Bullerjahn fordert Mindestlohn gegen Abwärtstrend in Ostdeutschland

Moderation: Susanne Führer und Verena Kemna |
Der Spitzenkandidat der SPD in Sachsen-Anhalt, Jens Bullerjahn, hält einen gesetzlichen Mindestlohn für dringend erforderlich, um dem Abwärtstrend in Ostdeutschland entgegen zu wirken. In Sachsen-Anhalt gebe es in gleichen Branchen Lohnunterschiede von über 100 Prozent. Viele Menschen könnten von ihrer Arbeit nicht leben. Er halte den Trend für falsch, "Löhne nach unten zu entwickeln und das als Standortvorteil zu proklamieren".
Deutschlandradio Kultur: Herr Bullerjahn, Sie sind der Spitzenkandidat der SPD in Sachsen-Anhalt, Sie wollen Ministerpräsident werden. Auf Bundesebene ist gerade in der großen Koalition die SPD eher auf der Verliererschiene. Sie wollen aber auch Unterstützung vom Bund, von Matthias Patzeck, von Herrn Müntefering in Sachsen-Anhalt für Ihrem Wahlkampf.
Aber die CDU mit ihrer starken Bundeskanzlerin Angela Merkel ist im Moment eindeutig auf der Gewinnerseite und die SPD ist eher auf der Verliererseite.

Bullerjahn: Na ja, mit Gewinner- und Verliererseite, da wäre ich etwas vorsichtig. Sicherlich ist es so, dass die Umfragen im Moment eher die CDU vorne sehen. Ich muss aber dazu sagen, dass wir bei der letzten Umfrage auf dem Land diesen Trend nicht hatten, also CDU und SPD liegen im Land bei 30 Prozent plus minus einen…

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns noch beim Bund bleiben. Es geht ja um die Erfahrungen, die die SPD durch die große Koalition macht. Die CDU hat seit den Wahlen sechs Prozentpunkte zugelegt auf 41, und die SPD hat drei Prozentpunkte verloren auf 31 Prozent. Ist es denn wirklich so erstrebenswert, dann eine große Koalition zu bilden?

Bullerjahn: Ja, was heißt bilden? In Berlin ist das Ergebnis so gewesen, wie es eben ist. Ich glaube, es gab viele, die sich mit der großen Koalition wirklich erst beschäftigten, als die%e auf dem Tisch lagen. Da kann man nicht viel machen. Ich würde auch mal sagen, man muss da auch langfristiger denken. Frau Merkel wird auch noch ihre Probleme innenpolitisch haben, sie wird auch noch mit ihren CDU-Ministerpräsidenten und im Präsidium inhaltlich viel streiten müssen. Das kommt alles noch. Da nimmt die Bundespolitik auch keine Rücksicht auf Landtagswahlen. Weil immer welche sind, und abgerechnet wird dann in dreieinhalb Jahren, wenn die nächste Bundestagswahl vor der Tür steht.

Deutschlandradio Kultur: Nun gibt es ja auch einen Machtkampf im Moment zwischen Herrn Müntefering und Herrn Platzeck auf Bundesebene. In wieweit ist das für Sie im Land Sachsen-Anhalt von Bedeutung?

Bullerjahn: Ja, also "Machtkampf", ich denke, es geht eher darum, dass jetzt alle ihre Rolle finden. Franz Müntefering war jemand, der unheimlich präsent war durch die vielen Funktionen. Er ist ein hochpolitischer denkender Mensch, er ist ein starker Vize-Kanzler und nun muss, Platzeck auf der einen, Peter Struck auf der anderen, so manches Präsidiumsmitglied wiederum damit umgehen, sich in diese neue Rolle zu finden. Ich denke, da haben wir noch Optimierungsbedarf und daran arbeiten wir auch.

Deutschlandradio Kultur: Nun muss Herr Platzeck sich ja profilieren in der großen Koalition und trotzdem darf er den Frieden nicht stören. Wie soll das funktionieren?

Bullerjahn: Die SPD versucht, alle Themen, das ist auch richtig so, die kritisch sind, zu lösen. Die Sozialdemokraten haben ein gewisses Sendungsbewusstsein und wollen sich dann auch wie beim Thema Rente und Gesundheit nicht vorwerfen lassen, dass sie da ausbüchsen würden. Aber ich wiederhole gerne noch mal, jetzt geht es darum, dass jeder seine Rolle findet. Und man darf nicht verkennen, wir haben im letzten Jahr als SPD doch viel durchgemacht. Es gab eine vorgezogene Bundestagswahl, wir stellen nicht mehr den Kanzler. Wir haben einen neuen Bundesvorsitzenden, wir haben doch einen sehr starken Austausch an der Bundesspitze, es treten in den Ländern zum Teil neue Leute an. All das muss man berücksichtigen, wenn man die SPD bewerten will.

