"Candide" im Plastikbecken

Von Jürgen Liebing · 24.06.2011
Auf der Bühne nur Bilder. Kein Schauspiel, keine Geschichte. Nichts kann sich entwickeln. Auch das Orchester konnte unseren Kritiker nicht überzeugen. "Etwas bräsig" lautet sein Urteil über die musikalische Umsetzung der Berliner "Candide"-Aufführung.
Vielleicht kann man dieses Stück heute gar nicht mehr spielen, weil wir mittlerweile durch den medialen Overkill schon an alle Katastrophen dieser Welt gewöhnt sind – jedenfalls virtuell. Erdbeben, Tsunami, Aids, Ausbeutung, Glaubenskriege und so weiter. Als Leonard Bernstein die erste Fassung dieses Musicals schrieb, da lag die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts gerade einmal zehn Jahre zurück.

Der Bühnenbildner Vincent Lemaire hat eine Art Plastikschwimmbecken auf die Bühne gestellt – auf dessen Grund gespielt wird. Auf halber Höhe steht der Chor am Rand und schaut zu. Auf dem Grund wird gespielt, ein paar Requisiten müssen ausreichen, bei Szenewechseln wird ein Brecht-Vorhang zu und wieder aufgezogen.

Der Lichtmensch Guido Levi spielt mit den Farben, aber trotzdem kommt keine rechte Stimmung auf. Warum funktioniert die Geschichte nicht?

Der Regisseur stellt Bilder, erzählt keine Geschichte. Die Dialoge sind fast ganz gestrichen. Gut. Mozarts "Zauberflöte" oder Beethovens "Leonore" kann man sich ohne gesprochenen Text vorstellen, aber eine Geschichte, die man nicht kennt, funktioniert dann nicht, denn die Personen können sich nicht entwickeln.

Die Entwicklung wird nur durch Zwischentexte behauptet. Die Sänger dürfen "nur" singen, das ist ja nicht wenig in einem Musical, aber sie dürfen nicht richtig spielen. Sie sind nur Teile der Bilder – ein bisschen Robert Wilson lässt grüßen, nur alles bunter.

Wenn es einen Regisseur geben könnte für dieses Musical, dann wäre das Barrie Kosky, aber der hat dankend abgewunken und weiß wohl auch warum. Die Musik wird brav gespielt vom Orchester, aber auch gibt es etliche Abers. Die Musiker spielen nicht mit der Pobacke auf der Stuhlkante sitzend, sondern allzu oft etwas bräsig.

Am Dirigenten Wayne Marshall kann es eigentlich nicht liegen, aber auch bei ihm vermisst man die Differenzierung, mal das Tempo anziehen, mal nachlassen. Vielleicht wäre ein Spezialist für Alte Musik besser gewesen, denn die wird heute oft mit viel drive gespielt.

Das letzte Bild spielt in einem Irrenhaus, und das ist dann wirklich verrückt. Wenn man dieses Musical heute noch spielen will, dann vielleicht nur so. "Die Welt ist weder gut noch schlecht", wird kurz vor Schluss gesungen, aber die Welt ist auf alle Fälle verrückt, nur ahnte man das nur am Ende.