Busek: Selbstständigkeit des Kosovo ohne Alternative

Moderation: Hartmut Jennerjahn und Wolfgang Labuhn |
Der Sonderkoordinator für den EU-Stabilitätspakt in Südost-Europa, Erhard Busek, sieht zur Unabhängigkeit des Kosovo keine Alternative. Für jede andere Lösung habe Serbien den richtigen Moment verpasst, sagte Busek im Deutschlandradio Kultur. Zugleich betonte er, dass die EU-Perspektive Serbiens "durch nichts zu ersetzen" sei. Eine Lösung der Probleme auf dem Balkan gebe es nur in einem europäischen Rahmen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Dr. Busek, seit gut vier Jahren sind Sie Sonderkoordinator für den Stabilitätspakt für Südosteuropa, der 1999 begründet wurde, um nach vier Kriegen im ehemaligen Jugoslawien zur Beruhigung in der Region beizutragen. Was können, was sollen Sie in dieser Funktion leisten?

Busek: Der Ausgangspunkt des Stabilitätspaktes für Südosteuropa war völlig klar, nämlich nach den genannten Kriegen beziehungsweise nach dem Dayton-Agreement für Bosnien-Herzegowina und am Ende des Kosovokrieges zu einer Gesamtstabilisierung der Region selber beizutragen. Neben dem Kriegselement war natürlich auch noch die Tatsache maßgebend, dass es eine neue Landkarte ist. Es sind neue Staaten entstanden, damit auch neue Grenzen, damit auch neue Probleme, plus der europäischen Perspektive. Der Stabilitätspakt ist hier sehr klar, dass alle diese Länder der Region Mitglied der Europäischen Union werden sollen.

Die Tagesordnung hat sich eigentlich inzwischen völlig gewandelt. Wir hatten Nachkriegsmaßnahmen wie Flüchtlingsrückkehr, Einsammeln von Landminen, von Waffen und ähnliches. Das war ganz vorn. Heute sind wir bei der Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Situation plus der Tatsache, dass eigentlich alle Wahlen auf nationaler Ebene völlig fair gemacht werden. Es ist ein Monitoring der OECD dazu da. Man kann sagen, es wurde in der Zeit Demokratie gewonnen, was ja auch eines der Ziele des Stabilitätspaktes gewesen ist.

Deutschlandradio Kultur: Wie sieht denn Ihre Arbeit in der Praxis aus? Woraus ergibt sich, worum Sie sich im Einzelnen kümmern? Wer gibt Ihnen die Aufträge? Ziehen Sie selbst einige Dinge an sich? Wie läuft das in der Praxis?

Busek: Es gibt - verankert in dem Stabilitätspakt - einen so genannten Regionaltisch, der zweimal im Jahr tagt, wo alle Spieler am Feld vertreten sind, der hier Festlegungen trifft. Ganz praktisch gesagt: Wir legen pro Jahr sechs Schwerpunkte fest, so genannte Co-Objectives, wie das in der Sprache der Europäischen Union heißt, also etwa parlamentarische Kooperation, Verbrechensbekämpfung, ein gemeinsames Freihandelsabkommen für die gesamte Region, die Reduktion der Armeen.

Wir werden ab 2007 uns um Fragen der Erziehung kümmern. Also, das wird jeweils für ein Jahr festgelegt. Die Initiativen kommen - darf ich ganz offen sagen - von uns, weil wir versuchen hier ein drängendes Element zu sein und hier der Region vorschlagen, wo sie weitergehen soll in regionaler Kooperation in Richtung darauf, dass sie das selber übernimmt. Das heißt "regional ownership", also regionales Eigentum soll da geschaffen werden, nicht im Sinne des dinglichen Rechtes, sondern der Verantwortungsübernahme ist hier gemeint.

Deutschlandradio Kultur: Fällt Ihnen da spontan ein konkretes Projekt ein, das Ihnen besonders am Herzen liegt, weil es gut funktioniert?

Busek: Was gegenwärtig gut funktioniert, da nenne ich also ein positives und ein negatives Thema. Das positive Thema ist der Energievertrag, den wir im Oktober abgeschlossen haben, der die Elektrizitätssysteme dieser Länder zusammenführt und auf den Eintritt in den Elektrizitätsmarkt der Europäischen Union vorbereitet. Wir haben inzwischen ein geschlossenes Versorgungsnetz. Jetzt (…) wir daran, das zu implementieren und auch die entsprechenden Kraftwerke auf die Reihe zu bringen. Wir haben dieselbe Perspektive für Gas. Da ist noch nicht allzu viel geschehen. Das ist aber sehr wichtig, weil GAZPROM gegenwärtig eine Monopolsituation hat, die natürlich auch politisch genutzt wird. Man muss das ja ganz offen sagen.