Deutschlandradio Kultur: Das ist sehr allgemein, wenn Sie sagen: "Jeder muss seine Rolle finden". Sie haben vorhin gesagt: "Wir haben Optimierungsbedarf". Wer ist denn das: Wir Müntefering oder wir Platzeck?

Bullerjahn: Wir in der SPD, das betrifft alle. Auch für Franz Müntefering ist das natürlich eine neue Rolle. Wer innerhalb von wenigen Tagen von einem so wichtigen Amt wie dem Bundesvorsitz abtritt, der muss sich auch als Vize-Kanzler damit erst mal beschäftigen, was kann ich jetzt, wo muss ich jetzt vielleicht mehr einbinden. Noch dazu bei solchen schwierigen Themen wie Rente, und da kann es sicherlich passieren, dass das eine oder andere auch…

Deutschlandradio Kultur: Konkret gefragt: Hätte er Matthias Platzeck vorher informieren sollen?

Bullerjahn: Ich bin nun nicht bis zum letzten eingeweiht, wer da wen nicht informiert hat. Ich weiß, dass das nicht besonders gut gelaufen ist. Mir wäre es wichtig, wenn es beim nächsten Thema anders funktioniert.
Jeder, das trifft ja für mich auch zu in der Landespartei, der solche wichtigen Themen anfasst und damit weiß, dass das fast alle in der Bevölkerung trifft, die Rentner, die, die bald Rentner werden, auch die Jugendlichen, der muss schauen, dass er das nicht in einem Nebensatz in einem Interview so kundtut, wo andere überhaupt nicht wissen, wie sie das auffassen sollen. Ich denke aber, das weiß Franz Müntefering selber, und beim nächsten Mal werden wir schauen, dass das anders läuft.

Deutschlandradio Kultur: Müsste umgekehrt Matthias Platzeck die Partei nicht doch etwas straffer führen, als er das zurzeit tut?


Bullerjahn: Das wird noch kommen. Er hat einen anderen Stil. Andere sind aber anderes gewohnt. Ich bin ja Gast im Präsidium und Mitglied im Bundesvorstand. Auch da spricht man jetzt viel darüber.

Deutschlandradio Kultur: "Das wird noch kommen" das heißt: Er sollte?

Bullerjahn: Ja, er wird das auch machen.

Deutschlandradio Kultur: Nun ist er ja, Matthias Platzeck, Ihr großes Vorbild…

Bullerjahn: Wir sind uns sehr sympathisch und ich finde ihn auch sehr gut.

Deutschlandradio Kultur: Und er ist Ministerpräsident und Sie möchten Ministerpräsident werden in Sachsen-Anhalt. Aber den Umfragen zufolge ist es so, dass viele Leute Sie noch nicht kennen.

Bullerjahn: Das ist richtig. Das ist bei Herausforderern meistens so.

Deutschlandradio Kultur: Aber dummerweise wird schon in sechs Wochen gewählt. Viel Zeit haben Sie nicht.

Bullerjahn: Ja, da haben Sie Recht. Ich gebe auch zu, für uns war ja die letzte Wahlperiode nicht einfach. Wir haben die letzte Wahl gründlich in den Sand gesetzt.

Deutschlandradio Kultur: Historisches Tief, 20 Proznet, hat die SPD bekommen.

Bullerjahn: Ja, so kann man es auch ausdrücken, ja. Aber andere wären froh, wenn sie 20 Prozent hätten.
Wir haben dann zwischendurch, nachdem wir uns halbwegs wieder aufgestellt haben, leider den Rückzug von Manfred Püchel erlebt.


Deutschlandradio Kultur: Das ist der ehemalige Innenminister gewesen in Sachsen-Anhalt von der SPD.

Bullerjahn: Ja, der ehemalige Innenminister. Und der war ganz klar der Spitzenkandidat für die jetzt anstehende Wahl. Wir hatten eine sehr kritische Debatte um den neuen Landesvorsitzenden, die aber jetzt völlig weg ist. Wir arbeiten sehr gut zusammen. Ich selber bin erst vor einem Jahr zum Spitzenkandidaten in der Partei erkoren worden.

