Bullshit und Corona

Lügen, die über Leben und Tod entscheiden

04:33 Minuten
US-Präsident Donald Trump verlässt den Brady Press Briefing Room, nachdem er und Mitglieder der Coronavirus Task Force des Weißen Hauses am 19. März 2020 im Weißen Haus in Washington, DC, eine Pressekonferenz abgehalten haben. Er spiegelt sich dabein in einer Schreibe doppelt.
Es gibt mehr als 191.000 Tote und mehr als 6,3 Millionen Coronainfizierte in den USA. Welche Schuld trägt Donald Trump daran? © Getty Images / Chip Somodevilla
Ein Kommentar von Bernhard Pörksen · 21.09.2020
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Trump hat die Gefahr des Coronavirus bewusst heruntergespielt und Fake News verbreitet. Das ist unverantwortlich und tatsächlich lebensgefährlich, sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Es zeigt auch auf, was Fakt und was Meinung ist.
Anything goes, alles geht. Das war und ist bis zum heutigen Tag die Kommunikationsmaxime eines Donald Trump, der in seiner Amtszeit bis zum Juni dieses Jahres mehr als 20.000 Mal die Unwahrheit gesagt hat, wie die "Washington Post" in mühevoller Kleinarbeit dokumentierte. Das Grundprinzip seiner auf allen Kanälen verbreiteten Meinungs- und Propagandashow lautet: Realitätszensur durch Rauschen, Ermüdung durch Verwirrung, Zerstörung der Maßstäbe durch die Produktion von Chaos und den Ausstoß von Nonsens- und Jubelmeldungen.
Bis niemand mehr so genau sagen kann, was eigentlich stimmt. Bis Faktum und Meinung ununterscheidbar geworden sind. Bis Menschen erschöpft und verstört im Gestöber der Halbwahrheiten und im frei umher wirbelnden Informationskonfetti auf das zurückgreifen, was sie ohnehin glauben oder doch glauben wollen.

Mehr als 6,3 Millionen Coronainfizierte in den USA

Aber funktioniert diese Methode permanenter Bullshit-Produktion noch in Zeiten einer Pandemie? Sind das enthemmte Meinen und das öffentlich zelebrierte Delirium der frei drehenden Mutmaßungen noch überzeugend, wenn Menschen sterben? Donald Trump hat am 26. Februar verkündet, die Fallzahlen würden beständig sinken und seien alsbald bei null. Innerhalb der nächsten beiden Monate infizierten sich mindestens eine Million Amerikaner mit dem Virus.
Heute gibt es mehr als 191.000 Tote und über 6,3 Millionen Coronainfizierte in den USA. Donald Trump hat auf dem Weg zu diesem Desaster das Tragen von Schutzmasken lächerlich gemacht. Er hat Malariamedikamente als Wundermittel empfohlen und öffentlich darüber räsoniert, ob es sinnvoll sein könnte, sich Desinfektionsmittel zu spritzen.


In diesen Tagen wurde überdies bekannt, dass der Präsident seit Anfang Februar die Gefahren wissentlich herunterspielte, wie er dem Enthüllungsjournalisten Bob Woodward auf Band diktierte. Jetzt ist die Empörung groß. Und man sieht: Die gesamte Propagandashow im Umgang mit der Coronagefahr lässt sich als ein ziemlich furchtbares Experiment interpretieren.
Es handelt von der Frage, wie weit man gehen kann im Prozess des endlosen Behauptens und in der Verachtung der Tatsachenwelt. Denn deutlich wird eben auch: Es gibt ihn noch, den dritten Punkt, der Meinung und Wissen voneinander unterscheidbar macht. Und diesen dritten Punkt nennt man für gewöhnlich die Realität. Menschen infizieren sich wirklich. Sie leiden wirklich. Sie sterben wirklich. Und man kann in der Bekämpfung einer Pandemie furchtbare Fehler machen.

Falschnachrichten werden zur allgemeinen Erfahrung

Was hat dieses krisentypische Zeit- und Welterleben für Folgen für die Rezeption von Desinformation? Zum einen wird die Gefährlichkeit von Falschnachrichten zur allgemeinen Erfahrung. Denn wenn man aus den Einfällen der Abwiegler, der Bullshitter und der Coronaleugner eine persönliche Handlungsstrategie formt, wenn man meint, alles sei nur Hype und Hysterie und sich und andere nicht schützt, dann kann dies im Extremfall tödlich sein.
Zum anderen lassen sich Regierungseffizienz und Regierungsversagen in der gegenwärtigen Situation ganz unmittelbar vergleichen – und zwar auf der Weltbühne der Zivilisation und in globalem Maßstab. Das heißt: Das Meinen und Behaupten findet unter anderen Überprüfungsbedingungen statt. Es ereignet sich vor dem Hintergrund von persönlichen Erfahrungen, die Millionen von Menschen mit dem Virus machen. Und es ereignet sich vor dem Horizont gigantischer Forschungsanstrengungen und direkt erlebbarer Erfolge und Misserfolge bei der Pandemiebekämpfung.
Ob der amerikanische Präsident, der sich nun weiter für sein Krisenmanagement selbst lobt, deshalb die Wahl verliert? Das ist offen, zumal viele seiner Anhänger unverbrüchlich zu ihm halten. Aber Faktum und Meinung, Information und Ideologie werden in Zeiten der Pandemie wieder deutlicher unterscheidbar, denn es steht für alle einfach zu viel auf dem Spiel. Das ist das Gute im Schlechten.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun das Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik" im Hanser-Verlag.


Bernhard Pörksen im Porträt
© Peter-Andreas Hassiepen
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