Das negative Beispiel ist Kriminalitätsbekämpfung. Wir haben ein Zentrum in Bukarest errichtet, wo jeweils ein Polizei- und ein Zollbeamter der Länder der Region plus den angrenzenden dort sitzt, also Ungarn, Slowenien, die Türkei sind hier auch vertreten. Wir kommen der EUROPOL jetzt ständig näher und mit einem Finanzierungsrahmen eines CARDS-Programmes der Europäischen Union wird das auf Standards von EUROPOL herangeführt. Wir haben eine Polizeikonvention verabschiedet, um diese Verbrechensentwicklungen zu bekämpfen. Das ist ein negatives Thema mit sehr positiven Ergebnissen.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja nun eine Vielzahl von Akteuren. Sie haben vorhin schon kurz angesprochen, wer alles Teilnehmer am Stabilitätspakt ist. Die Zielländer, die eigentlich davon profitieren sollen, sind ja - von Slowenien abgesehen - die Nachfolgestaaten Jugoslawiens, Bulgarien, Rumänien, Albanien, Moldawien. Sind da eigentlich Interessenkollisionen überhaupt vermeidbar? Und wie löst man dieses Problem im praktischen Umgang miteinander?

Busek: Zunächst mal gibt es eine Art Wettbewerb, indem man sagt, "ich bin besser als der andere und eigentlich bin ich schon reif für die Europäische Union". Das ist verständlich und das ist eigentlich auch gut so. Natürlich liegen auch eine Reihe von historischen Problemen herum, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber die freundliche Überredungskunst zu regionaler Zusammenarbeit war am Beginn unsere Sache.

Ich möchte ganz positiv bemerken, dass das begriffen wird. Schlicht und einfach, jetzt nehmen Sie es mal vom Wirtschaftlichen her, dass das ein Markt von 55 Millionen Menschen ist, das ist angesichts der heutigen globalen Entwicklung eigentlich nicht sehr viel. Man kann aber nicht glauben, dass man Investitionen anlockt, weil man sagt, "kommen Sie in mein Land, wir haben zwei Millionen oder vier Millionen Konsumenten". Das hat dann eigentlich ein gewisses lächerliches Ausmaß. Das wächst. Aber da muss man also manchmal freundlich und bestimmt reden und immer wieder sagen: "Eure Perspektive ist die Europäische Union und die müssen auch gerade lernen miteinander auszukommen und zusammenzuleben."

Deutschlandradio Kultur: Wenn man sich die Arbeitsfelder des Stabilitätspaktes ansieht, dann könnte man ja fast erschrecken, denn das geht da um Demokratie und Menschenrechte. Es geht um Wirtschaftsfragen, es geht um militärische und innere Sicherheit. Wie fällt eigentlich jetzt nach sechs, sieben Jahren konkreter Arbeit Ihre Zwischenbilanz aus?

Busek: Diese breite Palette von Aufgabenstellungen ist uns von den Gründern vorgegeben und ist natürlich aufs erste beeindruckend und aufs zweite natürlich auch eine Belastung, wofür man hier alles zuständig ist. Ich glaube, dass wir das relativ gut gemanagt haben, natürlich mit Lücken. Ich weiß auch genau, was in Wirklichkeit fehlt. Aber das, was erreicht wurde, ist die von mir schon erwähnte Änderung der Tagesordnung. Wir sind eigentlich zunehmend näher der Normalität, worum es eigentlich im normalen Leben geht, also, Infrastrukturausbau zum Beispiel, die Investitionen zu verbessern, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, die natürlich in einigen Ländern noch dramatisch hoch ist.

Auch im Bereich der Verbrechensbekämpfung haben wir das Problem, dass zum Beispiel Drogen und auch der Menschenhandel ja von außerhalb der Region kommen. Die sexuell missbrauchten Frauen und Kinder kommen von Moldawien ostwärts und landen dann irgendwo im Westen innerhalb der Europäischen Union. Also, es ist nicht nur ein Problem der Region.

