Künstliche Intelligenz

Die wahre Gefahr liegt woanders

Ein programmierter Roboter führt im AWO Familien- und Pflegezentrum "Am Klees" Bewohnern und Pflegepersonal einen Tanz vor.
Noch können Roboter menschliche Pflegekräfte nicht ersetzen. Aber wollen wir überhaupt, dass es so kommt? © picture alliance / dpa / Matthias Bein
Ein Kommentar von Mathias Greffrath · 12.10.2023
Künstliche Intelligenz: Selbst Entwickler warnen inzwischen vor Kontrollverlust oder gar der Auslöschung der Menschheit. Der Soziologe Mathias Greffrath hält solche Ängste für übertrieben und meint, dass diese die tatsächlichen Probleme überdecken.
Im Frühjahr warnten führende Entwickler von „künstlicher Intelligenz“ vor den Gefahren dieser Technologie. Unkontrolliert könnte sie unzählige Menschen überflüssig machen, die Welt mit Fake News überschwemmen oder gar – ultimative Steigerung – die Menschheit auslöschen. Und so forderten Bigshots wie Elon Musk ein Entwicklungsmoratorium – an das sie sich natürlich nicht hielten.
Die plakative Vernichtungsdrohung durch eine fehlfunktionierende oder in der feuilletonistischen Überspitzung gar bösartige Maschine belebt immer wieder die Diskussionen über die künstliche Intelligenz. Mir kommt da das Schild in den Sinn, das in Frankreich vor den unbeschränkten Bahnübergängen steht: „Attention. Un train en peut cacher un autre.“ Sinngemäß: "Der Zug, auf den Sie achten, könnte den hinter ihm heranrasenden verdecken.“

Eine Menschheit, der die Arbeit ausgeht

Ist es etwa auch hier so? Verdeckt die sensationsträchtige, aber unrealistische Angst vor Computern mit Willensmacht die unspektakulären, aber viel folgenreicheren Gefahren einer rasanten, planmäßigen und unfallfreien Entwicklung?
Die Profiteure der technologischen Revolution rufen nach einer Regulierung der Gefahren, die von einer entgleisenden künstlichen Intelligenz ausgehen – aber wie wäre es, wenn nicht eine aus dem Ruder laufende, sondern eine ganz normal funktionierende Digitalisierung das Problem wäre - die Automatisierung jeglicher Produktion, tendenziell aller Dienstleistungen, die von Infrastrukturen und administrativen Entscheidungen, die Durchdigitalisierung von Bildungssystemen und damit die Zuteilung von Lebenschancen?
Die Vision einer Menschheit, der die Arbeit ausgeht, die mit manipulativem Marketing in Trab gehalten und mit kultureller Billigware stillgestellt wird, in der Trolle und Fake News die Demokratie zersetzen, und Menschen, die über die leistungsfähigsten Apps verfügen, einen Vorsprung vor den anderen haben – diese Gefahr ist jedenfalls weit realistischer ist als eine diabolische KI, die die Menschheit auszulöschen droht. Und die Fixierung auf diese Vorstellung lähmt die Kräfte und die Fantasie, die wir brauchen, um die Digitalisierung zum Nutzen der Menschheit zu lenken.

Erziehung zur Mündigkeit und digitale Kontrollen

Die Vision, dass das Internet Menschheitswissen allen zugänglich macht, Computer eine rationelle Verwaltung der Güter dieser Welt und eine gerechte Verteilung möglich machen und eine Produktionsweise, die die Erde nicht schreddert – diese Vision ist arg lädiert.
Die Möglichkeit dafür ist immer noch da. Aber das Fenster für die Durchsetzung neuer politischer Institutionen und Regeln und eine Zähmung der von Oligarchien getriebenen Umwälzungen schließt sich rasant.
Es geht dabei um mehr als nur um die Kontrollen von Missbrauch. Es geht um unser Verständnis von Leben und Zusammenleben: Wollen wir die Alten von Robotern pflegen lassen? Wollen wir lebendige Lehrer durch Lernautomaten ersetzen, die Vielfalt des Marktes durch ein paar planwirtschaftlich organisierte Oligopole planieren lassen? Und wollen wir – denn die ökologischen und sozialen Krisen werden kommen – die Erziehung zur Mündigkeit in einer komplexen Weltgesellschaft durch digitale Kontrollen à la China ersetzen lassen? 

Das Ende kommt durch politische Versäumnisse

Je komplexer und je allumfassender die kapitalgetriebene Technik wird, desto klüger, kenntnisreicher, urteilsfähiger und politisch aktiver müssten die Menschen werden, und umso demokratischer, aufgeklärter ihre Politiker, vor allem aber: durchsetzungsstark gegen die techno-kapitalistischen Oligarchen.
Das Ende des Homo sapiens und seine Ersetzung durch eine Gattung, für die wir noch keinen Namen haben, wird jedenfalls nicht durch eine diabolische künstliche Intelligenz kommen, sondern durch die politischen Versäumnisse einer machtvergessenen Elite und die komfortable Trägheit der Massen.
„Lassen Sie uns die Fehler, die wir bei der Einführung der sozialen Netzwerke gemacht haben, nicht immer weiter machen.“ Mit diesen Worten plädierte kürzlich ein amerikanischer Senator bei einem Hearing für eine entschlossene Regulierung von KI. Seine Worte sind noch nicht angekommen.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für „Die Zeit“, die „taz“ und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: „Montaigne – Leben in Zwischenzeiten“ und das Theaterstück „Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?“

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