Chancen und Grenzen der Medizin

Die pensionierte Vierlingsmutter - das muss man aushalten!

Symbolbild für Frühgeburten aus der Kinderklinik Dritter Orden in Passau
Babyfläschchen für Vierlinge in einer Klinik © dpa / picture alliance / Waltraud Grubitzsch
Von Nikolaus Nützel · 15.06.2015
Eine pensionierte Lehrerin, die bereits 13 Kinder hat, wird mit medizinischer Hilfe wieder schwanger. Die 65-Jährige bringt Vierlinge zur Welt, die Babys kommen viel zu früh. Klingt egoistisch und riskant - oder steht uns es gar nicht zu, das zu bewerten?
Vielleicht wäre es am klügsten, jetzt einfach ein paar Minuten Stille auf den Sender zu geben.
Ein solches Sendeloch ist natürlich undenkbar. Schon zwei oder drei Sekunden Stille hält man im Radio kaum aus. Doch wer etwas über den Fall der pensionierten Lehrerin nachdenkt, die im Alter von 65 Jahren Vierlinge auf die Welt gebracht hat, kommt schnell zu dem Ergebnis: Die Sache ist so irre, dass man aus ihr nur mit Mühe etwas lernen kann über wichtige Fragen zu Medizin und Ethik, die dieser Fall durchaus aufwirft.
Deswegen wäre es möglicherweise besser, darüber gar nicht mehr zu berichten. Damit würde man auch das trockenlegen, was an der Angelegenheit besonders schwer erträglich ist: Die mediale Verwertungsmaschine, die der Privatsender RTL angeworfen hat, als er die Exklusivrechte für die Berichterstattung kaufte.
Weil aber Schweigen in der Mediengesellschaft nicht möglich ist, bleibt nur eine andere Option: Die besteht darin, der Frage nachzugehen, ob sich aus dem Fall der Vierlingsmutter etwas lernen lässt?
Eine Antwort auf diese Frage findet sich, wenn man sich anschaut, was die 65-jährige über die Bild-Zeitung verbreiten ließ. Dort behauptete sie, die ganze Sache gehe nur sie alleine etwas an.
Die Probleme waren zu erwarten
Darüber kann man streiten. Denn es war erwartbar, dass eine künstlich herbeigeführte Schwangerschaft bei einer 65-Jährigen nicht problemlos in die Geburt eines gesunden Kindes mündet. Die pensionierte Lehrerin hat also die vor kurzem geborenen Frühchen von vorneherein einem beträchtlichen Gesundheitsrisiko ausgesetzt.
Weil sie 65 ist, weil sie vorher schon 13 Kinder hatte, weil die künstlich herbeigeführte Schwangerschaft dann zu sage und schreibe vier Embryonen führte, fällt es leicht zu sagen: Das geht nicht nur diese Frau etwas an, sondern die ist verantwortungslos, ist egoistisch. Und die Behandlungskosten der Kinder darf die Versichertengemeinschaft ihrer Krankenversicherung zahlen.
Wer in dieser Empörungsflut mitschwimmt, übersieht aber leicht das, was sich aus der Sache eben lernen lässt. Man kann lernen, dass die Möglichkeiten der modernen Medizin Fragen aufwerfen, bei denen wir es aushalten müssen, dass es keine einfachen Antworten gibt.
Die Empörung über die Vierlingsmutter dreht sich ja immer um die Vermutung, dass es gegenüber den Kindern unverantwortlich sei, wenn eine so alte Frau auf so unnatürliche Weise so viele Kinder zur Welt bringt.
Aber was ist dann mit einer 47-Jährigen, die auf traditionelle Weise schwanger wird? Bei Müttern dieses Alters ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind behindert auf die Welt kommt, weit größer als bei jungen Müttern. Handeln sie deshalb unverantwortlich?
Wo liegt die Altersgrenze?
Und was ist, wenn eine Frau nicht 47, sondern 52 ist, nur auf künstliche Weise schwanger werden kann, damit aber die Risiken heraufbeschwört, die auch bei der pensionierten Lehrerin eingetreten sind, also Mehrlinge, die zu früh auf die Welt kommen?
"65 Jahre sind zu alt, um Mutter zu werden!", sagen alle spontan. Aber ist 55 auch zu alt? Oder 45 Jahre? Das Bauchgefühl sagt: Irgendwo gibt es eine Grenze, die die pensionierte Lehrerin überschritten hat.
Aber festzulegen, wo genau diese Grenze liegt, ist unmöglich.
Und das ist das, was sich aus diesem Fall lernen lässt: Bei Fragen von Medizin und Ethik muss man sich immer wieder neu die Mühe machen herauszufinden, wo die Grenze zwischen falsch und richtig verläuft. Und egal, ob es um Sterbehilfe geht, um künstliche Befruchtung oder Diagnostik vor der Geburt – bei dem, der etwas länger nachdenkt, bleibt oft Ungewissheit, ob er richtig liegt.
Diese Ungewissheit muss man aushalten. Ob etwa die Vierlingsmutter wirklich komplett falsch gehandelt hat, wüsste man erst dann, wenn man alle vier jetzt geborenen jungen Menschen überzeugend sagen hören würde: "Wir wären lieber nie geboren worden."
Nikolaus Nützel arbeitet seit 1995 als Journalist und Sachbuchautor. In seiner journalistischen Arbeit hat er sich besonders auf Gesundheitspolitik spezialisiert. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Medienpreise, darunter den Publizistikpreis der Stiftung Gesundheit und zweimal die Auszeichnung "Bestes Junior-Wissensbuch" des österreichischen Wissenschaftsministeriums.
Der Journalist und Sachbuchautor Nikolaus Nützel.
Der Journalist und Sachbuchautor Nikolaus Nützel.© Isabelle Grubert
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