August zunächst einen Totschlag und dann rechte Ausschreibungen und Kundgebungen erlebte.
Die Journalistin Vanessa Vu
Die Zeit-Journalistin Vanessa Vu© Michael Heck für DIE ZEIT
"Ich höre auch gerne diese Geschichte, die in den letzten Tagen viel geschrieben wurden, dass es ganz viele Initiativen gibt, dass es wieder Hoffnung gibt, dass sich die Stadt einsetzt, dass es jetzt Gespräche und Dialoge gibt", sagte Vu im Deutschlandfunk Kultur. "Es klingt nach: wird doch alles gut, wir bemühen uns, wir ziehen doch alle an einem Strang." Dabei sei sie schon bei ihrem früheren Besuch auf sehr viel Pessimismus gestoßen und auf Leute mit Migrationshintergrund, die aus Sachsen nur noch weggewollt hätten.

"Rassismus ist ein tabuisiertes Wort"

Zu den Politikerbesuchen in Chemnitz sagte Vu, es sei wichtig, ins Gespräch zu kommen. Beim "Sachsen-Gespräch" unmittelbar nach den Ausschreitungen hätten allerdings Bemühungen gefehlt, "Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund" einzubeziehen. "Es war dann tatsächlich fast keiner da", sagte Vu. Das habe man auf den Fotos der Fotografen später nachzählen können. "Ich weiß aber, dass viele hingehen wollten ursprünglich, sich aber dann nicht mehr getraut haben."
Dabei sei es wichtig, mit diesen Menschen nicht nur symbolisch zu reden, sondern herauszufinden, was für diese Personengruppe konkret getan werden könne, damit sich ihr Alltag wieder verbessere, so die Journalistin. Ihre Sicherheit und die ihrer Kinder müsse gewährleistet werden. Vu forderte mehr konkrete Anti-Diskriminierungsmaßnahmen und Bildungsarbeit. Sie habe nicht den Eindruck, dass da genug geschehe. Man sei den betroffenen Menschen mehr schuldig. "Die leben hier, die haben dieses Land mit aufgebaut, die zahlen ihre Steuern, sind genauso Staatsbürger und verdienen den gleichen Respekt." Es fehle immer noch das Wissen darüber, wie man Rassismus wirkungsvoll begegne, kritisierte die Journalistin. "In Deutschland sagt man nicht Rassismus, das ist ein ganz böses, tabuisiertes Wort."

Die Journalistin Vanessa Vu wurde 1991 in Eggenfelden als Kind vietnamesischer Eltern geboren. Sie lebte die ersten Jahre ihres Lebens in einem bayerischen Asylbewerberheim. Vu studierte in München und London Ethnologie und Völkerrecht sowie Südostasien-Studien mit dem Schwerpunktthema Ethnizität. Heute arbeitet die Redakteurin für Politik- und Gesellschaftsthmen bei "Zeit Online" und betreibt den Podcast "Rice and Shine". 2018 erhielt sie für ihre Reportage "Meine Schrottcontainerkindheit" den renommierten Theodor-Wolff-Preis.

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