"Charlotte Salomon: Leben? oder Theater?"

"Es ist mein ganzes Leben"

Buchcover von "Charlotte Salomon. Leben? oder Theater?"
"Seelendrängerisch" – so beschrieb Charlotte Salomon selbst ihr Werk. © Taschen Verlag
Von Eva Hepper · 06.12.2017
Szenen, Texte, Dialoge und Musikanweisungen - wenige Jahre vor ihrer Ermordung in Auschwitz erschafft Charlotte Salomon das einzigartige Gesamtkunstwerk "Leben? oder Theater?". Zu ihrem 100. Geburtstag zeigt ein prächtiger Bildband einen Ausschnitt daraus.
Sie war 23 Jahre alt, als sie an der südfranzösischen Küste sitzend ihr Leben Revue passieren ließ: die Kindheit im Berlin der 20er-Jahre, den frühen Tod der Mutter, die Bedrohung durch die Nationalsozialisten, die Flucht 1938 aus Deutschland, das Leben mit den Großeltern nahe Nizza und den Selbstmord der Großmutter.
Als Charlotte Salomon 1940 aufs Meer und in ihre Vergangenheit blickt, verheißt auch die Zukunft nichts Gutes. Die junge Frau weiß, dass sie als Jüdin in Südfrankreich nicht mehr sicher ist. Sie beschließt daher "etwas ganz Verrückt-Besonderes zu unternehmen" und schafft in den folgenden zwei Jahren das einzigartige Gesamtkunstwerk "Leben? oder Theater?". Als autobiografisch angelegtes Singspiel entfaltet es sich in 769 Gouachen – mit gemalten Szenen, Texten, Dialogen und Musikanweisungen.

Autobiografisch angelegtes Singspiel

"Sorg gut dafür, es ist mein ganzes Leben!" Mit diesen Worten übergab Charlotte Salomon, die in Berlin bis 1938 Kunst studiert hatte, den Bilderzyklus einem Freund. Kurze Zeit später wurde sie, frisch verheiratet und im fünften Monat schwanger, deportiert und im Oktober 1943 in Auschwitz ermordet. Im Jahr ihres 100. Geburtstags wird die Künstlerin nun mit verschiedenen Publikationen geehrt; darunter ein prächtiger Bildband mit einer Auswahl von 450 Gouachen aus ihrem beispiellosen Werk.
Es sind grandiose Bilder, die sich in dem leinengebundenen, backsteindicken und –schweren Buch studieren lassen. Hochwertig gedruckt entwickelt sich die gemalte Geschichte von "Leben? oder Theater?", die Autobiografisches und Fiktives miteinander verwebt. Salomon nutzt verschiedene Genres und mischt comicartige Elemente, mit reinen Texttableaus und filmischen Szenen. Sie erzählt in verschiedenen Perspektiven, mit Zeitsprüngen und Rückblenden und malt in einer Bildsprache - mal expressiv, mal naiv, mal ganz modern -, die an Künstler wie die Brücke-Maler oder Edvard Munch erinnern und auch zeitgenössische Positionen wie die eines Martin Kippenberger oder einer Maria Lassnig vorwegzunehmen scheinen.

Ein herausragendes Kunstwerk

Tatsächlich ist "Leben? oder Theater?" – anfangs vor allem als Dokument eines Opfers des Holocausts betrachtet – längst als herausragendes Kunstwerk anerkannt. Judith C. E. Belinfante, bis 2017 Leiterin der Amsterdamer Charlotte-Salomon-Stiftung, und die Kuratorin Evelyn Benesch beschreiben in ihren den Bildtafeln vorangestellten Essays dann auch die erstaunliche "Überlebensgeschichte" des Werks und seine Rezeption seit der Erstpräsentation 1961. Eine ausführliche Biografie der Künstlerin und ein Werk-Kommentar machen das Singspiel in all seinen Dimensionen lesbar; als Geschichte einer assimilierten großbürgerlichen jüdischen Familie zwischen 1913 und 1940, als Zeitgeschichte und als künstlerische Selbsterforschung.
"Seelendrängerisch" – so beschrieb Charlotte Salomon selbst ihr Werk, das sie als 23-Jährige mit Blick aufs südfranzösische Meer ihrem bedrohten Leben abrang. In diesem klug ausgewählten und lesenswerten Bildband lässt es sich umfassend bestaunen.

Judith C. E. Belinfante/Evelyn Benesch: Charlotte Salomon. Leben? oder Theater?
Übersetzt von Marlene Müller-Haas
Taschen Verlag, Köln 2017
600 Seiten, 30 Euro

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