Buntes Sammelsurium
Diese "Deutsche Kulturgeschichte" räumt der Hochkultur keinen Vorrang mehr ein. Von Siegfried Habermas über Ikeas Billy-Regal bis zum Web 2.0 findet alles Eingang, was in einem offenen Kulturbegriff Platz hat.
Habermas und Stuckrad-Barre, Renault R4 und Ikeas Billy-Regal, Trümmerfrauen und "Good bye Lenin", Entnazifizierung und Globalisierung: Es ist ein offener, aber auch recht profilloser Kulturbegriff, den die Zeithistoriker Axel Schildt und Detlef Siegfried ihrem 700 Seiten-Werk "Deutsche Kulturgeschichte" zugrunde legen. Im chronologischen Durchgang durch die Jahrzehnte präsentieren sie viele Thesen, die Deutschland bewegt haben – nur keine eigenen. Der Vorzug ihrer Fleißarbeit liegt im Überblick. Wie im Setzkasten erscheinen Theorien, Kunstwerke, Konsumgüter, Institutionen, Persönlichkeiten, Gesetze und und und. Die Autoren meinen, dass vor allem "die Auseinandersetzung über die Zulässigkeit des Andersseins" die Kultur der Bundesrepublik geprägt hat.
Es erscheint im Jahr 2009 eher selbstverständlich als provokant, dass Schildt und Siegfried
der einst dominanten bürgerlichen Hochkultur keinen Vorrang mehr einräumen, sondern sie zum Gewimmel der unzähligen kulturellen Phänomene rechnen. Weil die liberal gesinnten Autoren mit Interesse für links-alternative Konzepte allerdings von jeder Wert-Entscheidung und Hierarchisierung Abstand nehmen, bleibt ihnen nur eine schwache Moderatorenrolle. Ob Notstandsgesetze oder "Perry Rhodan"-Comics: Schildt und Siegfried schenken beiden die gleiche Aufmerksamkeit. Schwarz-rot-goldenes Pathos ist ihnen fremd. Ihr Ideal ist die Buntheit, wie der programmatisch achtfarbige Buchtitel beweist.
Die Darstellung reicht über sieben Großkapitel von der "Kultur in Trümmern" in der Nachkriegszeit bis zur gegenwärtigen "Kultur im Kontext von Ökonomisierung, Globalisierung und Medialisierung". Zäsuren werden gesetzt, hölzern begründet, aber letztlich nicht überbetont. Das Jahr 1968 etwa hat kein eigenes Kapitel bekommen, wohl aber die "Kultur in der Transformationsgesellschaft 1966-1973", in der nach Habermas die "Fundamentalliberalisierung" Deutschlands beginnt.
Schildt und Siegfried strukturieren den Text stets wie ein Glossar. Sobald sie das Thema wechseln, und sie wechseln andauernd, steht am Rand ein neues Schlagwort. Das Nachwende-Unterkapitel "Alltag in Ost und West" beginnt mit "Die kurze Euphorie der Einheit", erwähnt "Web 2.0", "iPod" und "Internet-Dating", streift "Ausländerfeindlichkeit und Asylrechtsreform" und endet mit und auf "Mallorca". Vertiefungen werden so systematisch unmöglich.
Im Wesentlichen kreist das Buch um westdeutsche Kulturgeschichte. Die DDR wird gelegentlich gestreift, aber erst nach 1989/90 in gesamtdeutscher Perspektive zum Thema. Die europäische, überhaupt die internationale Dimension der hiesigen Kultur bleibt unterbelichtet – was noch kleinteiligere Fragmentierungen verhindert. Als Leser ergeht es einem wie im Deutschen Historischen Museum: Man kennt dies, man kennt das, man stutzt, wenn man mal etwas nicht kennt. Die geistigen Kampfzonen von der Entnazifizierung über den Historikerstreit bis zur Wende-Bewertung: Sie werden verlässlich protokolliert, aber die lebendige Substanz der Prozesse wird kaum je spürbar.
Das Packende, Erregende und Bedeutende, dessen Oberbegriff Kultur heißt, muss man beim Durchblättern auf eigene Faust imaginieren. Auf welche Art von Leser die Autoren mit ihrem Sammelsurium zielen, bleibt unbestimmt. Der Verlag kündigt das Werk als "reich illustriertes Buch", "große Geschichte, Nachschlagewerk und Einführung" an. Reich illustriert ist es nicht, große Geschichte auch nicht – am ehesten ein Nachschlagewerk.
