Chancen und Gefahren

06.11.2008
Kraft steht sowohl für technischen Fortschritt als auch für seine Gefahren. Der von Thomas Brandstetter und Christof Windgätter herausgegebene Sammelband "Zeichen der Kraft" widmet sich in dreizehn Beiträgen diesem Thema von Unfällen, Sprengstoff bis hin zu Attentaten.
Am 22. Oktober 1895 ereignet sich um 15.55 Uhr in Paris ein folgenschweres Unglück. Der Lokführer des Expresszuges Nr. 56 kann den in den Gare Montparnasse, einen Kopfbahnhof, einfahrenden Zug nicht rechtzeitig stoppen, sodass die Lok mit 45 km/Std die 1,25 Meter starke Stirnwand des Bahnhofs durchbricht und samt Tender auf die 10 Meter tiefer gelegene Straße fällt. Während sich der Lokführer und der Heizer retten können, stürzt die Eisenbahn auf einen Zeitungskiosk, dessen Eigentümerin dabei zu Tode kommt.

Der Unfall einer aus der Bahn geworfenen Lokomotive macht Geschichte. Viele andere technische Katastrophen folgen dieser, aber noch heute erinnern Reproduktionen an diesen eher harmlos verlaufenen Unfall, vergleicht man ihn mit anderen. Eine davon findet sich auch auf dem Umschlag des von Thomas Brandstetter und Christof Windgätter herausgegebenen Buches "Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900".

Es hält den Augenblick fest, in dem künftige Ahnungen versinnbildlicht scheinen. Denn, so die These von Windgätter, in diesem Bild zeigen sich die Chancen (Reisemöglichkeit mit der Eisenbahn) und die Gefahren des technischen Fortschritts (Unfall) zugleich.

Die "Kraft", die das 19. Jahrhundert als "Evangelium" begreift, hat eine mephistophelische Schattenseite. Diese dunkle Seite sind die technischen Katastrophen, die Abweichungen und ungewollten Ausnahmefälle. Wie Normalfall und Unfall, kontrollierte Kraft und Chaos ineinandergreifen, zeigen die Autoren des Sammelbandes.

In dreizehn Beiträgen wird danach gefragt, was es mit dem Paradigma "Kraft" im 19. Jahrhundert auf sich hat. Dabei wird über das Phänomen wie über eine Währung erzählt. Die Autoren konstatieren Preis und Folgekosten, wobei sie die "Kraft" nicht nur, was nahe läge, auf Fabriken beschränkt sehen, sondern ihr Wirken an ganz verschiedenen Orten (zum Beispiel in der Klinik, auf der Baustelle, im Turnzimmer) untersuchen.

Neben dem lokalen Aspekt spielt in den Texten auch das "Nutz- und Sichtbarmachen" der Kraft eine entscheidende Rolle. Thomas Brandstetter zum Beispiel erinnert in seinem Beitrag "Entfesselte Kräfte. Der Sprengstoff als Kulturtechnik der Moderne" daran, dass es durch den Einsatz von Sprengstoff leichter möglich war, Bauwerke wie den Gotthardtunnel zu realisieren. Doch mit dem umfangreichen Einsatz von Dynamit waren zugleich Gefahren verbunden, insbesondere Transport und Lagerung erforderten besondere Vorsichtsmaßnahmen. Der Sprengstoff hat neben dem zivilisatorischen Nutzen eine destruktive, gefährliche Komponente, die besonders deutlich wird, wenn er in die Hände von Terroristen gerät.

Der Terrorismus, auch ein Phänomen, das Ende des 19. Jahrhunderts entsteht, greift mit dem Sprengstoff zur "Waffe anarchistischer Gewalt" und wird zu einer Bedrohung der Zivilisation. Brandstetter sieht darin ein Zeichen für die "Verschränktheit von Normalfall und Unfall". Gerade diese Ambivalenz fordert das Zeitalter der "Kraft" heraus.

Hervorzuheben ist an den Beiträgen, dass sie unseren Blick auf ein Jahrhundert schärfen, das sich auf einer freudigen Fahrt in die Zukunft wähnte und bereits kurz nach Reiseantritt feststellen musste, dass zur Reise unvorhergesehene Unfällen gehören. Diese Epoche, die mit kraftvollem Schritt die Schwelle zum 20. Jahrhundert nehmen wollte, ist nicht nur voran, sondern gelegentlich auch ins Straucheln gekommen. Beiden Momenten wird in den gut lesbaren und interessanten Artikeln immer wieder besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Rezensiert von Michael Opitz

Thomas Brandstetter/Christof Windgätter (Hrsg.): Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900
Kulturverlag Kadmos Berlin, Berlin 2008
291 Seiten, 29,90 Euro