"Capernaum - Stadt der Hoffnung"

Eine Odyssee durch Beirut

Filmszene aus "Capernaum": Zain zieht durch Beirut. Das Leben in der libanesischen Hauptstadt zwingt ihn, früh erwachsen zu werden.
Zain zieht durch Beirut. Das Leben in der libanesischen Hauptstadt zwingt ihn, früh erwachsen zu werden. © Alamode Film
Christopher Aoun und Konstantin Bock im Gespräch mit Susanne Burg · 12.01.2019
Ein Junge verklagt seine Eltern dafür, dass sie ihn in die Welt gesetzt haben. Absurd? Nicht, wenn die Heimat Beirut heißt und die Armut groß ist. Kameramann Christopher Aoun und Cutter Konstantin Block über die Dreharbeiten zu "Capernaum".
Susanne Burg: "Capernaum" – das ist ein Film der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki. Er hatte seine Weltpremiere in Cannes, bekam dort den Preis der Jury. Und es ist nun der libanesische Beitrag im Rennen um den Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film. Bei uns kommt "Capernaum – Stadt der Hoffnung" am Donnerstag in die Kinos. Der Spielfilm beginnt vor Gericht. Ein ungefähr zwölfjähriger Junge, Zain, hat einen Mann schwer verletzt.
In Rückblenden erzählt der Film dann die Geschichte von Zain, der mit seinen Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen in Beirut aufwächst. Die Eltern versuchen, sich mit Drogengeschäften über Wasser zu halten. Für die Kinder interessieren sie sich nicht sehr. Als sie Zains kleine Schwester mit ihrem viel älteren Vermieter verheiraten, haut Zain ab und schlägt sich auf den Straßen Beiruts durch. Die Darsteller sind fast alle Laien, und gedreht wurde viel auf den Straßen Beiruts. Über diese Arbeit erzählen jetzt zwei Beteiligte, nämlich Christopher Aoun, zuständig für die Kamera, und Konstantin Bock, verantwortlich für den Schnitt. Guten Tag!
Konstantin Bock: Hallo!
Christopher Aoun: Guten Tag!
Burg: Ich habe eingangs ja gesagt, der Libanon hat den Film ins Rennen geschickt um die Oscars. Wie fühlt sich das für Sie an? Hätten Sie beim Drehen gedacht, dass er einmal diese Aufmerksamkeit bekommen würde, Konstantin Bock?
Bock: Ich glaube, uns war allen klar, dass wir da an was sehr Einmaligem arbeiten. Und dadurch, dass wir sechs Monate mit diesen Menschen verbringen durften, war das intensiver, als das sonst bei einem Film ist. Und das Besondere ist, dadurch, dass das Laiendarsteller sind, war uns jeden Tag klar, dass das, was wir hier gerade kriegen, ist nicht einfach nur eine Schauspielleistung, sondern da teilt gerade jemand sein eigenes Leben mit uns. Weil die Geschichten der Laiendarsteller oft deren eigene Geschichten sind. Das, was sie im Film zeigen, hat sehr viel mit ihrem eigenen Leben zu tun. Das heißt, man kriegt da plötzlich eine Tür geöffnet in eine Welt, die einem sonst verschlossen bleibt, mit als Deutschem sowieso, weil ich nicht da lebe. Aber ich glaube, selbst für dich als Libanesen, Chris – war das was, was du sonst …?
Aoun: Das war wie eine ganz neue Welt. Das hat sich nicht mehr wie ein Film angefühlt.
Filmszene aus dem libanesischen Film "Capernaum" von Nadine Labaki.
Filmszene aus "Capernaum": Zain verklagt seine Eltern.© Entertainment Pictures
Burg: Weil es in einem anderen Viertel, auch in einer anderen sozialen Szene stattfindet, als die, die Sie kennen, als Sie aufgewachsen sind?
Aoun: Ich glaube, wir bewegen uns im Libanon in Kreisen, die sich verkapseln und isolieren. Das war das erste Mal, dass wir gesehen haben, dass die Mehrheit – dass es einfach einen riesengroßen Teil gibt an Menschen, die ganz anders leben als das, was man sieht auch in Beirut. Als ob es eine versteckte Stadt ist, eine Unterwelt, die aber größer ist als die, die man sonst sieht.