Wir können mit den Ergebnissen eigentlich sehr zufrieden sein. Ich bin ein Mensch, der in der Nachkriegszeit aufgewachsen ist und ein wenig das vergleichen kann. Für die relativ kurze Zeit eines Weges zur Normalität ist das, was die Länder selber geleistet haben, beachtlich. Der Schmerz ist nur, dass natürlich die Defizite immer in Diskussion sind, was ganz natürlich ist. Aber es kommt damit auch eine negative Situation zum Ausdruck. Also, wenn man immer nur berichtet über den fehlenden Mladic, Den Haag, dann entsteht der Eindruck, dass dort lauter Kriegsverbrecher rumlaufen. Das ist ein einzelner Fall neben dem Herrn Karadzic. Vor allem, wenn Sie in die Städte kommen, haben Sie dort eine ganz normale europäische Entwicklung. Der ländliche Raum ist etwas schlechter dran, das muss ich ganz offen sagen.

Deutschlandradio Kultur: Weil Sie gerade den Fall Mladic ansprechen, der hat ja immerhin dazu geführt, dass jetzt die Annäherungsgespräche zwischen der EU und Serbien unterbrochen worden sind, weil - nach Meinung etwa auch der Chefanklägerin beim Haager Tribunal, Carla del Ponte - die serbische Führung mehr über den Aufenthaltsort von diesem Exgeneral Radko Mladic weiß, als sie öffentlich zuzugeben bereit sein könnte. Heißt das nicht, dass hier die EU-Perspektive eigentlich schon durch das Verhalten einer Regierung zerstört wird, was ganz Ihrem Ziel des Stabilitätspaktes widersprechen würde?

Busek: Richtig ist, dass dieses Defizit sehr belastend ist, vor allem für Serbien belastend ist. Hier sind eine Reihe von Fehlern passiert. Ein Fehler ist der, dass Mladic leichter auszuliefern gewesen wäre zu einer Zeit, wo Djindjic, der ja ermordet wurde, Ministerpräsident war. Das ist aber damals vom damaligen serbischen Präsidenten Kostunica verhindert worden. Daher gibt es auch die starke Meinung innerhalb Serbiens, es ist jetzt Aufgabe des Ministerpräsidenten Kostunica den zu liefern, was er offensichtlich hier nicht kann.

Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass die EU-Perspektive Serbiens durch nichts zu ersetzen ist. Denn eine Lösung - etwa des Problems Serbien und Kosovo - geht nur in einem europäischen Rahmen. Da soll man sich gar keiner Täuschung hingeben. Nur bin ich sehr dafür, dass die EU hier strikt ist. Sie war es ja schließlich in Richtung auf Kroatien und Gotovina auch. Das muss einfach gelernt werden, auch für die Serben.

Deutschlandradio Kultur: Welche Druckmittel hat denn die Europäische Union? Wie viel Nachdruck kann auf eine stärkere Kooperation gelegt werden, auf die Lösung von Konflikten? Beispiel Kosovo: Die Verhandlungen laufen ja. Es ist aber keinerlei erkennbare Aussicht auf eine absehbare Einigung. Wo ist das Konzept der EU oder Westeuropas generell? Ist das in sich schlüssig oder handhabt man das eher pragmatisch?

Busek: Zunächst muss man mal sagen, dass Kosovo eine Sache der Vereinten Nationen ist. Diese ist dort mit der Verwaltung beauftragt. Es ist auch eine so genannten Kontaktgruppe unter Einschluss der Amerikaner und der Russen auch tätig und selbstverständlich der Europäischen Union. Also, es geht die Verantwortung ein bisschen weiter. Es kristallisiert sich ziemlich klar heraus, und das hat Martti Ahtisaari in Gesprächen mit mir unlängst sehr klar gestellt, dass das Ergebnis ganz sicher nicht ein Verhandlungsergebnis zwischen Belgrad und Pristina sein wird, sondern der Verhandlungsgruppe gar nichts anderes übrig bleiben wird, als Lösungsvorschläge direkt an die Vereinten Nationen zu geben, die die Frage dann zu entscheiden hat. Denn sie trägt ja mittlerweile auch die Verantwortung hier für Kosovo.

