Bürgerliche Werte
Die Rhetorik von Angela Merkel zielte seit dem Leipziger CDU-Parteitag auf einen Wahlkampf im ausgehenden 19. Jahrhundert, wo Freisinn und Nationalliberale zwar über den Bismarckschen Verfassungskompromiss, aber nicht über das Ausmaß von persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit uneins waren. Das bürgerliche Selbst- und Wertebewusstsein war, anders als heute, ein stabiles, das sich in der Auseinandersetzung mit einer erstarkenden Sozialdemokratie noch ungebrochen gegen die soziale Rundumbetreuung wenden konnte.
Die bürgerliche Gesellschaft wuchs und gedieh unabhängig vom Staat nach eigenen Gesetzen und Regeln. Und nur dort, wo die soziale Integration noch unvollkommen war, bemühte sich der Staat, Hilfestellung zu leisten.
Diese Arbeitsteilung zerbrach im großen Krieg in demselben Maße, in dem die selbstverantwortete Freiheit verloren ging. Es ist nie gelungen, dieses soziale Korsett gesellschaftlicher Autonomie wieder zu errichten. Je weniger sittliche Ordnung aber eine Gemeinschaft außerhalb politisch-rechtlicher Systeme entwickelt, desto weniger frei kann sie sein.
Der Verlust des bürgerlichen Konsenses ruft nach immer neuen rechtlichen Regelungen und sozialen Sicherungsgesetzen, die die Freiheit im Bewusstsein des Einzelnen soweit zurückdrängen, dass der Appell an sie wirkungslos bleibt.
Nachdem die Bedrohung von außen, die der freiheitlichen Ordnung innere Spannung gab, weggefallen ist, bedarf es eines neuen inneren Gleichgewichts, das ohne einen Rückgriff auf die bürgerliche Freiheits- und Wertewelt nicht auskommen kann. Dabei springt zu kurz, wer allein Linke und Grüne für diese Leerstellen im Gesellschaftskörper verantwortlich macht.
Udo di Fabio hat in seinen klugen Betrachtungen über die Kultur der Freiheit zurecht darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Kritik an der bürgerlichen Kultur und dem eruptiv aufbegehrenden Antikapitalismus der 68er in geradezu idealer Weise die von der kapitalistischen Verwertungslogik geforderte soziale Mobilität des Menschen förderte. Die Befreiung aus alten Bindungen, der Angriff auf Tradition, Staat, Familie, klassische Bildungsinhalte und Institutionen bereitete kulturell das Feld für die globalisierte Wirtschaft der Gegenwart, da Menschen mit tiefen Glaubensbindungen und einer als konservativ belächelten Lebensführung eben weniger geeignet für Arbeitswelt und Konsum sind.
Doch wer immer die Schuldigen sind - das Ergebnis der Überdehnung von Freiheit im Namen der Freiheit, des Abbaus von Normen und Verbindlichkeiten und der Ermüdung der Institutionen bleibt Skepsis gegenüber selbstverantworteter Freiheit. Tocqueville hat schon im Zeitpunkt des Entstehens demokratischer Ordnungen auf die Gefahren hingewiesen, die sich daraus für ihren Bestand ergeben; zuerst verlieren sie ihre innere Spannkraft, am Ende auch ihre Fähigkeit, sich zu verteidigen.
Die Geschichte der Weimarer Republik ist immer noch der anschaulichste Modellfall dafür, wie vergeblich alle verfassungsrechtlichen Vorkehrungen sind, wenn die Menschen der freiheitlichen Ordnung überdrüssig werden und sich von ihr abwenden. Eine Zeit lang kann der Wohlstand den Mangel überdecken. Wird er nicht mehr in ausreichendem Maße reproduziert und können die öffentlichen Tugenden nicht an seine Stelle treten, tritt ein, was Ernst Wolfgang Böckenförde auf die Formel gebracht hat, dass die freien Gesellschaften die Voraussetzungen nicht erzeugen können, die ihre Existenz gewährleisten, ja man könne sogar sagen, sie bauten sie unablässig ab.
Es ist deshalb gut und richtig, wenn Angela Merkel die große Koalition nutzen will, die Voraussetzungen von Freiheit neu zu begründen. Es wäre mithin an der Zeit, in der Partei die verhinderten Debatten über Leitkultur und Patriotismus wieder aufzunehmen, denn freie Gesellschaften gründen auf Voraussetzungen, die streng genommen gegen die menschliche Natur sind: Auf einem System von Instinktverleugnungen und Selbstverboten, auf zivilisierenden Regeln, Normen und Werten, die der Gesellschaft den Halt geben, der in Autokratien und Diktaturen allein Sache des Staates ist. Wer mehr Freiheit wagen will, muss daher zuerst die bürgerliche Gesellschaft wagen.
