Chaos im Kopf

20.03.2009
Helene Wesendahl muss nach drei Wochen Intensivstation ihr Leben neu beginnen und die Erinnerung an ihr altes wiederfinden. Die Protagonistin von Kathrin Schmidts Roman "Du stirbst nicht" braucht dafür Zeit, und die Autorin hat für diesen Prozess einen überzeugenden Ton gefunden.
Was sie hört, kann sie zunächst nicht deuten, und was sie sieht, darauf kann sie sich keinen Reim machen. Die Welt, in der Helene Wesendahl erwacht, ist ihr fremd. Personen, die an ihr Bett treten, kümmern sich um sie, aber warum sie es tun, erklärt sich ihr nicht.

Ein Mann, den sie nicht kennt, überschreitet ungeniert die Grenzen der Intimität. Sie würde sich gern wehren, kann sich aber kaum bewegen, weil sie mit Schläuchen an Apparate angeschlossen ist. Der Wunsch, den Arm zu heben, bleibt ein aussichtsloses Unterfangen.

Drei Wochen Intensivstation liegen hinter ihr, als Helene anfängt, sich ihrem Leben zu nähern. In einem Rollstuhl fährt sie ans Ende eines Ganges, und ihr fällt Indien ein, aber sie kommt nicht auf das Nächstliegende. In ihrem Kopf herrscht nach einem Aneurysma, einer Hirnblutung, Chaos. Sie muss Ordnung schaffen, wenn sie wissen will, was ihr passiert ist. Deshalb wird sie die vergangenen Jahre Jahr für Jahr ablaufen und sich im Erinnern üben.

Kathrin Schmidts neuer Roman handelt von den Schwierigkeiten der Erinnerungsarbeit. Sprache steht ihr dabei nicht selbstverständlich zur Verfügung. Dies ist ein Unterschied zu ihrem Romandebüt "Die Gunnar Lennefsen-Expedition". Von barocker Fabulierlust war die Rede, als das Buch 1998 erschien.

In den vergangenen Jahren hat Kathrin Schmidt mit Romanen wie "Koenigs Kinder" (2002) und "Seebachs schwarze Katzen" (2005) ihr außerordentliches poetisches Vermögen bestätigt. Doch ihr neuer Roman muss auf überbordende Fantasie verzichten und sich auf die Fakten konzentrieren.

Helene, die zentrale Figur, ist wie Kathrin Schmidt Schriftstellerin. Ohne ich zu sagen, verarbeitet Kathrin Schmidt in diesem Roman ihre eigene Krankheitsgeschichte. Doch der Roman ist keine Autobiografie.

Helene Wesendahl unternimmt Versuche, sich zurechtzufinden. Zunächst, indem sie sich in ihrer eigenen Lebensgeschichte orientiert. Wollte sie den Mann, der sich jetzt fürsorglich um sie kümmert, nicht vor ihrer Krankheit verlassen? Dann weitet sie die Erinnerungsarbeit aus, sucht sie nach Haltepunkten in der Welt, die als Orientierungshilfe dienen könnten: Was waren damals eigentlich die Gründe für den Einmarsch der Amerikaner in Afghanistan?

Kathrin Schmidt hat eine Krankheitsgeschichte geschrieben, in der sich die Protagonistin langsam in die verschütteten Bereiche ihres Erinnerungsvermögens vorarbeitet. Aber das Erzählen bleibt nicht auf diese Darstellungsebene beschränkt, denn beim "Durchlaufen" der Jahre wird Geschichte aufgearbeitet.

Kathrin Schmidt hat für diesen Roman einen überzeugenden Ton gefunden. Helenes Vorgehensweise braucht Zeit, sie kommt nur langsam voran. Es ist eine Expedition, bei der sie sich über Fehler ärgert und über kleinste Erfolge freut, denn sie entdeckt brachliegende Gebiete ihres Lebens neu. Je tiefer sich Helene ins Vergangene vorarbeitet, desto besser gelingt es ihr, sich im Gegenwärtigen zu orientieren. Durch den Blick zurück eröffnet sie sich Zukunft.

Ein überzeugender Roman einer Autorin, die es versteht, ihre sprachlichen Mittel spielend zu variieren. Sie sucht und findet die sprachliche Form, die notwendig ist, um die Geschichte erzählen zu können, die sie erzählen will. Es zeichnet die Autorin Kathrin Schmidt aus, dass sie es immer wieder versteht, neue, unbekannte Töne in ihren Texten anzuschlagen.

Rezensiert von Michael Opitz

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
348 Seiten, 19,95 Euro