Die Problematik der Serben besteht darin, dass sie es versäumt haben, rechtzeitig quasi ihre eigenen historischen Schatten zu bewältigen. Die politischen Führer Serbiens hätten klar sagen müssen, wir haben hier von Milosevic etwas Schreckliches geerbt. Das ist die Verantwortung von Milosevic. Wir haben das geringe Vergnügen, dieses Problem jetzt lösen zu müssen. Das hat man versäumt und argumentiert eher - vordergründig im Hinblick auf nächste Wahlen - quasi nationalistischer, wobei ich persönlich den Eindruck habe, dass einen Großteil der Serben diese nationalistischen Elemente überhaupt gar nicht interessieren, sondern die wollen verbesserte Lebensverhältnisse haben.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind seit vielen Jahren ein ausgewiesener Kenner der Region, Herr Dr. Busek. Welchen völkerrechtlichen Status sollte denn das Territorium Kosovo nach Ihrer persönlichen Meinung künftig haben?

Busek: Das, was bei den Verhandlungen wahrscheinlich herauskommen wird, ist ein Etappenplan in Richtung auf Selbständigkeit. Ich persönlich glaube, dass das ohne Alternative ist. Für jede andere Lösung hat Serbien den richtigen Moment versäumt. Es hätte sicher die Chance gegeben, die Autonomie wieder herzustellen, die von Milosevic hier aufgekündigt wurde. Da hat man überhaupt nichts unternommen. Ich möchte sogar relativ brutal sagen: Wenn man Serbien etwas antun will, dann gibt man Serbien Kosovo zurück, weil Serbien nicht in der Lage wäre, das Problem in sich zu bewältigen - weder politisch, noch sicherheitsmäßig und schon gar nicht wirtschaftlich.

Das muss aber erst langsam begriffen werden, wobei mein Eindruck der ist, dass es die Politiker zuallererst begreifen müssen. Wenn Sie Kontakt haben - und das habe ich - neben der Politik mit sehr vielen dort, kommt eigentlich klar heraus, dass die das schon abgeschrieben haben. Es bleibt etwas über, was in der Region selber eine große Rolle spielt und in Serbien erst recht, das ist die Frage der Würde der Nation. Solche Elemente sind hier sehr stark. Vergessen Sie nicht, dass es die serbischen Universitäten sind, die zum Beispiel Institute für Opferlehre haben. Das heißt, das sich selbst als Opfer begreifen ist eine gewisse politische oder historische Kultur, die hier existiert, die die Sache nicht leichter macht.

Deutschlandradio Kultur: Eine autonome staatliche Entität Kosovo wäre doch wirtschaftlich kaum überlebensfähig. Wie soll das gehen?

Busek: Das glaube ich zunächst nicht. Diese Meinung, dass irgendetwas nicht lebensfähig ist, die äußern wir Europäer immer recht locker. Ich kann mich erinnern, dass man seinerzeit den Slowaken gesagt hat, als sie sich von den Tschechen getrennt haben, dass die nicht lebensfähig sind. Heute sind sie in einigen Gesichtspunkten besser als die Tschechen. Man hat den Slowenen erklärt, "ihr seid nur zwei Millionen, ihr seid nicht lebensfähig". Das Pro-Kopf-Einkommen ist inzwischen höher als das der Portugiesen und der Griechen. Ich vertraue hier auf das wirtschaftliche Talent der Albaner, die hervorragende Klein- und Mittelunternehmer sind und natürlich auch beweisen wollen, dass sie es in Wirklichkeit können. Natürlich werden sie Anfangsschwierigkeiten haben. Aber bitte nicht zu vergessen, mit denen ist in den letzten Jahren so ziemlich alles passiert, was einem an Schlechtem passieren kann, unter Einschluss eines Krieges und Vertreibungen.

Deutschlandradio Kultur: Auch im Zusammenhang mit dem Kosovo wird ja gern die europäische Perspektive zitiert, die so etwas wie ein Zauberwort für die Zukunft ist. Aus europäischer Sicht betrachtet: Wie sinnvoll ist es eigentlich, diese Region, diese Länder an die Union heranzuführen? Handelt man sich damit nicht auch eine Belastung ein, weil es sich um nach wie vor recht instabile Regionen handelt?

Busek: Zunächst einmal ist europäische Integration ein Beitrag zur Stabilität. Was bei uns völlig vergessen ist, dass wir seinerzeit Spanien, Portugal und Griechenland in die Europäische Union oder damals Gemeinschaft aufgenommen haben nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Damals sprach überhaupt nichts dafür, aus wirtschaftlichen Gründen diese Länder zu integrieren, sondern man wollte nach der Franco-Diktatur, nach Salazar in Portugal und nach den griechischen Obersten politische, das heißt, demokratische Stabilität haben. Also, diese Überlegung gibt es ja schon. Das ist das erste Positive.

