Calvin und die Disziplin

Margot Käßmann im Gespräch mit Ralf bei der Kellen · 25.04.2009
Muße und Müßiggang sind vom Teufel. Nur wer erfolgreich lebt, der lebt Gott wohlgefällig: Johannes Calvin hat mit seinen Lehren die protestantische Arbeitsmoral und -ethik maßgeblich beeinflusst. Ein Gespräch mit der niedersächsischen Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann über den Reformator.
Ralf Bei der Kellen: Wenn Staatsmänner, Denker oder Künstler, die in der Vergangenheit viel Einfluss hatten, einen runden Geburtstag feiern, dann wird ja immer wieder nach ihrem Einfluss auf die Gegenwart gefragt. Bei diesem Reformator aber dürften die meisten Menschen erst mal fragen: Calvin? Wer war denn das noch mal? Frau Dr. Käßmann - wieso ist eigentlich Calvin, verglichen mit Luther und Zwingli, so unbekannt?

Margot Käßmann: Ich denke, das liegt schon daran, dass Luther sich ja sehr stark mit den Fürsten arrangiert hat und dass die Fürsten auch sozusagen die obersten Leiter der Kirchen waren, während der Calvinismus immer auch eine kritische Distanz zum Staat gehalten hat und immer auch eher die unterdrückte Minderheit war und deshalb in kleinen Gruppen eher am Rande lebte, oft fliehen musste, vertrieben wurde. Es blieb sozusagen der kleine Bruder der Reformation, der eher in elitären, kleinen Zirkeln lebte und nicht so sehr als Kirche im Staat groß herauskam.

Bei der Kellen: Kleine Gruppen - da ist ja ein Charakteristikum eben häufig, dass die durch eine große Disziplin einen inneren Zusammenhalt haben. Das Thema das heutigen Gesprächs im Deutschen Historischen Museum ist ja auch: Calvin und Disziplin. Was verstand denn der Reformator unter Disziplin?

Käßmann: Für ihn war wichtig, dass bei Matthäus im 18. Kapitel steht: Die Brüder in den Gemeinden sollen einander ermahnen, auch öffentlich vor der Gemeinde ermahnen, und wenn dann jemand, der gesündigt hat, dieser Ermahnung trotzdem nicht folgt, ihn auch auszuschließen aus der christlichen Gemeinde. Und daraus hat Calvin eine Kirchenzucht, wie er das nannte, eine Kirchenzuchtordnung erlassen. Und es gab dann auch ein Konsistorium, das entschieden hat bei Einzelnen, ob sie eben in der Kirche bleiben können, ob sie beim Abendmahl teilnehmen können. Und das spiegelt sich zum Teil bis heute, das spiegelt sich aber natürlich gerade beim Calvinismus oder beim reformierten Christentum auch immer in einer gewissen Kargheit und Strenge, die sie doch bis heute auch ausstrahlen.

Bei der Kellen: Wo Sie gerade die Kirchenzucht erwähnen: Bis Mitte des letzten Jahrhunderts war es ja noch so, dass: In manchen calvinistischen Gemeinden gab es noch Strafbänkchen für Ehepaare, deren vorehelicher Sex unübersehbare Folgen gezeitigt hatte. Die wurden dann sozusagen öffentlich, vor der Gemeinde, ja, man kann auch sagen, bloßgestellt. Für uns klingt das heute ja geradezu wie der mittelalterliche Pranger. Ist denn so eine innerkirchliche Disziplin nicht längst überholt?

Käßmann: Die ist in vielen christlichen Gemeinden auf der Welt längst nicht überholt. Ich habe gerade Kirchengemeinden in Südafrika besucht, lutherische wie reformierte, da ist es beispielsweise so, wenn ein Mädchen unehelich, unverheiratet schwanger wird, dann muss sie auch auf eine solche Zuchtbank, dann ist sie vom Abendmahl ausgeschlossen für eine gewisse Zeit.

Für mich ist das ganz schwer zu ertragen, weil ich das - inklusive beim Abendmahl - wichtiger finde, weil wir heute sagen würden: Gemeinschaft der Heiligen heißt eben auch all der Menschen, die nicht perfekt sind. Gerade auch die Gescheiterten hat Jesus eingeladen, die große Sünderin beispielsweise, die Zöllner, die Fischer. Ich denke, da hat sich theologisch ganz viel entwickelt, dass wir uns das kaum vorstellen können, aber gerade in den evangelischen Kirchen in Afrika, Asien, Lateinamerika erleben wir das ganz oft, da gibt es das täglich sozusagen noch.

