Bunte Republik Deutschland

Von Rainer Burchardt |
Jetzt haben wir sie - und zwar endgültig: die neue Unübersichtlichkeit, auch in der Politik. Der Philosoph Jürgen Habermas darf sich mit Blick auf den parteipolitischen Strukturwandel bestätigt fühlen. Dahin ist sie, die Berechenbarkeit der zeitgeschichtlichen Entwicklung. Oder anders formuliert: ein Glücksfall für die deutsche Demokratie, die seit Jahren in ihren festgefahrenen Strukturen erstarrt war.
Auf den Alltag dieses Monats der Bundestagswahl bezogen heißt das: Eine ungeahnte Dynamik ist in den bislang todlangweiligen Wahlkampf eingezogen, nicht nur die Rücktritte des Ministerpräsidenten Althaus in Thüringen und des SPD-Vorsitzenden Jurk in Sachsen zeigen dies. Aus der Bundesrepublik Deutschland ist eine "bunte Republik" geworden. Das muss keinesfalls, wie neunmalkluge Bedenkenträger jetzt herumunken, zu einer politischen Destabilisierung, ja geradezu Gefährdung unseres demokratischen Systems führen. Eher stimmt das Gegenteil: Die Möglichkeiten neuer, bislang ungekannter Koalitionen und damit flexiblerer Machtstrukturen in den Ländern und hoffentlich auch im Bund, lassen Politik wieder interessant erscheinen, ja vielleicht und hoffentlich die Wahllethargie vergessen.

Wenn die Parteien, vor allem die Großen jetzt nicht wieder alles falsch machen, kann dies auch das Ende der jahrelangen Politik- und Parteienverdrossenheit bedeuten.

Die teilweise erstaunlichen Ergebnisse dieser Landtagswahlen können ein Weckruf zu mehr Teilhabe an der öffentlichen Sache, der "res publica " für uns alle sein.

Jetzt ist zwar nicht alles, aber viel mehr als bislang möglich. Und das bezieht sich nicht nur auf die Vielfalt der Koalitionsmodelle in den Ländern und im Bund. Lagerdenken war gestern, jetzt geht es um Bildung von Machtkonstellationen, was bitte sehr nicht gleich wieder, wie natürlich geschehen, als "widerwärtiges Parteiengerangel" diffamiert werden sollte. Niemand muss dadurch schockiert sein, dass fast überall Zwei-Koalitionen ausgeschlossen werden können. So gesehen hat Sachsen im Wortsinne auch deshalb konservativ gewählt, weil es hier wohl – und nur hier - auf "Schwarz-Gelb" hinauslaufen wird.

Doch sowohl in Thüringen als auch im Saarland ist fast alles möglich. Dabei ist es allerdings leider auch bezeichnend, dass in beiden Ländern die Akteure erst einmal das Bundestagswahlergebnis abwarten wollen, ehe sie selbst – dann offenbar doch ferngesteuert aus Berlin – ihren Machtcocktail mixen wollen. Dass die Landespolitik auch heute leider nicht so unabhängig von Berlin ist, wie in den Regionen und in der Bundeshauptstadt so gern und wohlfeil behauptet wird, das hat Angela Merkel jetzt bewiesen. Ihr Appell nach Thüringen, dort so schnell wie möglich eine große Koalition zu bilden, zeigt doch, wer den Hosenanzug anhat und ganz offensichtlich auch anbehalten will.

Mit anderen Worten: Die in den letzten Wochen merkwürdig unsichtbare Kanzlerin bevorzugt die "großbürgerliche" Koalition – auch im Bund, Fragezeichen.

So gesehen entlarvt sich ihre Formel, die Landtagswahlen seien keine Signale für Berlin als hohles Gerede. Selbstverständlich haben die regionalen Voten einschließlich der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen eine Bedeutung für den Bund. Im Bundesrat bleibt kein Stein mehr auf dem anderen, für fast alle Parteien sind die Ergebnisse Mobilisierungsmotive für die eigene Wahlklientel, und schließlich verliert die tiefrote Linke allmählich ihr Abschreckungspotential vor allem bei den Sozialdemokraten.

Gerade im Saarland aber auch in Thüringen wird dies in den kommenden Wochen noch deutlicher werden. Hier kann die SPD ihre strukturelle Beweglichkeit unter Beweis stellen, wenn sie sowohl in der Koalitionsfrage als auch den daraus folgenden Personalfragen Kompromissbereitschaft zeigt. Auch das gehört zur neuen Unübersichtlichkeit. Vor allem das Saarland könnte zum Labor für ein Bündnis mit der Linken werden, trotz, oder gerade wegen Oskar Lafontaine, dem ja auch in seiner Heimat gezeigt wurde, dass für ihn die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Kompromisse in der Sache müssen alle Seiten zeigen, wer sich an einer Personalie endlos abarbeitet, beweist allenfalls unpolitisches Denken.

Eine ähnliche Flexibilität wäre der SPD auch in Thüringen zu empfehlen. Dort könnte es zum Beispiel auf das sogenannte israelische Modell hinauslaufen, indem die Herren Ramelow und Matschie einen temporären Ämterdeal bei Halbzeit der Legislatur beschließen. Gegen die SPD kann dort ohnehin keine Regierung gebildet werden. Anders im Saarland, wo auch eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen möglich wäre.

Und um das Maß an Optionen voll zu machen: Am 27. September wird auch in Schleswig-Holstein gewählt. Dort wäre nach Wahlumfragen, trotz einer noch hauchdünnen Mehrheit für Schwarz-Gelb, eine sogenannte Dänenampel aus SPD, Grünen und dem SSW, der Partei der dänischen Minderheit im nördlichsten Bundesland, denkbar.

Wie gesagt: Die Ära der neuen Unübersichtlichkeit in Deutschland ist angebrochen und damit auch die Option wechselnder Mehrheiten. Für eine lebendige Demokratie ist das mehr Chance als Risiko.