Celans einsame Jahre

Der ostjüdische Dichter Paul Celan (1920-1970) ist mittlerweile zu einem Symbol für alles und vielleicht auch nichts geworden - der Inbegriff für unverständliche Lyrik, eine Paradedisziplin für Germanisten, zudem das beliebig abrufbare Schulbeispiel für den Massenmord der Nazis an den Juden.
Celan begleitete die Rezeption der "Todesfuge" in Deutschland gerade deshalb mit großem Argwohn. Neben der offiziellen Celan-Verwaltung, die in den letzten Jahren unzählige Nachlass-Materialien herausgegeben hat, gibt es jedoch manchmal interessante Seitenblicke abseits der Hagiographie. Das erst jetzt auf Deutsch publizierte Buch des 1941 geborenen französischen Schriftstellers Jean Daive stammt aus dem Jahr 1996 und ist der fünfte Band eines Prosa-Opus mit dem Titel "La Condition d'infini" (etwa: "Die Voraussetzungen des Unendlichen"), der Untertitel lautet "Sous la coupole" ("Unter der Kuppel"). Der deutsche Untertitel "Erinnerungen an Paul Celan" ist ein Zusatz.

Die Person Celans in den letzten Jahren vor seinem Selbstmord taucht zwar immer wieder auf, es gibt detaillierte Einblicke in Celans Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn - doch Daives Text ist kein Porträt. Die biografischen Erkenntnisse über Celans einsame letzte Jahre sind nur ein Nebenaspekt. Daives lyrische Prosa besteht aus Gedankensplittern, Augenblicksskizzen und der zugespitzten, poetisch überhöhten Wiedergabe von Dialogen. Sie zielt in fragmentarischen Umkreisungen aufs Metaphysische. Daive, dessen Gedichtband "Weiße Dezimale" von Celan übersetzt worden ist, verfolgt das Metaphysische allerdings mit mathematischer Präzision - geometrische Formen und Linien sind zentrale Bestandteile seiner Bildwelt, und hier gibt es Überschneidungen mit Celans Vokabular.

Es entwickelt sich dennoch wie nebenbei eine Topographie des Celanschen Lebens im Pariser Quartier Latin. Im Mittelpunkt steht die Contrescarpe, die frühe Stadtbefestigung von Paris, und der nach ihr benannte kleine Platz entfaltet in Daives Prosa eine mythische Dimension, greift ins Existenzielle hinein, als Hügel der Zuflucht, auf dem einige Paulownien stehen, Bäume, die Celans Vornamen zitieren.

Daives hoher, enigmatischer Ton, der in der etwas ungelenken deutschen Übersetzung oft noch enigmatischer wirkt, beglaubigt die Einblicke in Celans späten Alltag: die Sehnsucht nach dem Osten (die bei Clochards und Zigeunern manifest wird) wie seine prekäre psychische Situation: "Die Meter, die uns trennen, sind ein Feuerwall. Ich sehe, dass er explodieren kann, trotz seines tadellosen, perfekt neutralen Benehmens." Daives Buch ist ein bedeutendes Zeugnis für Sprachnot und Sprachsuche, und speziell auch für die Quellen von Celans Dichtung und die Richtung seiner Interessen. Es hätte schon früher ins Deutsche übersetzt werden müssen.

Besprochen von Helmut Böttiger

Jean Daive: Unter der Kuppel. Erinnerungen an Paul Celan
Deutsch von Anke Baumgartner
Urs Engeler Verlag, Basel 2009
215 Seiten, 19 Euro