"Cancan für Senioren"

Von Jürgen Liebing |
Ein kleines, quäkig klingendes Orchester, Schauspielerinnen, die über die Bühne hoppeln, und eine krampfhaft aktualisierte Operette: Regisseur Christoph Stölzl kann mit "Orpheus in der Unterwelt" nicht überzeugen.
"Leben wir verschärft!" So singen alle am Ende von Jacques Offenbachs Operettenklassiker "Orpheus in der Unterwelt" und stimmen dann noch ein Loblied an auf den Alkohol, Tetrahydrocannabiol (also: Haschisch) sowie "Sex und Drugs und Rock’n Roll". Der Kabarettist und Songtexter Thomas Pigor ist für diesen deftigen Text verantwortlich, aber das Gesungene bleibt bloße Behauptung an diesem Abend. Nix Sex und erst recht kein Rock’n Roll.

Die personifizierte Öffentliche Meinung, gegeben von dem Wiener Burg-Schauspieler Cornelius Obonya, will Orpheus und Eurydice, die sich mächtig auf den Keks gehen, zur Treue verpflichten vonwegen der Moral. Am Ende vergeblich, denn Orpheus tut am Ende das, was ihm verboten – er schaut sich um, als er seine Gattin aus dem Hades führt, und alle sind darüber glücklich, jedenfalls in der Operette. Was in Paris Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus einen gesellschaftlichen Stachel besaß, zumal nicht nur die Götter parodiert wurden, sondern zugleich auch die kaiserliche Hoheit, bleibt heute eher blaß, vielleicht gerade wegen der manchmal krampfhaften Versuche der Aktualisierung.

Als 1983 schon einmal an diesem Ort der "Orpheus" gegeben wurde, da war das Schiller Theater noch ein Schauspielhaus, und es war recht amüsant, wie Angelica Domröse, Erich Schellow, Horst Bollmann und andere sich redlich mit der Musik abmühten. Nun aber ist dort die Staatsoper zu Gast, und so hätte man erwarten können, dass die zweite Fassung von Offenbachs "Orpheus", in Form einer großen Märchenoper gegeben würde. Mitnichten.

Man lässt den größten Teil des singenden Ensembles zu Hause, einschließlich der Staatskapelle – vielleicht hat das tarifvertragliche Gründe oder es sollen Überstunden abgebummelt werden. Holt sich ein paar namhafte Schauspieler, nimmt zehn Musiker aus dem Orchester plus beinahe ebenso vielen Gästen, läßt Christoph Israel, der sonst mit und für Max Rabe arbeitet, arrangieren und vergißt dabei, was die Staatsoper ihrem Publikum schuldig ist. Statt vorweihnachtlicher Opulenz gibt’s fade Diät. Die Combo, geleitet von Julien Salemkour, sitzt ganz weit hinten auf der Bühne in einem Schuhkarton. Auch in einer Operette sollte die Musik die erste Geige spielen und nicht bloß schrammelnd-quäkig aus dem Hintergrund kommen.

Auf der Bühne befinden sich große Paletten, die aufklappbar sind wie Kinderbücher, bei denen dann dreidimensionale Bilder entstehen. Die Damen vom Ballett dürfen an den langen Seilen ziehen, ansonsten hoppeln sie über die Bühne, aber nicht wie Playboy-Häschen. Ben Becker als Pluto tritt mit der Maske eines Gründgens-Mephisto auf, ohne den Schalk von Gustav Gründgens entfalten zu können. Der pummelige Gustav Peter Wöhler als Jupiter amüsiert zwar als Fliege, in die er sich verwandelt, um Eurydice aus dem Hades zu entführen, aber mehr auch nicht. An Drähten schwirrt er durch die Lüfte, summt und becirct die Dame.

Hans-Michael Rehberg als immer Wasser des Vergessens (also: Alkohol) aus dem Fluß Lethe trinkender Styx läßt für fünf Minuten aufscheinen, was möglich wäre. Aber es ist ein langer Abend. Auch Stefan Kurt ist als leicht schmieriger Geigenlehrer Orpheus leider nur Karikatur. Evelyn Novak als Eurydice ist die einzige Sängerin im Ensemble – außer den Damen vom Chor. Singen kann sie zwar, aber neben den Schauspielern fällt ihr darstellerisches Manko um so mehr auf. Dem Regisseur Christoph Stölzl, dem Humor angeblich so wichtig ist, muß das Lachen wohl während der Probenzeit vergangen sein.

"Cancan für Senioren, etwas fürs Theaterabonnement, etwas für verkalkte Ohren", wird selbstironisch verkündet. Man kann auch mal unter Niveau lachen, aber auf Dauer tut das weh. Das Leichte zu machen, ist bekanntlich das Schwerste. Das hat dieser Abend wieder einmal bewiesen. Als Pluto den Betriebsausflug vom Olymp durch die Unterwelt führt, weist er ins Publikum und erklärt, daß es mit der Eintrittskarte die ewige Verdammnis gekauft habe. Und kommentiert schadenfroh, dass wir noch nicht wüßten, dass wir uns die Vorstellung immer und immer wieder anschauen müßten. Einmal ist schon mehr als genug.
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