Bürgerkriegsflüchtlinge in Baden-Württemberg

Von Syrien nach Sickenhausen

Eine syrische Flüchtlingsfamilie steht am Grenzzaun zum Nachbarland Türkei in der NÄhe der türkischen Stadt Kilis.
Eine syrische Familie am Grenzzaun zum Nachbarland Türkei © picture-alliance / dpa/Uygar Onder Simsek
Von Uschi Götz · 19.05.2017
Sie ist geflohen, nachdem ihr Bruder von IS-Terroristen ermordet wurde: Eine junge Frau aus Syrien, die mit ihrer Familie, Mann und vier Kindern nach dreijähriger Flucht nach Deutschland kam. In Baden-Württemberg fand sie mit ihrer Familie eine neue Heimat.
Vor 70 Jahren kamen ostpreußische Flüchtlinge in dem baden-württembergischen Ort Sickenhausen, nahe Reutlingen an. Es waren Witwen mit ihren Kindern. Unter den Flüchtlingen war auch eine damals 20-Jährige junge Frau. Die Frau blieb in Baden-Württemberg und gründete mit einem Schwaben eine Familie. Ihre jüngste Tochter ist unsere Landeskorrespondentin Uschi Götz.

Heute sind es syrische Geflüchtete in Sickenhausen

Als sie sich auf die Spurensuche nach der Vergangenheit ihrer Mutter macht, trifft Uschi Götz in Sickenhausen auf eben angekommene Flüchtlinge, darunter eine junge Frau, die eine mehrjährige Flucht aus Syrien hinter sich hat. Mehrfach unterhalten sich die beiden. Am Ende steht ein Geschichte, die der Fluchtgeschichte ihrer Mutter auf traurige Weise gleicht.
Die Geschichte von Felek Omar:
Ein großes Haus, ein Garten mit Bäumen, Blumen, viele Geschwister. Felek Omar erzählt aus ihrer früheren Welt. Der Rahmen stimmt, doch hinter der Fassade lebt es sich mühsam. Als junge Frau hat sie wenig Perspektiven.
2011 kommt es in Syrien zu Protesten der Opposition. Vor allem aus den syrischen Städten Daraa und Qamischli werden gewaltsamen Auseinandersetzungen gemeldet. Die Regierung geht brutal gegen die Demonstranten vor. Der Beginn des syrischen Bürgerkriegs.

Felek heißt "Schicksal

Felek Omar ist bereit ihre Geschichte, ihre Fluchtgeschichte, zu erzählen, allerdings wählt sie dafür einen anderen Namen.
Felek möchte sie hier heißen, was im Türkischen Schicksal bedeutet. Die Frau kommt aus Syrien, doch ihre Flucht führte sie quer durch die Türkei. Dort entschied nahezu täglich das Schicksal, ob und wie es weitergeht. So sieht sie es heute.
In einem Dorf zwischen Qamischli und al-Hasaka im Nordosten Syriens, nicht weit von der türkischen Grenze entfernt, wächst sie mit fünf Schwestern und vier Brüdern auf. Eine kurdische Großfamilie, wie es in der Gegend viele gibt.
In Afghanistan sind laut UNHCR viele Menschen auch innerhalb des Landes auf der Flucht.
Viele Flüchtlinge sind jahrelang auf der Flucht.© dpa / picture alliance / Hedayatullah Amid
Sie ist eine gute Schülerin, 12 Jahre lang besucht sie die Schule. Wann immer es die Zeit in der Großfamilie zulässt, lernt sie, macht ein gutes Abitur, doch sie hat nicht viel davon haben.Lehrerin möchte sie werden, und eigentlich hätte sie gute Chancen auf ein Studium in Syrien. Doch ihre Kultur sieht einen anderen Lebensweg für die junge Frau vor. Mit 18 Jahren heiratet sie einen der Nachbarsöhne. Keine klassische Zwangsehe, aber außer Heiraten gibt es für sie kaum einen anderen Lebensweg.