Deutschlandradio Kultur: Sie müssen sich jetzt nicht dafür entschuldigen.

Bullerjahn: Nein, ich will nur sagen, dass das ein Prozess ist und man muss ihn verstehen, wenn man das bewerten will. Wir denken auch längerfristiger, diese Wahl ist jetzt da, wir wollen sie auch gewinnen. Die, die sie jetzt da aufstellen, denken über den Wahlkampf hinaus.

Es ist ja das Ergebnis noch lange nicht ausgemacht. Die Parteienwerte sind aber so, dass die SPD es jetzt geschafft hat, in den letzten Monaten konstant mit der CDU um den Spitzenplatz streiten zu können, und ich denke, das ist das wichtigste.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal noch kurz beim Wahlkampf. Zurzeit regiert ja eine CDU/FDP-Koalition. Nun haben Sie schon mehrfach gesagt, Ihr Traumpartner nach der Wahl wäre die CDU, eine große Koalition. Das ist ja jetzt ein bisschen schwierig. Wie wollen Sie denn zugleich gegen die CDU Wahlkampf machen?

Bullerjahn: Also das mit dem "Traumpartner" haben Sie jetzt gesagt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man Sie gefragt hat, nach Koalitionspartnern, haben Sie die CDU vorgezogen.

Bullerjahn: Ja, das ist richtig. Ich habe da ganz klar gesagt, wir wollen gewinnen und wir wollen dann ganz klar auch Gespräche mit der CDU führen, wovon wir ausgehen, dass es dann auch zu einer vernünftigen Lösung kommt, um die Probleme anzugehen. Es gibt drei, vier Punkte, die mich bewogen haben, nach vielen Gesprächen auch innerhalb der Partei das zu sagen, was ja sonst nicht so üblich ist. Zum einen hat diese SPD ja ihre Erfahrung mit acht Jahren Tolerierung.

Deutschlandradio Kultur: Dafür stehen Sie ja mit Ihrem Namen als Garant.

Bullerjahn: Ja, die SPD ist aber heute noch lange nicht soweit, dass sie eine solche Diskussion in einer Koalition, sagen wir mal auch mit der PDS, so ohne weiteres, jetzt ohne Vorbereitung führen würde.
Und das zweite ist, das wiegt aber viel schwerer, dass ich gesagt habe, ich möchte eine Regierung führen, die in Berlin auch mit unterstützend wirkt, die sich nicht dauernd abduckt. Was bei der PDS absolut der Fall ist.

Dritter Punkt: Die SPD hat noch sehr frische Erinnerungen an den Umgang der PDS mit den Themen Hartz IV und Agenda 2010. Das war in Sachsen-Anhalt besonders drastisch. Und ein letzter Punkt ist, ich weiß nicht, was gerade in Sachsen-Anhalt aus diesem Streit innerhalb der WASG aus dieser PDS wird.
Alles dies zusammengefasst, hat uns veranlasst, so ganz klar auf die CDU zuzugehen, und trotzdem den Anspruch zu haben, eine Wahl zu gewinnen, und das kann funktionieren.

Deutschlandradio Kultur: Aber meine Frage zielte eher in die Richtung, wie wollen Sie denn jetzt dem Wähler klar machen, dass er eher Sie wählen soll und nicht Böhmer, wenn er sowieso die CDU bekommt, wenn er Sie wählt?

Bullerjahn: Indem ich ihm erkläre, was ich vorhabe. Was wahrscheinlich nicht so bekannt sein wird außerhalb des Landes, ist, dass wir mit einem eigenen Projekt 2020 seit zwei Jahren versuchen, eine Zukunftsperspektive des Landes aufzuzeigen.
Da ist mein Slogan immer, ich will nicht wie Herr Böhmer das Land verwalten, sondern ich will es gestalten. Ich war einer der ersten, der bestimmte Prozesse in der Demografie, der Finanzentwicklung, auf dem Arbeitsmarkt, für den Osten aufgezeigt hat. Und dafür werbe ich jetzt, entsprechende Lösungen auch im Wahlkampf zu proklamieren, sehr verständlich, und das ist auch der große Unterschied. Böhmer sagt "ja, wird schon irgendwie, kriege ich schon hin", während ich sage, aktiv will ich das und das und das machen und das auch in der Perspektive der nächsten 10, 15 Jahren.

