Cannabis aus der Apotheke

Franjo Grotenhermen im Gespräch mit Andreas Müller · 05.10.2011
Kiffen auf Krankenschein - was wie ein vernebelter Traum von Cannabis-Konsumenten klingt, ist in den USA längst Wirklichkeit - etwa bei AIDS-Patienten oder nach Chemotherapien. Nun ist auch in Deutschland zum ersten Mal ein Cannabis-Medikament zugelassen worden.
Andreas Müller: Am Telefon begrüße ich nun Dr. med. Franjo Grotenhermen von der Arbeitsgemeinschaft "Cannabis als Medizin", und der kämpft seit vielen Jahren für die Legalisierung von Cannabis für medizinische Zwecke. Schönen guten Tag!

Franjo Grotenhermen: Guten Tag!

Müller: Ist diese De-facto-Anerkennung der Krankenkassen, sprich die Übernahme der Kosten für dieses Medikament, nun der Durchbruch für den Cannabis als Medikament?

Grotenhermen: Ja, zum Ersten ist es ein ganz normaler Vorgang, dass ein Medikament zugelassen wurde und dass das dann auch von den Krankenkassen erstattet wird. Das ist natürlich sehr erfreulich. Viele Patienten profitieren von Cannabis-Produkten, und es ist jetzt sehr schön, dass ein Medikament jetzt auch in Deutschland verschrieben werden kann.

Müller: Was ist denn das überhaupt für ein Medikament, worin unterscheidet es sich von dem klassischen Joint oder einem Tee aus Marihuana-Blüten?

Grotenhermen: Also, bei diesem Präparat handelt es sich um einen Extrakt aus der ganzen Pflanze, enthält also die Cannabinoide der Pflanze, auch das THC, was für seine Rauscheffekte bekannt ist, aber eben auch viele therapeutische Wirkungen ausübt.

Müller: Nun sagen viele, Cannabis ist natürlich eine Droge – ab wann ist es denn Medizin?

Grotenhermen: Also, zunächst muss man sagen, dass viele Medikamente auch als Drogen missbraucht werden können, bei Opiaten ist das der Fall, da kennen wir das Heroin, wissen aber gleichzeitig, dass Opiate sehr wichtig in der Schmerztherapie sind. Wir wissen, dass Benzodiazepine bei Epilepsie verwendet werden können, dass sie aber auch missbraucht werden können. Und genauso ist es bei Cannabis. Cannabis kann missbraucht werden, da ist vor allem die große Gefahr, dass Jugendliche regelmäßig Cannabis konsumieren, es ist aber auf der anderen Seite auch ein Medikament, das sehr wirksam ist und was jetzt auch zunehmend erkannt wird.

Müller: Ja, wo ist denn die Einnahme angezeigt, also bei welchen Patienten wirkt die Droge anders oder vielleicht auch besser als bislang eingesetzte Mittel?

Grotenhermen: Für alle Bereiche, in denen Cannabis-Produkte verwendet werden können, gibt es bereits Medikamente. Es ist aber so, dass die Menschen verschieden sind, und alle Medikamente nicht bei allen Patienten gleich wirken. Also wir haben viele Schmerzpatienten, die nicht ausreichend therapiert sind, aber von Cannabis-Produkten profitieren. Also sollen diese Menschen die Möglichkeit haben, eben auch Cannabis-Produkte zu verwenden. Genauso gilt das für einige neurologische Erkrankungen. Also das sind wichtige Bereiche für die Verwendung von Cannabis als Medizin.

Müller: Wie wirkt denn Cannabis in den Fällen?

Grotenhermen: Unser Körper hat ein eigenes Cannabinoid-System, das besteht aus spezifischen Rezeptoren für Cannabinoide und körpereigene Cannabinoide, sogenannte Endo-Cannabinoide.

Müller: Also die stellt der Körper selbst her?

Grotenhermen: Die stellt der Körper selbst her, die haben auch eine sehr wichtige Funktion, und zwar dämpfen sie ein übererregtes Nervensystem, also ein Zuviel an Neurotransmittern. Das heißt, zu viel Schmerz – da werden Endo-Cannabinoide vermehrt produziert und dämpfen den Schmerz. Und so was kann man verstärken, indem man von außen Cannabinoide zuführt. Sie dämpfen eine verstärkte Spastik, sie dämpfen eine verstärkte Übelkeit.

Müller: Also Menschen, die an multipler Sklerose zum Beispiel leiden, bei denen würde es zum Beispiel durchaus angezeigt sein, Cannabis zu verabreichen?

Grotenhermen: Cannabis wirkt jetzt auch nicht immer, man muss eben ausprobieren, und wir haben festgestellt, dass bei Spastik von MS oder auch bei Schmerzen von MS Cannabis oft sehr wirksam sein kann.

Müller: Warum muss denn nun der, ich würde mal vermuten, aufwändige und durchaus auch teure Umgang über ein Medikament genommen werden? Hanf ist sehr einfach anzubauen und ich sage mal ein Tässchen Cannabis-Tee ganz unaufwendig herzustellen. Warum ein Medikament?

Grotenhermen: Wenn man sich das weltweit betrachtet, gehen verschiedene Länder auch unterschiedliche Wege. Ein Medikament ist die teurere Variante. In Israel bekommen ungefähr 6.000 Patienten ganz normalen Cannabis, der auf der Wiese angebaut wurde, weil es einfach die preiswertere Variante ist. Man geht davon aus, dass in einigen Jahren 30.000, 40.000, 50.000 Israelis Cannabis vom Feld bekommen. Andere Länder sind da etwas anders orientiert, wie zum Beispiel Deutschland, da wird sehr darauf bedacht, dass man Cannabis sozusagen genauso behandelt wie andere Medikamente und es zulässt und dann entsprechend den Patienten zukommen lässt.

