Charismatischer Lehrer Indiens

Shri Ramakrishna lebte im Indien in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu interessanten Zeiten: Aus der Mischung von britischer Kolonialherrschaft und eigenen kulturellen Traditionen entstand der sogenannte Neo-Hinduismus. Martin Kämpchen übersetzt die „Gespräche“ in einer plastischen Sprache und macht sie mit einer biografischen Einführung, engagierten Forschungsposition und hilfreichen Glossaren auch dem nicht-indologischen Leser zugänglich.
Shri Ramakrishna lebte in der Mitte des 19. Jahrhunderts – er starb 1886 – und er lebte in interessanten Zeiten: Das britische Empire baute seine Kolonialherrschaft in Indien aus, gleichzeitig entdeckte Indien die eigenen kulturellen Traditionen. Die Einflüsse vermischten sich, Neues entstand, auch in der Religion: Der sogenannte Neo-Hinduismus entstand. Er reagierte zum Beispiel auf das Konzept der Menschenrechte oder auf christliche Einflüsse. Genau an diesem Umschlagpunkt stand Shri Ramakrishna.

Shri Ramakrishna lebte die längste Zeit seines Lebens in einem Tempel in Dakshineshvar, der der Göttin Kali geweiht war. Ein regulärer Priester war er eigentlich nicht. Denn er suchte so intensiv nach Ekstase und Gotteserfahrung, dass er gar keinen regelmäßigen Gottesdienst halten konnte.

Ramakrishna blieb zeit seines Lebens im traditionellen Hinduismus verwurzelt. Er feierte Feste, Rituale, pflegte traditionelle Lieder – und vertrat doch auch eine Lehre, die zwar die Entscheidung für einen Gott, einen Glauben forderte, dabei aber immer betonte: Andere Götter oder Glaubensrichtungen werden dadurch nicht entwertet.

Ramakrishna hatte dabei seine ganz eigene Form des Herangehens. Er hörte zum Beispiel über umherziehende Pilger von Jesus Christus – der dann Teil seines religiösen Erlebens wurde. Ramakrishna hatte eine inbrünstige Vision von eben diesem Christus. Seine Anhänger formierten sich schon bald nach seinem Tod zu einer Ordensgemeinschaft, der Ramakrishna Mission, die seine Lehre auch in die westliche Welt trug.
Ob Shri Ramakrishna nun einfach ein besonders charismatischer Lehrer war, oder mehr – darüber streiten sich die Gelehrten. Hatte Ramakrishna den Status des Avatara, einer Herabkunft Gottes in die Welt? Seine Anhänger sagen ja. Entscheiden lässt sich das natürlich nicht. Auch Übersetzer Martin Kämpchen macht das nicht, redet aber oft respektvoll von einem Heiligen.
Ramakrishna war verheiratet, lebte aber wie ein Mönch. Vor allem aber blieb er zeitlebens dem Dorfleben verhaftet, auch in seiner Sprache, denn er kam aus einem kleinen Dorf, aus einer Kleinbauernfamilie. Deswegen geht es in seinen Gesprächen auch durchaus mal derb zu. Sie sind kurze Dialoge zwischen Shri Ramakrishna und verschiedenen Gesprächspartnern, selten länger als eine Seite. In der Form einer Anekdote, als Lehrgespräche: der Schüler stellt eine Frage, der Meister reagiert. Oder der Meister selber stellt Fragen und reagiert auf Antworten und Reaktionen.

Das zentrale Thema ist die Suche nach einem Leben in wahrer Gottesliebe.
Autor ist nicht Ramakrishna selber, sondern ein Schüler, Mahendranath Gupta. Der war britisch gebildeter Lehrer in Kalkutta und besuchte Ramakrishna in dessen letzten Lebensjahren, so oft es ging. Von den Gesprächen machte er Notizen, übertrug sie dann wieder in ausformulierte Gespräche, manche allerdings erst Jahrzehnte später. Authentizität ist also durchaus ein Problem für die Anhänger Ramakrishna.
Immerhin ist man als deutschsprachiger Leser mit dieser neuen Edition, die eine sehr üppige und chronologische Auswahl bietet, ganz gut dran, sagt zumindest Herausgeber und Übersetzer Martin Kämpchen. Die englische Übersetzung, die auf dem Markt ist, sei nämlich trocken, ungenau, glätte die bäuerliche Direktheit und fange deswegen die Ausstrahlung des Meisters kaum ein. Anders Kämpchens eigene Übersetzung direkt aus dem bengalischen Original: Sie ist kräftig in der Sprache und sehr plastisch.

Unerlässlich für die Lektüre ist der Anhang. Er umfasst ein Viertel des Buches, und mit ihm macht Übersetzer Martin Kämpchen die Gespräche nicht-indologischen Lesern überhaupt erst zugänglich: Mit einer knappen biografischen Einführung zu Shri Ramakrishna, den Grundzügen seiner Lehre, Informationen zu den Quellen, einer sehr engagierten Position zur Forschungslage und mehreren hilfreichen Glossaren.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Shri Ramakrishna: Gespräche mit seinen Schülern
Aus dem Bengalischen übersetzt und herausgegeben von Martin Kämpchen,
Verlag der Weltreligionen 2008,
413 Seiten, 32 Euro