Chantal Akerman: "Meine Mutter lacht"

Ein großes Abschiedsbuch

05:42 Minuten
Auf dem Buchcover "Meine Mutter lacht" von Chantal Akerman stehen der Buchtitel und der Name der Autorin
© Diaphanes Verlag

Chantal Akerman

Übersetzt von Claudia Steinitz

Meine Mutter lachtDiaphanes, Zürich 2022

208 Seiten

22,00 Euro

Von Manuela Reichart · 19.01.2023
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Die belgische Filmemacherin Chantal Akerman protokollierte die letzte Zeit, die ihr mit der Mutter geblieben war. Sie erinnert sich in "Meine Mutter lacht" an die Qual der Liebe, an verlorene und wiedergefundene Frauen ihres Lebens.
Gerade ist der Film, mit dem Chantal Akerman 1975 berühmt wurde („Jeanne Dielmann, 23, Quai du commerce, 1080 Bruxelles“) zum besten Film aller Zeiten erklärt worden. In der Umfrage, die alle zehn Jahre von der britischen Zeitschrift „Sight and Sound“ durchgeführt wird, rangierten gewöhnlich Alfred Hitchcock oder Orson Welle an erster Stelle.
Leider hat Chantal Akerman diesen Triumph nicht mehr erlebt. 2015 hat sie sich das Leben genommen. In ihrem Erinnerungsbuch, in dem sie die letzte Lebenszeit ihrer Mutter protokolliert, heißt es an einer Stelle: „… ich hatte oft Lust, mich umzubringen. Aber ich sagte mir, das kann ich meiner Mutter nicht antun. Später, wenn sie nicht mehr da ist.“

Spurensuche nach Liebe

Dieses genau durchkomponierten Tage- und Erinnerungsbuch (im Original 2013 erschienen) sollte man gleichwohl nicht als den Suizid erklärendes Werk lesen. Es ist vielmehr eine Liebesspurensuche. Die bewunderte Mutter wird nicht mehr lange leben, sie ist auf Hilfe angewiesen, täglich kommen in ihre großzügige Brüsseler Wohnung wechselnde Haushaltshilfen, die einkaufen und kochen, ihr bei der Körperpflege helfen.
Sie kann ihr tägliches Bad nicht mehr nehmen, seit sie sich die Schulter gebrochen hat. Sie kann überhaupt vieles nicht mehr, was zu ihr gehörte: Nicht mehr lesen, nicht mehr reisen, kein Brot mehr kauen. Es ist ein langsamer Abschied von den Gewohnheiten. Und es ist ein langsamer Abschied der beiden Töchter von der Mutter.

Gegenwart und Erinnerungen

Die belgische Filmemacherin und Drehbuchautorin verknüpft eindrucksvoll die Gegenwart der hilfsbedürftigen Mutter mit Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an die ewigen Ermahnungen, sie möge sich doch ordentlich anziehen, nicht so anders sein. Denn das war Chantal Akerman immer schon: anders.

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Sie erzählt von der Enttäuschung ihres Vaters, als er begreift, dass seine älteste Tochter Frauen liebt, vor allem aber von den eigenen Liebesirrtümern, der erfüllenden Sehnsucht und der Qual der falschen Entscheidung, von den Depressionen, der Schlaflosigkeit. Die Liebesgeschichte mit einer viel jüngeren Frau beginnt hoffnungsfroh, entwickelt sich jedoch zum reinen Horror.

Lachen als Maske

Vor allem aber geht es in diesem Buch immer wieder um die Sprachlosigkeit der Eltern, die Weigerung der Mutter, über den Holocaust zu sprechen, dem sie knapp entkommen, dem ihre Familie zum Opfer gefallen ist. Der auf der Tochter lastet.
Das Lachen der Mutter – und auch das der Autorin – ist deswegen nur selten Ausdruck von Unbeschwertheit und Freude. Viel häufiger ist es eine Maske, hinter der sich Traurigkeit verbirgt – und eine Wahrheit, die nicht ausgesprochen werden soll.

Ein Satz macht sie sprachlos

Und dann gibt es noch den Satz, der die Tochter sprachlos macht, der ihr aber auch das eigene Leben und Suchen erklärt. Die Mutter hatte bei einer Filmvorführung im Publikum gesessen, zwar nichts hören können, weil ihr das Gerät in den Ohren weh tat, aber immerhin die Bilder gesehen und die Tochter, die nach dem Abspann unter Applaus auf die Bühne geholt wurde.
Danach wird sie von ihrem Enkel mühsam ins Auto gehoben, in dem Chantal Akerman schon sitzt und: „Sie sagte, meine Töchter haben das alles. Ich hatte nichts außer den Lagern. Es war das erste Mal, dass sie das sagte. Sonst sagte sie immer, dass sie zufrieden ist und dass das wunderbar ist … “
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