Deutschlandradio Kultur: Eine Koalition mit der PDS wollen Sie aber trotzdem nicht ausschließen. Also, Sie halten sich eigentlich jede Option offen. Sie sagen, die CDU ist mein favorisierter Partner für die nächste, große Koalition, aber ein Zusammengehen mit der PDS…

Bullerjahn: Ja, ich überlege immer, warum gerade wir das nun machen sollten. Ich meine, soweit, wie ich mich herausgelehnt habe, hat sich selten ein Oppositionspolitiker herausgelehnt, und die CDU sagt jede Woche, wir lieben die FDP heiß und innig und wenn es nicht reicht, dann gehen wir zur SPD. Also, ich glaube, dass die Wähler in Sachsen-Anhalt genau wissen, was ich damit gemeint habe. Mehr ist da von unserer Seite in den nächsten Wochen nicht zu sagen. Ich merke das jetzt auch, dass in der Partei, auch bei den Medien, bei den Multiplikatoren, den Unternehmern, jeder verstanden hat, wie ich das meine.
Dass da Skepsis immer noch ist, das ist mir auch klar nach acht Jahren Rot-Rot.

Deutschlandradio Kultur: Aber hat Frau Kemna das jetzt auch richtig verstanden: Sie schließen es nicht aus und halten sich alle Optionen offen?

Bullerjahn: Ja, wenn die CDU nachher sagen würde: Jens, schön, wir haben jetzt zwar verloren und wir brauchen uns alle, aber deine Vorstellungen wollen wir alle nicht mitmachen, da kann ich ja sozusagen nicht zur CDU krauchen, das habe ich auch nicht vor. Wir wollen schon selbstbewusst Inhalte diskutieren, aber ich halte die CDU für so vernünftig, dass sie das ja auch alles weiß. Ich habe mit einigen gesprochen, wie man auch mit anderen spricht. Das Thema Rot-Rot ist, glaube ich, keins mehr, was die Parteien umtreibt, und ich wollte auch anderen Parteien nicht diese Projektionsfläche geben, die sonst keine inhaltlichen Themen haben.

Deutschlandradio Kultur: Ihnen kann man ja zumindest sicher nicht den Vorwurf machen, dass Sie es sich einfach machen, um Wahlen zu gewinnen. Sie haben gerade Ihr Papier Sachsen-Anhalt 2020 angesprochen. Im Allgemeinen malen Politiker im Wahlkampf ja den Himmel rosarot, Sie eher tiefschwarz, mit Blitz, Donner und noch Hagel dazu.

Also, Sachsen-Anhalt ist hoch verschuldet (19 Milliarden Schulden hat Sachsen-Anhalt), die Bevölkerung wird drastisch abnehmen, die Fördergelder aus Berlin wie auch aus Brüssel werden versiegen. Das sind alles die Szenarien, die Sie gemalt haben. Haben Sie nicht die Sorge, Herr Bullerjahn, dass Sie damit die Bürger doch eher verschrecken als sie für sich zu begeistern mit diesen Prognosen?

Bullerjahn: Also, wenn ich jetzt im Wahlkampf erst angefangen hätte, ein solches Szenario zu entwickeln, wäre es sicherlich schief gegangen. Aber ich habe mich nach der vergeigten Wahl zurückgezogen, ich war Geschäftsführer der Fraktion, aber das war ich dann immerhin schon so lange, dass ich jüngster, aber dienstältester war, und hatte genug Freiräume, um mich konzeptionell zu hinterfragen.

Die Ergebnisse waren für mich selber überraschend, und dann habe ich seit mittlerweile zwei Jahren den Versuch unternommen, das mit der Bevölkerung zu diskutieren. Wir haben 150 Veranstaltungen gemacht, mittlerweile 20.000 dieser Broschüren gedruckt und unter die Leute gebracht, wir haben unendliche Gespräche geführt, uns auch dabei konzeptionell weiterentwickelt. Dabei war noch gar nicht abzusehen, dass Herr Bullerjahn Spitzenkandidat wird. Das heißt, ich bin mit diesem Projekt sozusagen in diese Nominierung hineingegangen und ich habe auch keinen Anlass, das zu ändern. Ich muss den Fokus jetzt auf die Lösungen richten. Aber die Leute nehmen mir ab, dass ich das sehr wichtig nehme und versuche, für die nicht einfachen Prozesse: Demografie, finanzielle Situation, im Wahlkampf nichts zu versprechen, was ich hinterher nicht halten kann.