Bei der Kellen: Betrachtet man Porträts des Reformators, so sieht man ja in erster Linie immer eine ganz magere, fast ausgezehrte Person, die eigentlich auf uns ja heute einen freudlosen Eindruck macht. Taugt denn Calvins Auffassung von Disziplin für unsere Zeit heute überhaupt noch?

Käßmann: Na, nun fragen Sie natürlich eine lutherische Theologin und das ist sicher ein gewisser Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten, das merken Sie schon, wenn Sie in die Kirchengebäude kommen. Ein reformiertes Kirchengebäude werden Sie daran erkennen, dass es keine Bilder hat, in der Regel auch kein Kreuz beispielsweise auf dem Altar, wenn es überhaupt einen Altar gibt.

Meistens gibt es sogar nur die Kanzel, weil das Wort allein, sagt Calvin, das soll ganz und gar im Mittelpunkt stehen. Da, muss man sagen, war der gute Luther, wenn Sie ein Cranach-Bild von Luther daneben stellen, natürlich wesentlich sinnenfreudiger, lebenslustiger und sicher, was das betrifft, näher am Katholizismus, das denke ich schon.

Calvin wird in den Darstellungen, den jüngeren, die ich gelesen habe, doch auch anders dargestellt als nur dieser strenge Reformator, der in Genf das Tanzen verboten hat, das Liedersingen untersagt hat zu bestimmten Zeiten. Aber das hat er damals getan und das wirkt heute, würde ich auch sagen, sehr karg und für mich auch nicht unbedingt sehr christlich, weil ich denke, Lebenslust, sehet die Lilien auf dem Felde, gehört zum Christentum eigentlich dazu.

Bei der Kellen: Calvin propagierte ja das Prinzip der doppelten Prädestination: Gott hat die Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt, die Auserwählten und die Nicht-Auserwählten, und das bereits vor der Geburt eines jeden Einzelnen. Wer zu welcher Gruppe gehört, bleibt den Menschen allerdings verborgen. Die Calvinisten versuchten später, sich selbst durch ihre Tugendhaftigkeit Gewissheit darüber zu verschaffen, dass sie eben zu den Auserwählten gehören müssten - in der daraus erwachsenen Arbeits- und Wirtschaftsethik, wo die Menschen häufig sich selbst die Nächsten sind - und gerieten somit auch nicht selten in Widerspruch mit dem christlichen Grundsatz der Nächstenliebe. Ist diese Form von Disziplin von den Interpreten der Lehre Calvins, also den Calvinisten, eigentlich grundsätzlich missverstanden worden?

Käßmann: Nun ist es so, dass die Prädestinationslehre sicher Lutheraner und Reformierte auch heute trennt in diesem Verständnis. Es müsste jetzt ein moderner reformierter Theologe unseres Jahrhunderts auftreten und sagen, wie reformierte Theologie das heute sieht, aber ich denke, dass in der Wirkungsgeschichte es in der Tat so war - da muss man nur mal Max Weber lesen -, dass die reformierte Tradition dadurch ein enormes Leistungs- und Arbeitsethos entwickelt hat, weil wer Erfolg hat, zeigt sich von Gott gesegnet. Ich glaube eben, wie gesagt, dass das neutestamentlich überhaupt nicht zu halten ist. Wenn wir sagen, Gott ist mit den Armen, gerade mit den Verlassenen, mit denen, die am Rande stehen, mit dem, der unter die Räuber gefallen ist, mit dem verlorenen Sohn - das spricht eigentlich völlig gegen diese Lehre.

Aber es ist nun mal reformierte Lehre, die er entwickelt hat und die sich dann - und das, glaube ich, müssen wir sehen - gerade in der Verfolgungs-, Minderheiten- und Migrantensituation besonders umgesetzt hat. Ich glaube, dass das beides zusammenkommt, wenn ich unterdrückt bin, Migrant bin, von außen komme, muss ich mich ständig beweisen und wenn ich dann noch sage, durch Leistung und Erfolg zeigt sich Gottes Zuwendung zu mir, dann entsteht ein Arbeits- und Leistungsethos der ganz besonderen Art. Außerdem soll ich nicht prassen und Geld verschwenden, also bin ich auch noch sparsam, und dann hat sich das entwickelt, was Max Weber, sage ich mal, den ganzen Schwung für den amerikanischen Wirtschaftstraum auch erwiesen hat. Und da, denke ich, muss ja auch immer gesehen werden, das hat natürlich auch was Positives, Arbeitsethos, Leistungswille, Disziplin statt Verschwendungssucht, Faulheit und anders mehr. Das Lob der Faulheit würden die Reformatoren sicher nicht singen.