Zains Perspektive auf die Stadt

Burg: Diese Odyssee von Zain durch die Straßen von Beirut sind eher mit so fast dokumentarisch anmutendem Gestus inszeniert. Häufig sieht man Zain von hinten. Die Kamera ist auf seinen Rücken gerichtet, und man sieht so ein bisschen quasi seine Perspektive der Stadt. Christopher Aoun, welche Gedanken sind eingeflossen, wie Sie Zain begleiten wollten als Kameramann?
Aoun: Wir hatten viele Referenzen, und wir haben auch viele Fotos gesehen vom Fotojournalismus, Dokumentarfilme über Straßenkinder, und viel gesammelt. Aber am Ende, als wir Zain entdeckt haben, war sein Gesicht und seine Präsenz viel mehr das, was mich inspiriert hat, um eine Sprache zu finden. Und es gab auch eine Entwicklung. Wir wollten auch die Kinder am Anfang vom Film kleiner zeigen als am Ende. Und als Zain noch bei seiner Familie ist, ist die Kamera leicht höher, sodass man nicht das Gefühl hat, dass er schon so mächtig ist wie später. Und dann, als er mit Jonas, mit dem Baby, allein ist, ist die Kamera meistens noch tiefer als das Baby, sodass man das Gefühl hat, dass diese zwei Wesen ganz allein, aber auch groß sind in ihrer Welt und in ihrer Wahrnehmung.
Burg: Genau. Jonas ist ein kleines, vielleicht einjähriges Kind oder so, was er kennenlernt durch eine äthiopische, illegal im Libanon arbeitende Putzfrau. Er beginnt, sich mit ihr anzufreunden und passt dann auf das Kind auf. Nur als Erklärung. Zain ist ja selbst als syrischer Flüchtling in den Libanon gekommen und kameraunerfahren. Wie haben Sie mit ihm gearbeitet?
Aoun: Ich glaube, dadurch, dass Zain meistens auf der Straße großgeworden ist, hat er einfach keine Scheu vor uns. Und er hatte keine Scheu vor diesen 40 Menschen, die vor ihm sind, und auch nicht vor den Kameras. Ich glaube, er hat uns eher geführt. Er hat einfach das gemacht, was er wollte, und es ging nur darum, ihm zu erklären, was die Situation ist. Dann hat er von da aus improvisiert, gespielt, alles gemacht, was er einfach sonst ohne Kamera machen würde.

Die Straßen sind Zuhause geworden

Burg: Wenn Sie sagen, 40 Leute um ihn herum – Sie haben ja auch in den Straßen gefilmt. Welche Herausforderungen gab es dabei, in den Straßen selbst zu filmen?
Aoun: Wir haben die Straßen nicht blockiert. Das heißt, wir haben die Straßen nie gesperrt. Am Anfang war es komisch, ein ganzes Filmteam zu haben in den Straßen. Deswegen diese lange Zeit, die wir auch gebraucht haben, um den Film zu drehen. Wir haben Zeit verbracht auf den Straßen mit dem Kamerateam, mit den zwei Tonanglern. Das war viel Technik, viele Leute. Und nach einer Zeit haben sich die Leute daran gewöhnt und haben uns gekannt und wussten, dass wir einfach das Filmteam sind, das immer da ist, und haben angefangen, mitzumachen, statt und anzugucken.
Burg: Ja, es kann ja auch so ein bisschen was Merkwürdiges haben, wenn ein Filmteam in ein Viertel einfällt sozusagen, das sehr hermetisch abgeschlossen ist. Das kann ja auch so ein bisschen was Voyeuristisches haben. Wie sind Sie damit umgegangen, mit dieser Gefahr?
Aoun: Es war am Anfang auch komisch. Wir hatten auch viele kleine Situationen, die fast gefährlich geworden sind, aber meistens in neuen Gegenden. In der Gegend, wo wir zum Beispiel das Haus von Zain gedreht haben, das war eine Gegend, wo viele Leute sind. Dadurch, dass die uns so gut kennengelernt haben, haben sich einfach Gruppierungen gebildet, wo die Leute, die uns besser kannten, angefangen haben mitzuspielen, was dann dazu geführt hat, dass andere auch einfach mitgespielt haben. Wir haben uns nicht mehr in Gefahr – die Straßen sind wie unser Zuhause geworden am Ende.
Burg: Konstantin Bock, Sie haben dann die Aufgabe gehabt, das Material zu sichten, zu schneiden, in eine Ordnung zu bringen. Ich habe gelesen, am Ende gab es 520 Stunden Material. Aber Sie waren ja wahrscheinlich beim Dreh auch schon immer dabei. Wie haben Sie sich in die Arbeit integriert?
Bock: Es war Nadine sehr wichtig, dass wir während des Drehs schneiden. Das ist nicht ungewöhnlich, aber meistens passiert das geografisch ein bisschen separiert vom Set. Und bei uns war das auch etwas ungewöhnlicher. Nadine wollte mich am Set dabei haben. Und so haben wir ein System entwickelt, wo ich quasi auf ihrem Schoß saß oder so nahe wir möglich an ihr dran war, sei es auf einem Bordstein oder einer Toilette oder in einem verfallenen Waschmaschinenladen. Das musste man dann irgendwie zurechtbasteln.
So konnte ich sozusagen in dem Moment, wo ein Take abgedreht war, das direkt bearbeiten und quasi live schneiden und die Szene in dem Moment zusammenbauen, wo sie gedreht wurde. Das war für Nadine sehr wichtig, zu sehen, wie passen diese ganzen Elemente, wie passt dieses improvisierte Spiel zusammen? Ergibt das ein Ganzes? Und dann, dieser erste Schnitt, den wir da am Set gemacht haben, das waren zwölf Stunden. Den haben wir in dem Moment, als der Film abgedreht war und wir dann in ein klassisches Produktionsbüro umgezogen sind, beiseite gelegt und haben noch mal von Null angefangen zu schneiden, und das hat dann noch mal eine Version hervorgebracht, die auch zwölf Stunden lang war. Und von diesen Zwölfstundenfassungen ist man dann runter auf die jetzige Fassung.

