Charts

Ruhige Töne im Arthouse-Kino

Ellar Coltrane in einer Szene aus dem Film "Boyhood".
Hält sich auf Platz 3: Der Film "Boyhood" von Richard Linklater © picture alliance / dpa
Von Hartwig Tegeler · 02.08.2014
Die Arthouse-Kinocharts sprechen derzeit eine sehr leise, emotionale Sprache. Statt Bildgewalt und Action geht es um Krebs, einen hochbegabten Jungen, die Kindheit, das Alter und Rassissmus.
Ach, wie gerne würde ich jetzt erzählen von einem wunderschönen Film über ein fiktives Osteuropa, Mikrokosmos der Zeit zwischen den Weltkriegen, würde gerne erzählen von diesen grandiosen Schauspielern Ralph Fiennes oder Adrien Brody oder Saoirse Ronan, würde gerne schwärmen von "Grand Budapest Hotel" ... oder ... ganz anders ... würde mich gern verbeugen vor "Wie der Wind sich hebt", Hayao Miyazakis erwachsenem Zeichentrickfilm. Ach, darüber würde ich gern erzählen, aber - die Pflicht brüllt: Wir haben nicht zu reden über Platz acht oder sieben der Arthouse-Charts, sondern über Platz 5.
Und da hängt immer noch der Film über zwei krebskranke Teenager.
Platz 5: "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" von Josh Boone. USA 2014.
Tränen getrocknet. Immerhin: Die zugegeben großartige Hauptdarstellerin Shailene Woodley ist endgültig in Hollywood angekommen. Sei´s ihr gegönnt!
Platz 4: "Die Karte meiner Träume" von Jean-Pierre Jeunet. Frankreich 2014.
Verblüffend. Ein Jean-Pierre-Jeunet-Film nicht als visuelle Überwältigungs-Satire, sondern fast leise.
"Die Karte meiner Träume" - Ein Roadmovie durch das Fantasie-Amerika von Jean-Pierre Jeunet. Die Reise des hochbegabten Zehnjährigen von seiner elterlichen Ranch in Montana in die Hauptstadt Washington, wo er einen Wissenschaftspreis abholen will. Nur weiß das Smithsonian Institute nicht, dass der geniale Erfinder eines perpetuum mobile ein Junge ist. Magisch wird dieser Film, weil sich die 3D-Bilder mit der Geschichte seines jungen Helden verbinden, der nicht nur einen großen Koffer bei sich hat, sondern auch die traumatische Erinnerung an den Tod seines Zwillingsbruders.
Platz 3: "Boyhood" von Richard Linklater. USA 2014
Einen Film über Kindheit machen. Aber wie? Und dann die Idee, sagt Richard Linklater, mit den gleichen Schauspielern jedes Jahr immer wieder ein Stück zu drehen. Würde das als Film funktionieren? Antwort: Es funktioniert. Und wie! "Boyhood" - ein Meisterwerk, wunderschön.
as erste Bild: Der Junge, sechs Jahre alt, liegt im Gras, schaut verträumt in den blauen Himmel von Texas. Am Ende von "Boyhood" ist Mason achtzehn, im College, das erste Mal verliebt. Für seinen Film "Boyhood" hat Richard Linklater zwölf Jahre lang mit denselben Schauspielern jedes Jahr gedreht. Natürlich ist Kino immer das Medium, das uns zuschauen lässt, wie Zeit vergeht. Doch es ist faszinierend, in "Boyhood" der Vergänglichkeit auch in einer solch biologischen Dimension beizuwohnen. 164 Minuten ist dieser Film lang. Wie schnell Kinozeit vergehen kann, wenn sie so erzählt wird.
"Das waren vielleicht abgefahrene Zeiten. Alter!"
Platz 2: "Wir sind die Neuen" von Ralf Westhoff. Deutschland 2014.
Tja, das Alter. Ralf Westhoffs Geschichte über die alten Leute - Gisela Schneeberger, Heiner Lauterbach, Michael Wittenborn -, die nach 35 Jahren erneut in einer WG zusammen ziehen und Nachbarn einer Wohngemeinschaft junger Leute werden, ist sehr komisch. Und gleichzeitig zeichnet Ralf Westhoff präzise strukturelle Wandlungen nach. Anne schiebt nämlich Nostalgisches vor, aber freiwillig will sie nicht wieder mit Eddi und Johannes zusammen ziehen.
"Johannes, ich muss aus meiner Wohnung raus, und ich kann mir diese Scheiß-Stadt nicht leisten. Ich brauche diese Wohnung, und ich brauche euch. Zufrieden!"
Natürlich ist es komisch, dass am Ende die jungen WG-Bewohner die Spießer, die alten Nachbarn hingegen die Freaks sind. Aber Ralf Westhoffs Humor hat auch viel Melancholisches, weil er durchtränkt ist von Realität.
Platz 1: "Monsieur Claude und seie Töchter" von Philippe de Chauveron. Frankreich 2014
Der Notar aus der Provinz mit den vier Töchtern, drei sind schon verheiratet mit einem Araber, einem Juden und einem Chinesen. Als Monsieur Claudes Tochter Nummer vier ankündigt, einen Katholiken heiraten zu wollen, ist Monsieur erleichtert. Aber dieser Katholik stammt - was Töchterchen zunächst verschweigt - von der Elfenbeinküste. Ist also schwarz! Monsieur Claude würde alles tun, um diese Heirat zu verhindern. Der Schwiegersohn Nummer vier - in spe - ist entnervt:
"Ein Chinese, ein Jude, ein Araber werden akzeptiert. Aber ein Schwarzer."
"Monsieur Claude und seie Töchter" ist eine Multikulti-Satire, aber in ihrer Perfektion zu glatt. Klar liegen sich da alle in den Armen, die Weißen, die Schwarzen, die Gelben, die mit Kippa oder ohne. Die beruhigende Message dieser französischen Sozialkomödie, dass wir doch alle irgendwie ein bisschen Rassisten sind, kann einem schon quer liegen. Aber was tut man nicht alles, um den Komödien-Let´s feel good-Kosmos am Ende rund und stromlinienförmig zu schleifen. Böser wäre deutlich besser gewesen, Monsieur Chauveron.