Bürgerräte und Petitionen

Wenn die Bürger selbst ihre Belange in die Hand nehmen

07:38 Minuten
Auf einem Fahrrad ist ein Zettel angebracht, der einen gelosten Bürgerrat in Hamburg fordert.
Die Herausforderungen in der Gesellschaft werden immer komplexer und die Forderungen nach Bürgerräten wie hier in Hamburger immer beliebter. © imago images / Hanno Bode
Von Benjamin Dierks · 06.09.2021
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Nicht mehr von Parteien und ihren Politikern abhängig sein, sondern selbst Probleme anpacken und lösen: Das verbinden viele mit eingereichten Petitionen oder Bürgerräten. Diese direkte Demokratie kann funktionieren, hat aber auch ihre Tücken.
Schmähungen, Wut und Aufbegehren im Regierungsviertel – Tausende demonstrieren hier im August in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Es sind oft die radikalen Stimmen, die Gehör finden, die Pandemieleugner und Impfgegner. Doch durch den Umgang mit dem Corona-Virus hat die Politik auch in breiteren Teilen der Bevölkerung Vertrauen verloren. Das zeigen Umfragen immer wieder. Doch es gibt ein Mittel, das Abhilfe schaffen soll, und das kommt in seichteren Tönen daher als die wütenden Corona-Proteste:
"Welche Veränderungen wollen Sie, willst du, wollen wir? Wir können die Politik dabei unterstützen, die Weichen für eine lebenswerte Zukunft für alle zu stellen. Zusammen können wir Antworten auf die dringendsten Fragen unserer Zeit finden."


Werbung für den jüngsten Bürgerrat, ein Gremium, das die Bevölkerung an politischen Lösungen beteiligen und Demokratie ein wenig direkter machen soll. In diesem Fall geht es um den "Bürgerrat Klima", der bis Ende Juni abgehalten wurde. 160 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger suchten gemeinsam mithilfe von Fachleuten und Politik nach Wegen aus der Klimakrise und formulierten am Ende Empfehlungen für die Bundesregierung. Solche Bürgerräte gibt es in den Kommunen schon länger, in der Bundespolitik stehen sie noch am Anfang. Der Wuppertaler Politikwissenschaftler Hans Joachim Lietzmann sieht in ihnen eine Chance für die Politik, Vertrauen zurückzugewinnen.
"Viele Menschen erkennen sich nicht mehr in den Parteien, in den Parlamenten. Wir haben eine unsichtbare Institution: das Vertrauen in das politische System. Und dieses Vertrauen ist massiv geschwunden. Wir brauchen neue Möglichkeiten, die Gesellschaft sichtbar werden zu lassen – und zwar für sich selber. Dass sie nicht nur repräsentiert wird, sondern dass sie sich repräsentiert sieht, dass sie sich aufgehoben fühlt in den politischen Systemen. Und ich denke, Bürgerräte können einer der Wege dorthin sein."

Wie viel direkter Einfluss ist sinnvoll?

Diese Form der Bürgerversammlung wirft eine grundlegende Frage auf: Wie viel direkten Einfluss sollen Bürgerinnen und Bürger in einer repräsentativen Demokratie haben – neben ihrer Teilnahme an Wahlen und dem gelegentlichen Besuch im Wahlkreisbüro ihrer Bundestagsabgeordneten?
"Ich glaube, es ist wirklich wichtig für Bürgerinnen und Bürger, dass sie eine Erfahrung von Wirksamkeit habe und dass sie eine Erfahrung haben, dass Politik funktioniert, insbesondere dann, wenn sie sich einbringen."
Sagt Jascha Rohr vom Oldenburger Institut für Partizipatives Gestalten, der seit Jahren Bürgergremien organisiert und begleitet. Eigentlich wollte die Bundesregierung eine Antwort darauf finden, wie viel Bürgerbeteiligung es geben soll. Im Koalitionsvertrag von 2018 vereinbarten die Unionsparteien und die SPD die Einberufung einer Expertenkommission zum Thema, die durch ein Bürgergremium begleitet werden sollte.