Müller: Also, die Zahlen, die Sie da gerade für Israel genannt haben, sind umgelegt auf die Gesamtbevölkerung sehr, sehr hoch, also es sind sehr, sehr viele Menschen. Wie viele sind es eigentlich bei uns, die da Zugang haben?

Grotenhermen: Na ja, wenn man das umrechnet auf Deutschland, dann würden es an die 100.000 sein, die einen Bedarf haben, real ist es aber so, dass es ungefähr 1.500 Patienten in Deutschland gibt, die Dronabinol bekommen, das kann seit 1998 verschrieben werden, ist nicht arzneimittelrechtlich zugelassen und muss deswegen auch nicht von der Kasse erstattet werden, etwa 60 weitere haben eine Ausnahmegenehmigung zur Verwendung von Cannabis aus der Apotheke, also normale Cannabisblüten, die werden aus den Niederlanden importiert, und dann gibt es jetzt das neue verschreibbare Medikament Sativex, der Cannabis-Extrakt, der zugelassen ist für Spastik bei MS. Also das heißt, in erster Linie profitieren Multiple-Sklerose-Patienten, für andere Indikationen ist es noch nicht zugelassen.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Franjo Grotenhermen von der Arbeitsgemeinschaft "Cannabis als Medizin". Für die Gegner einer Legalisierung ist Cannabis noch immer eine Teufelsdroge. Es gibt Kollegen von Ihnen, die weisen auf eine mögliche das Gehirn schädigende Wirkung hin, Marihuana gilt nach wie vor als Einstiegsdroge, neue hochpotente genmanipulierte Sorten vor allem aus niederländischen Gewächshäusern haben mit dem gemütlichen Joint von einst nicht mehr viel zu tun, die sind viel, viel stärker, viel, viel heftiger, diese Sorten. Droht durch eine Legalisierung – und sei es auch nur für das Medikament –, der Kampf gegen Drogen nicht zu scheitern?

Grotenhermen: Also, zu diesen hochpotenten niederländischen Sorten ist vielleicht zu sagen, dass der Cannabis, der in deutschen Apotheken erhältlich ist auf Ausnahmegenehmigung, sich genau auf diese hochpotenten Sorten bezieht. Die haben nämlich den Vorteil, dass man relativ wenig davon braucht und deswegen die Lunge nicht so stark schädigt. Also die haben auch ihre Vorteile. Das wird auch übertrieben, dass die hochpotenten Sorten gefährlicher sind. Das würde bedeuten, dass Schnaps gefährlicher ist als Bier. Das ist real nicht der Fall. Es kommt auf die Menge des Alkohols an. Die Nebenwirkungen, die Gefahren von Cannabis muss man ganz klar im Auge behalten. Man kann verschiedene Substanzen, Opiate, Benzodiazepine, Cannabis, Neuroleptika und andere Substanzen unterschiedlich verwenden, und da muss man genau schauen. Man muss differenzieren, ob man einen 14-jährigen chronischen Cannabis-Konsumenten hat, oder einen 55-jährigen Menschen im Rollstuhl mit Spastik bei MS. Das sind ganz unterschiedliche Effekte und Dinge, die da zu beachten sind.

Müller: Wie sehr ist dieses Medikament eigentlich akzeptiert beim Patienten, gibt es da schon Erfahrungen? Also ich könnte mir vorstellen, dass es auch durchaus Patienten gibt, die sagen, um Gottes Willen, damit möchte ich nichts zu tun haben. Das ist ja eine in Anführungsstrichen "Droge".

Grotenhermen: Ja, es gibt durchaus Untersuchungen zu dem Thema, also selbst sehr schwer kranke Patienten sind da sehr skeptisch zum Teil. Also es gibt das Beispiel eines Polizisten aus den USA, der jahrelang im Drogenbereich aktiv war, selbst von Cannabis profitiert, aber einfach es ablehnt, es zu nehmen aus prinzipiellen Gründen. Oder es gibt eine Studie aus Kanada, die zeigt, dass selbst todgeweihte Patienten aus Angst vor Abhängigkeit Cannabis ablehnen – was relativ absurd ist, wenn man Krebs im Endstadium hat. Aber diese Vorstellung von Cannabis wirkt natürlich bei Patienten, bei Ärzten, bei Politikern, und es ist schwierig, immer zu differenzieren. Aber wir stellen auch fest: Wir haben zwei Umfragen gemacht durch Emnid und Allensbach, und es kam raus, dass mehr als zwei Drittel der Deutschen durchaus differenzieren können und Cannabis als Medizin befürworten.

Müller: Sie selbst kämpfen seit vielen, vielen Jahren für die Legalisierung des Cannabis als Medizin. Das, was wir da jetzt seit Juli haben, diese Akzeptanz der Krankenkassen, die Kosten für dieses neue Medikament zu übernehmen, ist das nun ein Durchbruch oder nur ein kleiner Schritt?

Grotenhermen: Es ist ein weiterer Schritt auf dem weiteren Weg, dass auch wirklich alle Patienten Cannabis bekommen, die es benötigen. Ich hatte eben die Zahlen genannt: Die Diskrepanz zwischen dem Bedarf und der Patientenzahl, die Cannabis bekommen, ist noch riesig. Aber es ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Normalisierung, also Cannabis als ganz normales Medikament aus der Apotheke, verschrieben durch den Arzt, ist sicherlich ein wichtiger Schritt.

Müller: Franjo Grotenhermen war das, von der "Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin".

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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