"Cattelan stirbt nie!"

Von Thomas Migge · 23.03.2009
Maurizio Cattelan scheint vor fast nichts zurückzuschrecken: So befestigte er einen Galeristen mit Klebeband an der Wand vor dessen Gebäude, einen anderen Galeristen steckte er in ein Peniskostüm. Morgen erhält der 48-jährige umtriebige Aktionskünstler einen Preis für sein Lebenswerk. Die Jury der Kunst-Quadriennale Rom ehrt ihn mit einem der wichtigsten italienischen Kunstpreise.
"Oh, mein Gott! Das ist ja Betsy. Eines seiner erschreckendsten Kunstwerke! Das gefiel mir sofort, und er sagte mir: Ich habe sie in den Kühlschrank getan, denn da hält sie sich am längsten."

Benjamin Brown ist immer wieder überrascht, wenn er seinen Kühlschrank öffnet. Darin hockt, lebensgroß, eine wie echt wirkende menschliche Figur: eine alte grauhaarige Frau, ein Werk von 2002. "Betsy" ist sicherlich eines der schockierendsten Werke des Italieners. Aber was ist es genau: ein Kunstwerk oder ein Witz oder beides zusammen?

Die Spannung zwischen den Definitionen - das ist der Raum, in dem sich Maurizio Cattelan bewegt. Ein komplexer Raum, in dem jede Bewegung garantiert irgendjemanden vor den Kopf stößt: die Gutmenschen, die Tierschützer, die katholische Kirche, die rechten Parteien und so weiter uns so fort.

Cattelan kratzt das alles herzlich wenig. Auch der wenig erfreuliche Umstand, dass er immer wieder Drohbriefe von aufgebrachten und sittenstrengen Bürgern erhält, lässt ihn kalt:

"Cattelan stirbt nie. Ich sterbe nie und werde auch weiterhin meine Wunderwerke schaffen. Meine Wunder sind doch in aller Munde."

Der 1960 im norditalienischen Padua geborene Italiener gibt sich geheimnisvoll und mysteriös. Dass er jetzt den Preis der römischen Quadriennale erhalten hat, ist sicherlich eine begrüßenswerte Entscheidung, denn Cattelan ist der wohl faszinierendste und überraschendste und provokativste Künstler, den Italien derzeit zu bieten hat.

Er ist Bildhauer, Manager seiner selbst und Allround-Künstler auf allen Gebieten. Wenn man ihn denn unbedingt definieren sollte, dann passt wohl am besten die Bezeichung "Post-Duchamp-Künstler". Maurizio Cattelan lebt zwischen Mailand und New York und hasst es, ganz normale Interviews zu geben:

"Cattelan stirbt noch nicht einmal als Toter, denn er ist bereits Teil des internationalen Kunstmarkts. Ich sterbe nie, weil ich von einem transnationalen Galerien- und Museensystem geschützt und wie ein rohes Ei behandelt werde, das mich in den höchsten Tönen lobt."

Kein anderer Künstler verschreckt Italiens bigotte Polit-, Gesellschafts- und Kunstszene wie dieser Provokateur. Fast riskierte er ein offizielles Verdikt des Vatikans: Stellte er doch Papst Johannes Paul II. als von einem Meteoriten getroffen dar. Das Werk von 1999 trägt den Titel "Die neunte Stunde".

Cattelan hängte riesige Präservative in Mailänder Bäume - und sorgte damit für hanebüchene Debatten pro und kontra, die bewiesen und beweisen, wie rückständig Italien immer noch in Sachen zeitgenössischer Kunst ist, die nicht nur nett daher kommt.
Cattelan frequentierte nie eine Kunstakademie. Ein purer Autodidakt. Seine künstlerische Karriere begann er in den 80er Jahren im nordostitalienischen Forli, wo er einige Künstler besuchte und von ihnen lernte. Seine Werke sind ein heterogener Mix aus Bildhauerei und Happening, aus Performance und Installation, aus Theaterstücken und Zerstörungsaktionen.

Vor Cattelans Fantasie ist nichts und niemand sicher. Selbst nicht sein Galerist Emmanuel Perrotin: Es gelang dem Künstler, Perrotin davon zu überzeugen, sich einen ganzen Monat lang in der Öffentlichkeit als Präservativ verkleidet zu zeigen. Eine Ohrfeige für die Kirche, die immer noch den Gebrauch von Gummis verurteilt.

2001 stellte er vor die größte sizilianische Mülllagerstätte bei Palermo ein gigantisches Schild auf, auf dem das Wort "Hollywood" zu lesen war: Cattelans ganz persönliche Kritik am kommerziellen US-Filmschaffen.

Zwei andere Werke Cattelans erschrecken Ausstellungsbesucher immer wieder und sind typisch für seine provokative Vorgehensweise. "Him" von 2001 zeigt einen knienden Hitler mit gefalteten Händen, und "Mother" von 1999 stellt zwei ebenfalls wie zum Gebet gefaltete Hände dar, die aus dem Erdreich kommen.

Cattelan nutzt Reales, Vorgegebenes und somit Allgemeinverständliches, bringt es aber in eine irreale Position - und offenbart damit das Irreale unserer Realität. Das Irreale unserer Realität als künstlerische Herausforderung - das macht den ganzen Reiz Cattelans aus:

"Cattelan stirbt nie, weil er politisch korrekt ist, das wollen die Gutmenschen und die Bigotten nur nicht begreifen. Ich sterbe schon deshalb nicht, weil ich zusammen mit der Kollegin Beecroft der Einzige in Italien bin, der etwas Bleibendes geschaffen hat."

Cattelan leidet nicht an mangelndem Selbstbewusstsein. Er kümmert sich nicht um die Meinungen seiner Mitmenschen und amüsiert sich dabei köstlich, denn er kann nicht verstehen, dass die Provozierten immer wieder auf seine Provokationen hereinfallen - was für ihn der Beweis dafür ist, wie dumm und bigott sie sind.

Witzig findet Cattelan, dass man sich auch über sein doch so lustiges Werk "Bibibidobidibu" fürchterlich aufregt: Zu sehen ist ein riesiges Eichhörnchen, das in einer Küche mit einer Pistole Selbstmord begangen hat. Patrizia Sandretto Re Rebaudengo aus Turin, eine der bekanntesten Kunstsammlerinnen Italiens, erwarb dieses Kunstwerk:

"Einige meinen, dass die Küche Cattelan an seine Kindheit erinnere. Wer weiß, wie er dort gelitten hat, wenn er den Selbstmord des Tieres als Installation in einer Küche inszeniert. Man sieht sogar schmutziges Geschirr. Cattelans Werke wirken witzig, haben aber eine starke melancholische Komponente. Das gefällt mir sehr. Sie gehen in die Tiefe."

Melancholisch ist sicherlich auch Cattelans selbstinszenierter Tod in Form eines Videos mit Beerdigung, Totenfeier et cetera. Aber wie gesagt - und der Meister wiederholt es immer wieder - Cattelan stirbt nicht. Seine Gegner in Kirche und Gesellschaft werden noch lange mit ihm leben müssen.