Gaskrise

Lange Unterhosen oder Arbeitslosigkeit

11:14 Minuten
Luftaufnahme vom Chemiewerk Wacker in Burghausen
Das Chemiewerk Wacker in Burghausen © picture alliance / Peter Kneffel
Von Tobias Krone · 01.09.2022
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Das Chemiewerk Wacker im bayerischen Burghausen ist wichtig für die Energiewende und die smarte Revolution, denn hier wird reines Silizium hergestellt. Dafür benötigt es sehr viel Strom, doch die Wohnungsheizungen eben auch. Was ist wichtiger?
Es ist eine relativ unscheinbare Halle, die man die Brennkammer Bayerns nennen könnte. Denn der Stromverbrauch dürfte im Freistaat an keinem Ort höher sein. Und die Furcht vor diesem Winter potenziert sich hier im Chemiewerk Wacker in Burghausen dementsprechend.
Mehrere Dutzend Reaktorglocken in Form von zehn Meter hohen, grauen Thermosflaschen stehen in der Halle in zwei Reihen und prozessieren hier chemisch vor sich hin – mit extrem hohem Stromverbrauch. Es geht um Silizium, den entscheidenden Stoff für die Digitalisierung der Welt.
Das graue, bröckelige Halbmetall Silizium, das zumeist aus Norwegen kommt, wird hier in Burghausen erst in Flüssigform, chemisch korrekt: Trichlorsilan, und dann in Gasform versetzt und in diesen Reaktoren mehrere Tage lang so von anderen Metallen gereinigt, dass es später, wieder in Festform, in Solarpanels für die Stromgewinnung oder als Halbleiter für Elektronik-Chips eingebaut werden kann.

Deutsches Silizium für die Welt

Christian Westermeier ist für Vertrieb und Marketing dieses hochreinen Siliziums zuständig. Wacker liefert es in Form von silbergrauem Granulat oder armdicken Metall-Kolben an die Industrie weltweit.
Etwa ein Sechstel aller Fotovoltaikanlagen arbeiten mit Wacker-Silizium. Noch höher liegt der Marktanteil der Firma aus Bayern bei Silizium für Elektronik:
„Da gehen wir davon aus, dass mittlerweile jedes zweite auf der Welt verwendete Bauteil mit Polysilizium aus unseren Produktionsstätten hergestellt worden ist."
So ironisch es klingt: Um die Sonnen-Energiewende und die smarte Digitalisierung mittels Silizium voranzubringen, braucht man erst einmal viel Strom. Rund 3 Terrawatt-Stunden benötigt das Chemiewerk Wacker insgesamt am Standort Burghausen, das sind mehr als 0,5 Prozent des gesamten Stromverbrauchs in Deutschland.

40 Prozent des Stroms aus eigenem Gaskraftwerk

Und hier kommt die Sorge vor einem russischen Gasstopp ins Spiel. Denn der Strommix von Wacker Burghausen setzt sich wie folgt zusammen: 7 bis 8 Prozent liefert das alte Wasserkraftwerk, das vor über 100 Jahren der Grund war, weshalb Wacker hier, am Hochufer des Flusses Salzach, sein Werk errichtete.
55 Prozent holt sich das Unternehmen heute aus dem örtlichen Stromnetz. Den Rest, fast 40 Prozent des Strombedarfs, produziert es in einem eigenen Gaskraftwerk am Standort. Hierhin fließt das Erdgas aus Russland:
„Wir brauchen im Moment 3700 Gigawatt-Stunden Erdgas pro Jahr, das entspricht in etwa dem Verbrauch von 280.000 Haushalten hier in Bayern. Und das ist eine Energiemenge, die wir dann zuerst verstromen in einer Gasturbine und einer nachgeschalteten Dampfturbine, wo wir aber gleichzeitig die dabei anfallende Wärme sehr effizient in unseren Prozessen nutzen, sodass der Nutzungsgrad dieser Energie, des Gases sehr hoch ist.“

Regenerative Energien zu lange nicht auf dem Plan

Werksleiter Peter von Zumbusch sitzt im Besprechungsraum und versucht im Interview immer wieder, die Energieeffizienz seines Unternehmens zu betonen. Aber dass sein Werk auch im kommenden Winter eine gigantische Menge an Strom und Gas braucht, lässt sich nicht leugnen. Die Ungewissheit treibt ihm die Sorgenfalten ins Gesicht.
Die Rechnung von Zumbusch geht so: Müssten sie bei Wacker ihr Gaskraftwerk stilllegen, bräuchten sie für Energie und Wärme mehr Strom aus dem Netz. Diesen Strom bräuchten dann aber wohl auch sehr viele Verbraucher:innen, die zum Beispiel mit Elektroheizungen ihr Wohnzimmer wärmen würden.
Gäbe es Alternativen? Ja, künftig sollen auf Initiative von Wacker und anderen Chemiebetrieben in der Gegend im Staatsforst 40 Windräder entstehen. Das dauert aber noch. Denn konkret geworden sind diese Pläne erst in diesem Jahr. Doch warum erst jetzt?
„Natürlich spielt es eine Rolle, dass in der Vergangenheit das Gas aus Russland sehr billig gewesen ist", erklärt der Werksleiter. "Und man, wenn man als wirtschaftender Betrieb gegen eine sehr, sehr billige Alternative rechnet, sich dann immer ein Stück weit schwertut.“
Ein Unternehmen wie Wacker dachte zwar bisher auch immer ein bisschen an die Energiewende, aber entscheidend für den Moment sind die Produktionskosten. Und billiges Gas aus Russland senkten diese Kosten bislang.