Erwartungen an die nächste Bundesregierung

Die Expertenrunde kam nie zustande, wohl aber ein Bürgerrat zum Thema Demokratie – mithilfe engagierter Initiativen und Stiftungen. Es folgten ein weiterer Rat zu Deutschlands Rolle in der Welt sowie der jüngste zum Klima. Die SPD-Abgeordnete Martina Stamm-Fibich hofft, dass die nächste Bundesregierung diese Bürgerbeteiligung stärker verinnerlicht.
"Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Instrumente haben, dass es jetzt aber an den handelnden Akteuren der nächsten Koalition liegen wird, es auszubauen und es so zu machen, dass wir einen direkten Draht, wie es eigentlich im Grundgesetz geht, in die Parlamente verankern. Weil ich glaube, dass wir in vielen komplexen Fragen viel besser erklären und vermitteln müssen."
Stamm-Fibich sitzt im Petitionsausschuss des Bundestags, der den Bürgern auch bisher schon die Möglichkeit bietet, Kontakt mit den Parlamentariern aufzunehmen und Anliegen vorzutragen. Jeder kann eine Petition an den Bundestag richten – und immer mehr Menschen tun es. Insgesamt reichten Bürgerinnen und Bürger im vergangenen Jahr 14.314 Petitionen ein, 785 mehr als 2019. Wenn eine Petition mindestens 50.000 Unterschriften erhält, muss der Petitionsausschuss darüber befinden, ob sie im Parlament öffentlich beraten wird.

Erfolgreiche "Tampon"-Petitionen

Ein besonders erfolgreiches Beispiel: Der Beschluss von Ende 2019, Tampons, Binden und andere Monatshygieneartikel mit dem gemäßigten Satz von sieben Prozent zu besteuern, ging auf eine Petition zurück.
"Petitionen sind wirklich ein gutes Mittel, um Anliegen in das Parlament zu bringen", sagt die Abgeordnete Stamm-Fibich. Umstritten ist, ob die Petition ausreicht und wie viel Bürgerbeteiligung es darüber hinaus geben soll.
Der FDP-Abgeordnete Manfred Todtenhausen, ebenfalls Mitglied im Petitionsausschuss, glaubt nicht, dass Bürgerinnen und Bürger noch direkter an der Politik im Bund beteiligt werden müssen.
"Auf Bundesebene ist es ja so, dass wir ein Parlament gewählt haben, wo die Entscheidungen gefällt werden, aber sich ja trotzdem jeder Einzelne an das Parlament wenden kann. Und wir merken das ja, wir sind ja quasi der Seismograf draußen in der Bevölkerung."

Pro und Contra Bürgerrat

Bürgerräte hält Todtenhausen für sinnvoll, wenn kommunal Entscheidungen getroffen werden sollen, nicht aber im Bund.
"Es ist meiner Ansicht nach ein Ausnahmephänomen, weil, wie setzen sich die Bürgerräte zusammen? Aus zufälligen Leuten, manche sind gar nicht interessiert daran, teilzunehmen, manche sind zwangsweise dabei. Man muss jeden Einzelnen immer wieder aufs Neue darauf hinweisen. Ich glaube, das ist zu kompliziert."
Befürworter halten allerdings gerade dieses Zufallsprinzip für eine der großen Stärken des Bürgerrats. So kämen auch Menschen zu Wort, die sich sonst aus eigenen Stücken kaum an politischen Fragen beteiligten, sagt Hans Joachim Lietzmann vom Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung der Universität Wuppertal.
"Das Wesentlich an diesen Bürgerräten ist, dass sie per Zufall ausgewählt sind. Das ist etwas anderes als eine Bürgerversammlung in der Kommune. Ein überraschtes Klientel, die nicht erwartet hatten, dass sie zu der Frage befragt werden, aber sehr angetan sind in der Regel und einen sehr breiten Querschnitt der Gesellschaft – man könnte fast sagen, eine Repräsentanz der Gesellschaft, – darstellen."

Die Gefahr von Enttäuschungen

Eine Gefahr allerdings sehen auch die Befürworter: Dass die Bürgerräte zwar Ergebnisse und Empfehlungen erarbeiten, dann aber kaum Beachtung finden.
"Weil dann Bürgerinnen und Bürger, die sich da engagiert haben, enttäuscht werden und das Format dann nachträglich eigentlich den gegenteiligen Effekt hat und zu noch mehr Politikverdrossenheit führt", sagt Politikberater Jascha Rohr.
Er hofft, dass die kommende Bundesregierung auf die Empfehlungen des "Bürgerrats Klima" hört, der sein Gutachten in den kommenden Tagen vorstellt. Eine Forderung: Klimaschutz soll ein Menschenrecht und alle künftigen Gesetze darauf geprüft werden. Rohr glaubt: Wenn die Politik jetzt zuhört, ist für die Bürgerbeteiligung viel gewonnen.
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