Festnahmen während der Dreharbeiten

Burg: Beim Dreh ist ja auch teilweise ziemlich radikal noch eine andere Realität am Set mit eingebrochen. Rahil, die Sie erwähnt haben, die die illegale Putzfrau spielt, ist tatsächlich wegen mangelnder Papiere verhaftet worden, genauso wie die Eltern, die ihr Baby für den Dreh zur Verfügung gestellt haben. Wie hat das eigentlich die Stimmung am Set beeinflusst? Was waren die Reaktionen?
Bock: Ich erinnere mich an die Nacht, als der Produzent bei uns ins Büro gestürmt ist und der Dreh am nächsten Tag angehalten wurde, weil in dieser Nacht die Familie und Rahil festgenommen wurden. Das war auf der einen Seite ein totaler Schock und auf der anderen Seite aber auch genau der Grund, warum dieser Film gemacht wurde. Damit diese Ungerechtigkeit und genau diese Situation beleuchtet werden und mehr in den öffentlichen Diskurs gerückt werden.
Burg: Wie haben Sie das erlebt, Christopher Aoun?
Aoun: Ich glaube, es war in der Mitte vom Dreh, also am 50. Tag oder so, wo das ganze Team schon am Ende war. Dann so was zu erleben und sie wieder rauszuholen aus dem Gefängnis, hat uns so viel Kraft gegeben.
Burg: Konstantin Bock, Sie meinten eben, dass es genau dazu auch dienen sollte, den Diskurs zu beleben oder die Diskussion zu beleben. Wie waren denn die Reaktionen auf den Film im Libanon selbst?
Bock: Die Reaktionen waren gemischt. Es gibt viele Leute, die sich gar nicht bewusst waren, dass es überhaupt so eine Welt gibt, die diese Bilder zum ersten Mal sehen und die versucht haben, diese Realität auszublenden. Und ich glaube, dass einige Leute besser damit zurechtkommen als andere. Es gibt schon auch viele negative Stimmen, die sagen, das ist zu viel. Warum müssen wir unser Land so auch nach außen zeigen?
Aoun: Ich habe auch von jemandem einen Satz gehört, der sehr gut war. Und zwar meinte diese Person, ich habe mir das angeguckt, als ob es – am Anfang war ich dagegen, weil ich auch dachte, wieso zeigt man so ein Bild vom Libanon. Und dann, sobald ich gemerkt habe, dass das was Universelles ist, habe ich eine Gänsehaut bekommen und dachte, wie stark so was ist.
Burg: Der Film "Kapernaum – Stadt der Hoffnung" von Nadine Labaki kommt am Donnerstag bei uns ins Kino. Verantwortlich für Kamera und für den Schnitt sind Christopher Aoun und Konstantin Bock. Vielen Dank an Sie beide für Ihren Besuch im Studio!
Aoun: Danke!
Bock: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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