CO2-neutral in 23 Jahren

Wacker Chemie hat mit dem Silizium eigentlich einen Stoff der Zukunft, ein wirtschaftliches Gewinnerthema. Die Nachfrage nach Solarplatten und Computerchips wird in den kommenden Jahren boomen, also auch das Geschäft.
Doch gleichzeitig wird die Energie in Europa teurer, während Russland den Konkurrenzunternehmen von Wacker in China das Gas immer billiger verkauft.
Vor diesem Szenario erscheinen erneuerbare Energien nicht nur als Image-Faktor, sondern tatsächlich als eine Lösung. Bis 2045 will Wacker seine Werke CO2-neutral betreiben – und das Gaskraftwerk nur noch nachts bei Windflaute anschalten – die Turbine dort könnte auch mit Wasserstoff statt mit Gas laufen, aber dazu bräuchte es eine Leitung nach Burghausen.
Die Energiewende ist hier also  Zukunftsmusik. Für diesen Winter hilft alles nichts: Dreht Russland den Gashahn zu, dann konkurriert Wacker mit Heizlüftern in deutschen Wohnzimmern. Ob er in dem Fall sein Werk nicht stilllegen würde, stilllegen müsste? Peter von Zumbuschs Gesicht wird ernst.
„Ich würde die Bevölkerung fragen, ob sie sich lieber zu Hause lange Unterhosen anziehen oder keinen Job mehr haben wollen. Das soll die Bevölkerung dann entscheiden.“

Das Gas kommt über Österreich nach Bayern

Eine Autostunde südöstlich von Burghausen. Hier liegen die hügeligen Wiesen und Äcker des Flachgau – ein Österreich, das die wenigsten Touristen kennen. Auf der Wiese hinter dem Ortsteil Haidach, Teil des Marktfleckens Straßwalchen, grast ein Schaf, daneben ragen auf ein paar Fußballfeldern Größe glänzende Rohrgestänge aus dem Boden und einige metallene Türme, umgeben von einem Sicherheitszaun. Sonst nichts. Kein Mensch weit und breit.
Um zu verstehen, warum die Gasversorgung für den Süden Deutschlands und das Chemiewerk Burghausen nicht nur von Russland abhängt, muss man hierher fahren. Denn 1,6 Kilometer Meter unterhalb dieser Wiese befindet sich ein riesiger Hohlraum: einer der größten Gasspeicher Europas – mit einer Pipelineverbindung exklusiv nach Deutschland. Von hier bezieht auch Wacker Burghausen sein Gas.
Gas zapft und lagert man hier erst seit 1997 – die Gemeinde hat von dem Speicher Haidach auf ihrer Gemarkung so gut wie nichts. Für sieben Mitarbeiter bekomme sie Gemeindesteuer, sagt die Bürgermeisterin des 8.000-Einwohner-Dorfes, Tanja Kreer. Mehr nicht. Und dann kommt auch noch dieses mulmige Gefühl dazu:
„Wir sind natürlich sehr skeptisch, muss ich sagen. Aber sie haben uns mehrfach versichert, dass das wirklich eine hochprofessionelle Anlage ist und dass wir keine Sorge haben müssen, dass wir in die Luft fliegen, wenn man das ganz einfach ausdrücken darf.“

Österreich will das Gas behalten

Zündstoff, allerdings eher in Bayern, lieferte ein neues Gesetz der österreichischen Bundesregierung. Dieses erlaubt es Österreich, den Gasspeicher, der bisher nur eine Pipeline-Verbindung nach Deutschland hat, künftig für die eigenen nationalen Interessen nutzen zu wollen.
Viel dazu sagen könne sie als Kommunalpolitikerin zwar nicht, sagt Tanja Kreer, aber sie findet die Entscheidung richtig.
Und auch auf der Straße im Ortskern von Straßwalchen scheint das nationale Interesse zu überwiegen, wie bei einer Frau, die gerade aus ihrem Auto steigt. Der Speicher gehöre nun mal Österreich, findet sie – was nicht ganz stimmt. Der Speicher gehört laut österreichischem Umweltministerium zumindest in Teilen Russland. Betrieben haben den Speicher Haidach bisher zwei Gazprom-Tochterunternehmen. Bei Wacker in Burghausen, wo man vom Gas aus Haidach abhängig ist, sieht man im neuen Gesetz der Österreicher aber keine Gefahren für die eigene Gassicherheit.
Denn, etwas zugespitzt formuliert: Seitdem auch Österreich den Speicher nutzen will, wird er überhaupt erst wieder befüllt. Ende März war der Speicher in Haidach so gut wie leer. Mittlerweile hat Österreichs Umweltministerium den Speicher einer der Gazprom-Töchter entzogen und lässt ihn durch ein österreichisches Unternehmen befüllen, Ziel seien 80 Prozent Füllstand im November, so das Ministerium in Wien auf Anfrage.

Wacker gibt sich optimistisch

Gesetzlich und technisch sei es möglich, das Gas, das bisher nur nach Deutschland floss, nun nach Österreich zu leiten. Doch zusätzlich gebe es ein europäisches Solidaritätsabkommen, mit dem sich die Länder gegenseitig bei der Versorgung unterstützen wollen. Und dann arbeiten die Nachbarländer gerade noch an einem Abkommen, das die deutsche Gasversorgung aus Haidach sicherstellen soll.
Wovon wiederum Wacker in Burghausen profitieren würde. Wäre Haidach nämlich zu 80 Prozent befüllt, wäre sogar gut sechsmal der Jahresgasverbrauch im Chemiewerk auf bayerischem Boden gesichert.
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