Carlo Rovelli: "Die Geburt der Wissenschaft. Anaximander und sein Erbe"

Ohne Selbstkorrektur kann man die Welt nicht verstehen

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Buchcover zu "Die Geburt der Wissenschaft" von Carlo Rovelli.
"Wissenschaftliche Antworten sind nicht definitiv, aber sie sind beinahe per Definition die besten Antworten, über die wir gegenwärtig verfügen", schreibt Carlo Rovelli in "Die Geburt der Wissenschaft". © Rowohlt-Verlag
Von Volkart Wildermuth  · 20.11.2019
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Die Erde schwebt im Weltraum - vor 2600 Jahren ein revolutionärer Gedanke des Philosophen Anaximander. Für den Physiker Carlo Rovelli liegt darin die Geburtsstunde der Wissenschaft. Denn Zweifel sind die Bedingung für das Verständnis der Welt.
Der griechische Philosoph Anaximander lebte um 610 vor Christus in Milet. Das weiß man sicher. Auch dass er der erste war, der die Bewegung der Gestirne rational studierte und versuchte, sie in einem geometrischen Modell wiederzugeben. Dabei existiert heute keine seiner Schriften im Original, alles was man über ihn weiß, ist Fragmenten entnommen. Und doch erkennt Carlo Rovelli in ihm einen Geistesverwandten.
Anaximander setzte, so schreibt der Physiker in seinem neusten Buch, "den Prozess in Gang, der zum Neudenken unseres Weltbilds führte: unsere Art und Weise des Erkenntnisgewinns, der auf dem Aufstand gegen das Offensichtliche beruht."

Eine bahnrechende Entdeckung

Anaximander war der erste, der anzweifelte, dass die Erde "fest steht". Denn schließlich falle alles herunter, was nicht gehalten werde, so die damalige Anschauung. Anaximander hingegen postulierte, dass die Erde im Raum schwebt. Sie sei "von keinem anderen Körper beherrscht". Für Rovelli "einer der schönsten Momente in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens: Die Erde fällt nicht, weil es keine ausgezeichnete Richtung gibt, in die sie fallen könnte." Und erklärte nebenbei gleich mit, wie die Sonne in der Nacht von West nach Ost kommt: Sie wandert auf einem Kreis um die schwebende Erde herum.
Viele Details sehen Wissenschaftler heute anders, von daher gilt Anaximander als überholt. Aber sein Ansatz, zumindest so wie Carlo Rovelli ihn rekonstruiert, ist modern. So bezog Anaximander all seine Entdeckungen ausschließlich auf Beobachtung und rationales Denken. "Eine Lesart der Welt, wo der Regen nicht von Zeus geschickt wird, sondern Wind und Sonnenwärme dafür verantwortlich sind."
Carlo Rovelli zeichnet in seiner lesenswerten Wissenschaftsgeschichte ein plastisches Bild der Antike, besonders der Multikulti-Metropole Milet in der heutigen Türkei. Und es geht ihm darum, die Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens im Spiegel Anaximanders aufzuzeigen. Da steht Anaximander in einer Tradition mit Kopernikus und Einstein. Entscheidend sei auch da schon immer der Wille gewesen, Traditionen und Überlieferungen kritisch zu begleiten und zu ersetzen.

Klug, lesenswert - und modern

"Wissenschaftliche Antworten sind nicht definitiv, aber sie sind beinahe per Definition die besten Antworten, über die wir gegenwärtig verfügen", schreibt Rovelli. Sprich: Nur wer zur Selbstkorrektur in der Lage ist, kann die Welt verstehen. Im Sinne Anaximanders argumentiert der Physiker so gegen Faktenleugnen und Relativismus und für kulturellen Austausch und Offenheit. Nicht ohne darüber zu reflektieren, worin wiederum die Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft selbst liegen.
"Die Geburt der Wissenschaft" ist ein kluges und lesenswertes Buch. Es nimmt seine Leserinnen und Leser mit zu den Anfängen der Wissenschaftsgeschichte und bietet darüber hinaus grundlegende Einsichten: "Die genialen Eingebungen, die zu großen Fortschritten geführt haben, entstehen nicht aus Eindeckungen neuartiger Lösungen für wohlbekannte Probleme. Sie entstehen aus der Erkenntnis, dass das Problem schlecht formuliert war." Von daher: eine klare Empfehlung!

Carlo Rovelli: "Die Geburt der Wissenschaft. Anaximander und sein Erbe"
Aus dem Französischen von Monika Niehaus
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
232 Seiten, 22 Euro

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