Charisma ist nicht alles

Von Peter Frei |
Barack Obama hat es: Charisma. - Man darf auch auf der zweiten Silbe betonen - Cha-ris-ma. Winston Churchill, John F. Kennedy, Tito und Charles de Gaulle hatten es, und Michail Gorbatschow hat es noch. Näher zuhause wird man Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Schmidt Charisma zubilligen können. Die Liste ist nicht vollständig und durchaus subjektiv.
Was Charisma ausmacht, darüber zerbrechen sich Soziologen seit Generationen den Kopf, so auch der Deutsche Max Weber. Als Filtrat seiner und anderer Denkanstrengungen ist Charisma so etwas wie die ganz besondere Ausstrahlung einer Persönlichkeit in ihrer Wechselbeziehung zu Menschen, heutzutage besonders im Politischen.

Dabei ist Charisma keine Garantie für erfolgreiche Politik im Interesse eines Volkes, das sich von dieser Strahlkraft in den Bann schlagen lässt. Hitler und Stalin hatten auch charismatische Züge, mit denen sie ihre und andere Völker zu Opfern und Handlangern einer menschenverachtenden, mörderischen Politik machten.

Margret Thatcher ist vor 30 Jahren auf der Woge ihres Charismas in die Downing Street Nummer 10 eingezogen. Die Eiserne Lady Großbritanniens begann sofort gegen erbitterte Widerstände vor allem der Gewerkschaften die Wirtschafts- und Finanzpolitik umzukrempeln, zunächst zum Besseren. Margret Thatcher hatte allerdings auch Fundamente für den entfesselten Wirtschaftliberalismus, den sogenannten Turbokapitalismus gelegt, dem jetzt die Jetons am Spieltisch des Welt-Rouletts ausgehen. Charisma ist eben keine Garantie für weitsichtige Politik.

In diesen Tagen fällt auf, dass dem SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier Mangel an Charisma aus dem gegnerischen Lager vorgehalten wird, gelegentlich auch geflüstert in den eigenen Reihen. Das hat Methode. Wenn ich schon die Sachkompetenz des Kandidaten nicht ernsthaft in Frage stellen kann, dann muss ich versuchen, ihn auf andere Weise als Kanzleranwärter zu deklassieren: Er hat eben kein Charisma! So einfach. Es ist der nicht immer untaugliche Versuch, einen Kandidaten oder eine Kandidatin abzuwerten. weniger in der Sache vielmehr als Spekulation auf dumpfe Instinkte von Wählern.

Erinnern wir uns an Versuche, einen hochkarätigen Politiker allgemein und Spitzenmann der SPD speziell, Hans-Jochen Vogel, herabzustufen. Weil die überzeugende Kompetenz Vogels politischen Gegnern zu wenig Angriffsfläche bot, wurde ihm kurzerhand Humor abgesprochen. Das ist einer der gemeinsten Tiefschläge überhaupt, den man gegen einen Mitmenschen austeilen kann. Mitmensch bleibt auch der politische Gegner. Jemandem überhaupt keinen Humor zuzugestehen ist zutiefst unfair. Humor – und wenn auch nur in Quäntchen - hat jeder Mensch, manchmal offensichtlicher, manchmal eher versteckt. Charisma muss nicht jeder haben.

Es mag ja zutreffen, dass Frank-Walter Steinmeier kein Charisma hat. Aber ist das so wichtig für die Qualifikation zum Kanzleramt? Auch Angela Merkel ist keine charismatische Persönlichkeit. Sie hat Charme und ihren Amtsbonus als Kanzlerin. Das ist etwas Anderes. Als gelernte Physikerin bearbeitet sie Probleme mit der Ratio einer Naturwissenschaftlerin, für manchen ihrer Freunde und Gegner zu sehr in Zeitlupe. Wie würden wir aber ohne den besonnenen Pragmatismus von Merkel, Steinmeier, Steinbrück und neuerdings auch zu Guttenbergs in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise dastehen? Kühle Rechner, Leute mit Überblick, Erfahrung und Entscheidungskraft sind gefragt. Charisma wäre nur eine willkommene Zugabe, um eine Sache nachdrücklicher vertreten zu können, vorausgesetzt, die Sache ist gut. Und da sind wir wieder bei Barack Obama.

Peter Frei, Jahrgang 1934, war zunächst Redakteur bei der "NRZ". 1962 ging er zum Deutschlandfunk und 1967 nach Baden-Baden zum SWF. Er war zehn Jahre lang Korrespondent in London, danach in Bonn, von 1991 an Chefredakteur des SWF und von 1993 bis 1998 sein Hörfunkdirektor.
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