Dr. Alexander Gauland, geb. 1941 in Chemnitz, ist Herausgeber der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" in Potsdam. Von 1987 bis 1991 war er Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei. Anfang der 70er Jahre hatte Gauland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gearbeitet. Als Publizist hat er zahlreiche Artikel und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, zur Wertediskussion und des nationalen Selbstverständnisses veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: "Anleitung zum Konservativsein".
Diese Arbeitsteilung zerbrach im großen Krieg in demselben Maße, in dem die selbstverantwortete Freiheit verloren ging. Es ist nie gelungen, dieses soziale Korsett gesellschaftlicher Autonomie wieder zu errichten. Je weniger sittliche Ordnung aber eine Gemeinschaft außerhalb politisch-rechtlicher Systeme entwickelt, desto weniger frei kann sie sein.
Der Verlust des bürgerlichen Konsenses ruft nach immer neuen rechtlichen Regelungen und sozialen Sicherungsgesetzen, die die Freiheit im Bewusstsein des Einzelnen soweit zurückdrängen, dass der Appell an sie wirkungslos bleibt.
Nachdem die Bedrohung von außen, die der freiheitlichen Ordnung innere Spannung gab, weggefallen ist, bedarf es eines neuen inneren Gleichgewichts, das ohne einen Rückgriff auf die bürgerliche Freiheits- und Wertewelt nicht auskommen kann. Dabei springt zu kurz, wer allein Linke und Grüne für diese Leerstellen im Gesellschaftskörper verantwortlich macht.
Udo di Fabio hat in seinen klugen Betrachtungen über die Kultur der Freiheit zurecht darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Kritik an der bürgerlichen Kultur und dem eruptiv aufbegehrenden Antikapitalismus der 68er in geradezu idealer Weise die von der kapitalistischen Verwertungslogik geforderte soziale Mobilität des Menschen förderte. Die Befreiung aus alten Bindungen, der Angriff auf Tradition, Staat, Familie, klassische Bildungsinhalte und Institutionen bereitete kulturell das Feld für die globalisierte Wirtschaft der Gegenwart, da Menschen mit tiefen Glaubensbindungen und einer als konservativ belächelten Lebensführung eben weniger geeignet für Arbeitswelt und Konsum sind.
Doch wer immer die Schuldigen sind - das Ergebnis der Überdehnung von Freiheit im Namen der Freiheit, des Abbaus von Normen und Verbindlichkeiten und der Ermüdung der Institutionen bleibt Skepsis gegenüber selbstverantworteter Freiheit. Tocqueville hat schon im Zeitpunkt des Entstehens demokratischer Ordnungen auf die Gefahren hingewiesen, die sich daraus für ihren Bestand ergeben; zuerst verlieren sie ihre innere Spannkraft, am Ende auch ihre Fähigkeit, sich zu verteidigen.
Die Geschichte der Weimarer Republik ist immer noch der anschaulichste Modellfall dafür, wie vergeblich alle verfassungsrechtlichen Vorkehrungen sind, wenn die Menschen der freiheitlichen Ordnung überdrüssig werden und sich von ihr abwenden. Eine Zeit lang kann der Wohlstand den Mangel überdecken. Wird er nicht mehr in ausreichendem Maße reproduziert und können die öffentlichen Tugenden nicht an seine Stelle treten, tritt ein, was Ernst Wolfgang Böckenförde auf die Formel gebracht hat, dass die freien Gesellschaften die Voraussetzungen nicht erzeugen können, die ihre Existenz gewährleisten, ja man könne sogar sagen, sie bauten sie unablässig ab.
Es ist deshalb gut und richtig, wenn Angela Merkel die große Koalition nutzen will, die Voraussetzungen von Freiheit neu zu begründen. Es wäre mithin an der Zeit, in der Partei die verhinderten Debatten über Leitkultur und Patriotismus wieder aufzunehmen, denn freie Gesellschaften gründen auf Voraussetzungen, die streng genommen gegen die menschliche Natur sind: Auf einem System von Instinktverleugnungen und Selbstverboten, auf zivilisierenden Regeln, Normen und Werten, die der Gesellschaft den Halt geben, der in Autokratien und Diktaturen allein Sache des Staates ist. Wer mehr Freiheit wagen will, muss daher zuerst die bürgerliche Gesellschaft wagen.
Dr. Alexander Gauland, geb. 1941 in Chemnitz, ist Herausgeber der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" in Potsdam. Von 1987 bis 1991 war er Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei. Anfang der 70er Jahre hatte Gauland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gearbeitet. Als Publizist hat er zahlreiche Artikel und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, zur Wertediskussion und des nationalen Selbstverständnisses veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: "Anleitung zum Konservativsein".