Chancen und Versäumnisse deutscher Vereinigungspolitik

Vorgestellt von Geert Müller-Gerbes · 03.10.2005
Unzufrieden ist er, der Altkanzler Helmut Schmidt. Enttäuscht ist er mit dem bisher Erreichten auf dem Weg zur deutschen Einheit. Und einsichtig ist er sowieso - und sei es in die Lehre von Karl Marx, dass das ökonomische Sein das Bewusstsein bestimmt. Wenigstens teilweise.
Und weil Helmut Schmidt schon immer ein Ungeduldig war, sich aber mehr und mehr einer bewundernswerten Altersweisheit nähert, hat er jetzt ein bemerkenswertes Buch vorgelegt. Sechzehn Reden und Schriften aus anderthalb Jahrzehnten zum Thema deutsche Einheit - aus eigener Feder, versteht sich - hat er zusammengetragen und mit einem aktuellen Nachwort versehen. Es ist ein spannendes Dossier der Chancen und Versäumnisse deutscher Vereinigungspolitik geworden, warmherzig und bissig, analytisch scharf und weitsichtig, mäßig vorwurfsvoll und mit einer klar umsetzbaren Zukunftsperspektive.

Schon im Dezember 1989 schrieb er in der Zeit:

"Wahrscheinlich werden eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage in der DDR und das wirtschaftliche Gefälle den Wunsch mindestens nach einem gemeinsamen wirtschaftlichen Dach bald erstarken lassen. Wir Westdeutschen werden dazu bereit sein. Viele von uns werden das Wort "Wiedervereinigung" vermeiden; denn was bedeutet "wieder"? Wir wollen ja nichts "wieder" so wie zu Hitlers Zeiten, auch nicht wie anno Weimar, auch nicht wieder wie in der Wilhelminischen Epoche. "

Hat sich an dieser Einschätzung nur ein Deut verändert? Die Frage ist müßig und die Aussage aktuell wie vor fast sechzehn Jahren.

Helmut Schmidt beklagt sehr, dass die Vereinigung Deutschlands nicht auf vorhandenem Wissen aufbaute, ja, dass ganze Bibliotheken missachtet wurden, auch die Vorschläge seiner eigenen Partei:

"Keiner der Vorschläge, die in den Deutschland-Plan der SPD von 1959 Eingang gefunden hatten, wurde drei Jahrzehnte später realisiert; vermutlich wussten die Zuständigen in Bonn und in Ost-Berlin 1989/90 nicht einmal, dass es solche Überlegungen überhaupt gegeben hatte. Genauso wenig schienen sie sich für die Erkenntnisse zu interessieren, die seit den frühen fünfziger Jahren im zuständigen Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen - inzwischen umbenannt in "Ministerium für innerdeutsche Beziehungen" - für den Tag X zusammengetragen worden waren. "

Helmut Schmidt beklagt vielerlei Ungeschicklichkeiten und Taktlosigkeiten im Umgang der Deutschen miteinander und sagt das deutlich:

"Es ist ja selbst für einen im Westen geborenen und dort aufgewachsenen jungen Menschen nicht leicht, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, in der Freiheit zwangsläufig immer auch Ellbogenfreiheit bedeutet. Die Menschen in den ostdeutschen Ländern fühlen sich häufig von denen aus der alten Bundesrepublik bevormundet. Es scheint vielen, als solle gar nichts von dem mehr gelten, was ihnen vierzig Jahre lang lieb und teuer und normal gewesen ist, und als sollten sie sogar die Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte plötzlich den Westdeutschen überlassen. "

Ganz der bissige Schmidt wird erkennbar, wenn er den Blick nach Berlin lenkt:

"Eine politische Führung, die der Nation - weil doch Wahlen bevorstehen - nur das sagt, was das Volk gern hören möchte (oder was sie glaubt, dass das Volk es gern hört) -‚ eine Regierung verdrängt Wahrheit und Wirklichkeit und spätere Enttäuschungen. Zur Wahrhaftigkeit hätte gehört, den Ostdeutschen die unvermeidlich bevorstehende Arbeitslosigkeit vorherzusagen und zu erklären. "

Was also ist zu tun?

Helmut Schmidt listet auf: Kein Aufholen der ostdeutschen Wirtschaft in absehbarer Zeit in Sicht, kein Ende der Arbeitslosigkeit im Osten, keine Steigerung der dringend nötigen Wertschöpfung. Daraus folgert er ganz konkret, dass er zunächst darum gehen muss, im Osten hinderliche Vorschriften zu beseitigen. Und so kann es gehen:

"Dafür müssen im Grundgesetz und durch Bundesgesetz die sechs ostdeutschen Landtage ermächtigt werden, durch Landesgesetzgebung vom bisher geltenden Bundesrecht abzuweichen - so im Bau- und Planungsrecht, im Arbeitsrecht, im Wirtschaftsrecht und so weiter; detaillierte Vorarbeiten liegen der Bundesregierung und den 16 Ministerpräsidenten seit Jahr und Tag vor. "

Des weiteres fordert Schmidt eine Halbierung der Mehrwertstreuer bis zum Jahre 2020 und schließlich greift er drittens erneut den Vorschlag auf, im Osten Deutschlands die Förderung auf Schwerpunkte zu konzentrieren.

Diese drei Überlegungen stellt er an den Schluss seines Buches und schreibt mit einer Naivität, als wäre er selbst nie Bundeskanzler gewesen, dass die ganze politische Klasse diese drei Ratschläge aufgreifen sollte. Wenn nicht - Gnade uns Gott. Recht hat er natürlich, und wie. Aber ob es hilft?

So bestürzend lesenswert das Buch auch ist, so viele Wahrheiten es auch enthält, so dringend nötig derartige Mahnungen auch sind: sie müssen umgesetzt werden. Vielleicht hätte Helmut Schmidt ja erreicht, was er wollte, wenn wenigstens einer es läse und beherzigte, der auch politische Verantwortung trägt.

Helmut Schmidt: Auf dem Weg zur deutschen Einheit
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005