Die Angst wächst täglich

Mit 19 bekommt sie ihr erstes Kind, ein Mädchen. Auf engstem Raum lebt sie von nun an mit der Familie ihres Mannes in einem Haus.
2009 kommt das zweite Kind, dieses Mal ist es ein Junge. Die Familie zieht nach Hasaka, einer Großstadt im Nordosten von Syrien. Die Stimmung in der von Kurden und Arabern bewohnten Stadt ist aggressiv. Feleks Mann hat einen Job mitten im Zentrum von Hasaka, doch die Situation wird immer bedrohlicher.
Nach einer Weile beschließt das Ehepaar mit den beiden kleinen Kindern wieder zu gehen. Die Angst wächst täglich, der Mann könnte zum Militär eingezogen werden.
Sie gehen zurück in ihr Heimatdorf. Die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates sind mittlerweile überall, in einer Nacht zieht der IS mordend auch durch Feleks Ort. Sie spricht von der schwarzen Nacht.
Am frühen Morgen klopft ihr Vater an die Tür, bittet sie nach unten. Auf der Straße steht ihre weinende Mutter. Felek erfährt vom brutalen Tod ihres 16-Jährigen Bruders.
Der tote Bruder liegt im Garten, seinen abgetrennten Kopf haben IS-Terroristen neben seine Schuhe gelegt. Auch der Nachbarsjunge wurde auf dieselbe Weise ermordet. Dessen Vater erträgt den Anblick seines so zugerichteten Kindes nicht. Er stirbt noch an diesem Morgen.

Die Mutter drängt die Familie zur Flucht

Felek ist mittlerweile im neunten Monat mit ihrem 3. Kind schwanger. Ihre Mutter drängt die Familie zur Flucht. Mit ihrem Mann beschließt sie aus Syrien zu flüchten. Eilig packen sie ein paar Kindersachen zusammen und verlassen ihr Heimatdorf. Unterwegs verkauft Felek ihren Ehering und Ohrringe. Das Geld ist für ein warme Decke, die sie für das bald kommende Kind im Gepäck haben möchte.
In Malikiya, am äußersten Zipfel Syriens, etwa 100 Kilometer von Zuhause entfernt, bekommt Felek Omar im August 2013 in einem Krankenhaus ihr drittes Kind, ein Mädchen. Etwa fünf Monate bleiben sie in der syrischen Stadt direkt an der türkischen Grenze. Längst gibt es keine Arbeit mehr, auch nicht mehr viel zu essen. Die Lage spitzt sich zu. Überall gibt es Gefechte, es kommt zu Gräueltaten.

Monatelange Odysee

Monatelang irren Felek, ihr Mann und die drei kleinen Kinder, im Grenzgebiet zur Tükei umher. Felek erfährt vom Tod ihrer Mutter. Mittlerweile sind alle ihre Geschwister auf der Flucht.
Mit ihrer Familie schließt sich Felek anderen Flüchtlingen aus Syrien an. Ein paar Tage warten sie im Grenzgebiet auf einen Schlepper.
Schon wieder ist sie hochschwanger, das 4. Kind wird bald kommen. Sie will nicht, dass anderen Flüchtlinge, erst recht nicht der Schlepper von der nahenden Geburt erfahren.
Als die Wehen einsetzen, verlässt sie die Gruppe. Eine alte Frau unter den Flüchtlingen bekommt die schwierige Situation der Schwangeren mit. Sie bietet Felek Hilfe an, lässt sie eine Hose anziehen, in die das Neugeborene fallen kann. Während die Gruppe weiterzieht, bekommt Felek ihr 4. Kind. Kaum ist das Baby da, schließen sie sich schnell wieder der Gruppe an.
In einem syrischen Dorf mit Blick auf die Türkei vertrauen sie sich erneut einem Schlepper an. Wochenlag versteckt dieser die Familie in einem Haus, unregelmäßig bringt er ihnen Essen vorbei. Sinnlose Tage vergehen.
Immer wieder unternimmt der Schlepper mit der sechsköpfigen Familie einen Vorstoß zur türkischen Grenze. Doch türkische Grenzpostens entdecken die Flüchtlinge und drängen sie zurück.