Das zweite ist, dass die Wirtschaft ja Wirklichkeiten schafft. Die europäische Wirtschaft investiert nämlich in einem hohen Ausmaß in Südost-Europa. Dort sind die Wachstumsraten weit über den unseren, Gott sei Dank, weil sie von einem relativ niedrigen Niveau ausgehen. Aber das wird als Zukunftsperspektive gesehen. Und ich empfehle etwa in einige Unternehmen hinzugehen. Sie können feststellen, im Energiebereich hat sich E.ON engagiert. Siemens ist ein führendes Unternehmen. Bauunternehmen sind dort ganz selbstverständlich vertreten. Und das beschafft Arbeit.

Drittes Argument: Wenn wir zur Stabilisierung der Länder beitragen und zur Erhöhung des sozialen und wirtschaftlichen Niveaus, reduzieren sich Migrationsprobleme. Mir hat einmal die Schweizer Außenministerin mit einer Deutlichkeit, die mich überrascht hat, gesagt: "Kosovo ist ein Schweizer Problem".- Wie bitte? Sie sagte, "offiziell leben 100.000 Kosovo-Albaner in der Schweiz, wahrscheinlich sind es 200.000 bis 300.000 im Bereich der Illegalität." Diese Dinge können wir sicher besser steuern, wenn wir Integrationswege gehen. Wobei ich auch dazu sagen möchte: Es ist nicht notwendig, immer Jahreszahlen herauszugeben. Wir sind, was jetzt Rumänien und Bulgarien betrifft, die Gefangenen unserer eigenen Jahreszahlen. Sondern es geht darum, darauf zu schauen, dass diese Länder eine Qualität erreichen, die den europäischen Standards entspricht. Das ist - glaube ich - ein sehr guter Druck für die notwendige Transformation.

Deutschlandradio Kultur: Ein Ziel des Stabilitätspaktes ist es, Herr Dr. Busek, Sie haben es erwähnt, die Länder Südost-Europas an die Europäische Union heranzuführen. Zwei sollen das in Kürze tun, nämlich Bulgarien und Rumänien sollen am 01.01.2007 offiziell Mitglieder der EU werden. Bei den anderen ist das sehr ungewiss. Wo endet für Sie eigentlich Europa? Wie viel neue Mitglieder in der Region kann die Europäische Union noch verkraften?

Busek: Südosteuropa ist zweifellos Europa. Man muss auch ein bisschen historisch argumentieren. Beim Zurückdrängen des osmanischen Reiches ist so ziemlich alles in dieser Region von den Europäern beschlossen worden, und zwar von London, Paris, Berlin, St. Petersburg und später Moskau, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges auch von Wien. Wenn Sie da zurückgehen, merken Sie, wie hoch da der Einfluss war. Ich darf ganz sanft daran erinnern: Wenn ein bulgarischer Ministerpräsident Sakskoburgotski geheißen hat, so ist das kein bulgarischer Name, sondern ein hier in Deutschland sehr geläufiger. Die Hohenzollern haben zum Beispiel auch Königsdynastien gestellt. So können Sie das hier beliebig verfolgen.

Also, wir haben dort kräftig die ganze Zeit mitgemischt und haben daher auch eine europäische Verantwortung, die sich eigentlich auch fortsetzt. Das ist ein europäischer Bereich. Bei Moldau in Verbindung mit der Ukraine, diese Probleme sind ja durch Transnistrien unter Einschluss von Russland verbunden, wird es von der inneren Entwicklung abhängen, ob sie in der Lage sind, diesen Weg zu gehen. Für Weißrussland können wir definitiv feststellen, dass wir im Moment sehr weit davon entfernt sind. Und die Russen werden sich nie im Leben als ein Land verstehen, das einen Brief an Brüssel schreibt, "bitte, wir wollen Mitglied werden". Die fühlen sich immer noch als eine Supermacht, ein bissel im Moment dispensiert in militärischen und sonstigen Bereichen, aber über den Energiesektor kommend als großer Partner. Ich verweise auf G8 und ähnliche Teilnahmen, die existieren. Bei der Türkei haben wir die offene Frage, die ja ganz dramatisch in unseren Ländern diskutiert wird.

Deutschlandradio Kultur: Wie groß ist eigentlich das Problem der Akzeptanz in der Europäischen Union, in einzelnen Ländern der Union für die Erweiterung der EU nach Südosteuropa, nach Osteuropa hin?