Bei der Kellen: Ja, gut, aber wenn man es jetzt wirklich extrapolieren würde, ganz wahrheitsgeschichtlich gesehen, dann könnte man sagen: Die Quittung dieses Arbeitsethos kriegen wir jetzt auch ein bisschen mit der Finanzkrise.

Käßmann: Ich denke, die Quittung dieses Arbeitsethos bekommen wir immer dann, wenn es zu einer Art Erwerbsreligion wird, also: Weil ich erwerbstätig bin, weil ich erfolgreich bin, bin ich etwas wert. Meiner Meinung nach spricht das christliche Ethos genau dagegen, gerade die, die nicht leisten können, sind eben genauso viel wert. Der behinderte Junge ist genauso viel wert wie der erfolgreiche Geschäftsmann und das schwerstbehinderte kleine Mädchen ist genauso viel wert wie das erfolgreiche Model auf dem Laufsteg.

Meines Erachtens muss die christliche Religion immer eine Inklusive-Gesellschaft vor Augen haben und nicht gerade die Leistungsfähigen herausstellen. Die Gefahr sehe ich eher, die auch unsere Theologie da mitzuverantworten hat, ist so eine Arbeitsreligion, dass Arbeit alles im Leben ist.

Ich weiß, dass die Würde der Menschen mit Arbeit oft zusammenhängt oder mit Erwerbsarbeit, aber das ist wirklich auch gefährlich. Ich denke, die besonders erfolgreich sind, müssen am meisten dankbar sein und haben die höchste Verantwortung. Das halte ich für die theologische Konsequenz. Für mich ist das ein theologischer Irrweg zu meinen, du kannst erkennen, wen Gott gesegnet hat, sondern Gott segnet alle, die da unter dem Himmel sind und was dann eines Tages sein wird, werden wir sehen.

Bei der Kellen: Frau Dr. Käßmann, wenn Calvin sehen könnte, wie heute an unseren Schulen und Universitäten gelehrt und gelernt wird, was würde er sagen, was denken Sie?

Käßmann: Wahrscheinlich würde er sagen: Oh Tohuwabohu! Es war ein großes Durcheinander am Anfang vor der Schöpfung, ich glaube schon, dass das für Calvin schwer erträglich wäre. Alle dürfen mitreden, selbst Grundschüler dürfen eine eigene Meinung haben. Das wäre für ihn wahrscheinlich gar nicht vorstellbar gewesen. Da hätte er das Lob der Disziplin gesungen, aber ich weiß auch nicht, wie er sich mit diesem Lob in einer so freien Gesellschaft, wie wir sie heute haben, hätte durchsetzen können und Gehör gefunden hätte.

Ich denke, heute müssen wir immer sagen, wir brauchen die richtige Balance zwischen gelebter Freiheit, Freiheit auch der Kinder, meine ich, und Individualität auch der Kinder, aber dann einem Regularium, das ein Miteinanderleben erst möglich macht. Wenn alle schreien, kann keiner mehr hören, es muss auch Regularien geben. Und da die richtige Balance zu finden in der Erziehung heute, im Medienzeitalter - da möchte ich wissen, ob Calvin die Lösung gefunden hätte.

Bei der Kellen: Nehmen wir mal den unwahrscheinlichen Fall an, dass Sie heute Calvin noch mal treffen könnten. Was denken Sie, wäre er Ihnen sympathisch oder könnten Sie eher nichts mit ihm anfangen?

Käßmann: Ich muss ja sagen, ich fürchte, er wäre mir, wie dieses Bild von ihm auch immer wieder zeigt, zu karg, zu wenig lebensfroh. Ich bin als Bischöfin ja nun gerade dabei, meiner Kirche immer wieder zu sagen, wir müssen das mit allen Sinnen leben, den Glauben auch sinnlich wahrnehmen, auch als Evangelische. Dazu gehört Meditation, Pilgern, Musik, Farbe, Malerei, Schweigen, Meditation, Gebet natürlich. Ich glaube, eine reine Kargheit, die das Christentum allein auf das Hören des Wortes, von dem nichts ablenken darf, konzentriert, ist nicht lebensfroh genug. Darüber würde ich mit Calvin gerne diskutieren, ja.

Bei der Kellen: Vielen Dank, Frau Dr. Käßmann, für das Gespräch, schön, dass Sie Zeit für uns hatten.