Informationen zu den Autoren:
Axel Schildt, der 2007 bereits eine Sozialgeschichte der Bundesrepublik veröffentlicht hat und ein Experte für Wohnformen, Massenmedien und Freizeitgestaltung ist, lehrt Neuere Geschichte in Hamburg und ist dort Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Detlef Siegfried, von dem kürzlich eine Studie über die westdeutsche Jugendkultur der 60er-Jahre erschien, arbeitet als Associate Professor an der Universität Kopenhagen.
Besprochen von Arno Orzessek
Axel Schildt und Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte - Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart
Carl Hanser Verlag, München 2009
696 Seiten; 24,90 Euro
ISBN 978-3-446-23414-7
Es erscheint im Jahr 2009 eher selbstverständlich als provokant, dass Schildt und Siegfried
der einst dominanten bürgerlichen Hochkultur keinen Vorrang mehr einräumen, sondern sie zum Gewimmel der unzähligen kulturellen Phänomene rechnen. Weil die liberal gesinnten Autoren mit Interesse für links-alternative Konzepte allerdings von jeder Wert-Entscheidung und Hierarchisierung Abstand nehmen, bleibt ihnen nur eine schwache Moderatorenrolle. Ob Notstandsgesetze oder "Perry Rhodan"-Comics: Schildt und Siegfried schenken beiden die gleiche Aufmerksamkeit. Schwarz-rot-goldenes Pathos ist ihnen fremd. Ihr Ideal ist die Buntheit, wie der programmatisch achtfarbige Buchtitel beweist.
Die Darstellung reicht über sieben Großkapitel von der "Kultur in Trümmern" in der Nachkriegszeit bis zur gegenwärtigen "Kultur im Kontext von Ökonomisierung, Globalisierung und Medialisierung". Zäsuren werden gesetzt, hölzern begründet, aber letztlich nicht überbetont. Das Jahr 1968 etwa hat kein eigenes Kapitel bekommen, wohl aber die "Kultur in der Transformationsgesellschaft 1966-1973", in der nach Habermas die "Fundamentalliberalisierung" Deutschlands beginnt.
Schildt und Siegfried strukturieren den Text stets wie ein Glossar. Sobald sie das Thema wechseln, und sie wechseln andauernd, steht am Rand ein neues Schlagwort. Das Nachwende-Unterkapitel "Alltag in Ost und West" beginnt mit "Die kurze Euphorie der Einheit", erwähnt "Web 2.0", "iPod" und "Internet-Dating", streift "Ausländerfeindlichkeit und Asylrechtsreform" und endet mit und auf "Mallorca". Vertiefungen werden so systematisch unmöglich.
Im Wesentlichen kreist das Buch um westdeutsche Kulturgeschichte. Die DDR wird gelegentlich gestreift, aber erst nach 1989/90 in gesamtdeutscher Perspektive zum Thema. Die europäische, überhaupt die internationale Dimension der hiesigen Kultur bleibt unterbelichtet – was noch kleinteiligere Fragmentierungen verhindert. Als Leser ergeht es einem wie im Deutschen Historischen Museum: Man kennt dies, man kennt das, man stutzt, wenn man mal etwas nicht kennt. Die geistigen Kampfzonen von der Entnazifizierung über den Historikerstreit bis zur Wende-Bewertung: Sie werden verlässlich protokolliert, aber die lebendige Substanz der Prozesse wird kaum je spürbar.
Das Packende, Erregende und Bedeutende, dessen Oberbegriff Kultur heißt, muss man beim Durchblättern auf eigene Faust imaginieren. Auf welche Art von Leser die Autoren mit ihrem Sammelsurium zielen, bleibt unbestimmt. Der Verlag kündigt das Werk als "reich illustriertes Buch", "große Geschichte, Nachschlagewerk und Einführung" an. Reich illustriert ist es nicht, große Geschichte auch nicht – am ehesten ein Nachschlagewerk.
Informationen zu den Autoren:
Axel Schildt, der 2007 bereits eine Sozialgeschichte der Bundesrepublik veröffentlicht hat und ein Experte für Wohnformen, Massenmedien und Freizeitgestaltung ist, lehrt Neuere Geschichte in Hamburg und ist dort Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Detlef Siegfried, von dem kürzlich eine Studie über die westdeutsche Jugendkultur der 60er-Jahre erschien, arbeitet als Associate Professor an der Universität Kopenhagen.
Besprochen von Arno Orzessek
Axel Schildt und Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte - Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart
Carl Hanser Verlag, München 2009
696 Seiten; 24,90 Euro
ISBN 978-3-446-23414-7