Busek: Zunächst muss man mal sehr kritisch sagen, dass das Akzeptanzproblem schon bei der letzten Erweiterungsrunde beginnt. Man hat die zügig durchgeführt. Ich sage dazu: Gott sei Dank. Was aber unterblieben ist, ist darauf aufmerksam zu machen, dass auch die Europäer (…) sind. Ich stelle zu meinem Schmerz immer fest, dass es unendliche Defizite schon bei der geographischen Kenntnis gibt. Man tut sich leichter, wenn man die eigenen Landsleute beschimpft. Ich lasse immer abtesten, wo von Wien aus gesehen Prag liegt. Da sind immer noch 30 Prozent der Wiener der Meinung, es liegt im Osten, obwohl es eindeutig im Nordwesten liegt. Das ist die alte Vorstellung des Kalten Krieges und der Ost-West-Teilung. Man hat eigentlich noch nicht begriffen, wer unsere Nachbarn sind. Und es gibt ja auch zu wenig an Kenntnissen. Das setzt sich natürlich in Richtung Südosteuropa und weiteres Osteuropa hier dramatisch fort.

Ich glaube, die wirtschaftliche Seite läuft eigentlich ausgezeichnet. Was hier fehlt, ist - wenn Sie wollen - die kulturelle Seite, die Kenntnisseite, die ganze Selbstverständlichkeit, die wir haben, wo man sich auskennt. Also, die Österreicher haben keine Schwierigkeiten mit Kroatien, nicht, weil es hier besondere politische Überlegungen gibt, sondern weil sie immer an die kroatische Küste auf Urlaub fahren. Solche Elemente spielen eine ganz entscheidende Rolle. Das fehlt! Es gibt ja noch nicht eine gemeinsame Sicht, was eigentlich alles Europa ist.

Deutschlandradio Kultur: Dann bleiben wir zum Abschluss kurz in Ihrem Heimatland Österreich. Österreich war ja zur Zeit der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, also bis zum Ende des 1. Weltkrieges, nicht nur eine kontinental-europäische Großmacht, sondern auch eine Klammer sozusagen, die große Teile Südost-Europas politisch und kulturell zusammenhielt, und zwar – im Gegensatz zum russischen Zarenreich – friedlich zusammenhielt. Glauben Sie, dass dem jetzigen EU-Mitgliedsland Österreich eine Sonderrolle zukommt bei den Bemühungen um eine demokratische Stabilisierung von Südosteuropa?

Busek: Zunächst muss man mal sagen, den Österreichern ist eine Sonderrolle im Wege der Wirtschaft zugefallen. Das ist eine ungeheure Erfolgsstory, wobei ich nicht verhehlen möchte, dass wir innerhalb Österreichs auf der einen Seite profitieren, uns aber auf der anderen Seite den Luxus leisten, skeptisch zu sein. Das ist eine ganz liebenswerte Schizophrenie, wo man einiges dazu tun muss, um klar zu machen, dass das so nicht geht. Man kann nicht profitieren und dann sagen: "Bleibt wo ihr seid!" Das wäre hier der falsche Weg.

Das zweite ist, dass interessanterweise der Hinweis auf die Geschichte in den Ländern der ehemaligen Doppelmonarchie stärker ist als in Österreich. Für uns ist die Monarchie eigentlich nur mehr die Kaiserin Sissy und der Kronprinz Rudolph und so ein bisschen der alte Herr mit dem Bart, der als Kaiser Franz-Joseph in die Geschichte eingegangen ist, aber nicht unbedingt eine Wirklichkeit. Das schmerzt mich ein wenig, aber das muss man hier ganz deutlich sagen. Der Vorteil ist, dass wir uns mentalitätsmäßig mit diesen Ländern leichter tun, vielleicht weil Metternich seinerzeit schon gesagt hat, "der Balkan beginnt am Rennweg", eine Straße, die vom Ring her wegführt. Es liegt aber auch daran, dass die Migrationsergebnisse des 19. Jahrhunderts ja eindeutig ihre Niederschläge gefunden haben. Aber begriffen haben es die Österreicher eigentlich nicht. Ich sage aber ganz positiv, dass der österreichische Vorsitz in der EU diese Rolle wahrgenommen hat, trotz der vorhandenen Schwierigkeiten, die es zweifellos gibt. Und das freut mich. Wir würden auch unserer Rolle geopolitisch nicht gerecht werden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Dr. Busek, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Busek: Herzlichen Dank.