Türkische Posten schießen in die Luft

Irgendwann sind sie wieder zu Fuß in den Wäldern unterwegs, sehen die Lichter der Grenzposten, müssen vor- und dann wieder zurücklaufen. Felek trägt ihr Baby auf dem Arm, an der Hand hält sie die Zweitjüngste. Sie haben kaum noch Kraft, doch der Schlepper treibt die Familie zur Eile an.
Plötzlich fallen Schüsse. Wieder hat man sie entdeckt. Doch die türkischen Grenzposten haben nur in der Luft geschossen. Die Familie kann die Grenzlinie überqueren und ist endlich in der Türkei.
Hier wollen sie sich niederlassen. Die Heimat ist nicht ganz so fern, auch viele ihrer Landsleute leben in der Türkei. Sie haben kaum Geld, doch viele Türken helfen den Flüchtlingen, geben ihnen zu essen und manchmal auch ein Dach über dem Kopf.
Je mehr Flüchtlinge aus Syrien in die Türkei strömen, desto angespannter wird die Lage allerdings für sie. Das gilt vor allem für geflüchtete Kurden. Im Umfeld von Felek kommt es zu Auseinandersetzungen. Mit ihrem Mann beschließt sie wieder zu gehen. Aber wohin? Sie haben kein Ziel, Hauptsache weg.
Deutsche Marinesoldaten fahren mit einem Boot zu einem überfüllten Flüchtlingsboot auf dem Mittelmmer. Die Deutsche Marine hat am 15.04.2017 in einer Rettungsaktion etwa 60 Kilometer nordwestlich von Tripolis vor der libyschen Küste fast 1200 Migranten im Mittelmeer aus Seenot gerettet und nach Italien gebracht.
Hoffnungslos überfüllte Flüchtlingsboote für die Verzweifelten: Bundeswehr rettet fast 1200 Geflüchtete aus Seenot.© Bundeswehr/dpa
Eine Schwester von Felek lebt in Dänemark und schickt der Familie Geld. Damit können sie sich erneut einen Schlepper leisten. Er soll sie aus dem Land bringen. Es ist der Anfang einer Odyssee. Mit anderen Flüchtlingen werden sie in einem Bus nach Izmir an der westtürkischen Ägäis-Küste gebracht. Tagelang warten sie in Izmir mit Landsleuten auf ein Boot. Je länger Felek ins Meer schaut, desto mehr Angst bekommt sie vor dem Wasser.
Die von Schleppern organisierten Boote sind klein und in schlechtem Zustand. Felek kann sich nicht vorstellen, in einem dieser Boote auch nur auf die andere Seite der Bucht im Hafen von Izmir zu kommen.

Zu Tode erschöpft

Erschöpft von zwei Geburten während der Flucht, keine Perspektive für die Familie und immer vier kleine, fordernde Kinder um sich - Felek hat ihre Gedanken in Izmir bisweilen nicht mehr unter Kontrolle. Sie sieht ihren toten Bruder auf dem Meer treiben. Sie kann nicht mehr und beschließt auf keines der wackligen Boote zu steigen. An einem Tag bittet sie ihren Schlepper, er möge sie zusammen mit ihrer Familie erschießen.
Der Schlepper lässt sich scheinbar erweichen, und plant eine neue Fluchtroute für die Familie.Kreuz und quer werden die Omars mit anderen Flüchtlingen im Bus durch die Türkei gefahren. Zunächst Richtung Istanbul, dann wieder zurück in Richtung Izmir. Wo sie genau sind, das wissen die meisten Flüchtlinge nicht.
Irgendwann werden Omars mit anderen Flüchtlingen in einem Waldstück ausgesetzt. In dieser Nacht beginnt es zu schneien. So kalt war es schon lange nicht mehr in der Türkei. Felek hat keine trockenen Hosen und Pullover mehr für die Kinder. Alle werden sie krank.
Wieder scheint die Situation ausweglos. Die Kinder weinen, ein paar Keksrollen sind bald schon verbraucht. Sie irren in einem Wald umher und treffen dabei auf andere, planlose Flüchtlinge. An einem Morgen kommen sie an einem Strand heraus. Schnell sind sie alle zusammen über 30 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak.
Kaum haben sie sich untereinander verständigt, wird die Gruppe von drei bewaffneten Männern eingekreist. Die Männer zwingen alle auf ein marodes Boot. Das Meer ist aufgewühlt, doch die Flüchtlinge haben keine Wahl. Panisch springen alle viel zu schnell ins Boot.
Feleks älteste Tochter stürzt dabei und bleibt auf dem Bootsboden liegen, andere Flüchtlinge treten in Panik auf das Kind. Felek schreit, doch das Boot legt ab, weder sie noch ihr Mann kommen an ihr Kind heran; keiner darf sich bewegen, es sind zu viele an Bord, bei jeder kleinsten Bewegung könnte das Boot kippen.

Ungezählte Stationen, dramatische Situationen

Kaum sind sie auf dem offenen Meer unterwegs, läuft eiskaltes Wasser knöcheltief ins Boot. Felek ist sicher: ihre Tochter auf dem Boden ist tot und wenn nicht stirbt sie jetzt. Wie lange es dauert bis sie das Ufer erreichen, sie weiß es nicht mehr. Irgendwann steigen alle aus, sie bleibt im Boot, bückt sich nach ihrem Kind. Das Kind lebt, ist aber unterkühlt.
Die Flüchtlinge machen sich ein großes Feuer und trocknen ihre nassen Sachen. Feleks Tochter kommt langsam wieder zu sich. Es ist der 7. Februar 2015 als Familie Omar die Grenze nach Griechenland überquert. Fast zwei Jahre sind sie jetzt schon auf der Flucht.
Ungezählte Stationen, dramatische Situationen, Felek weiß nicht mehr, wo sie und ihr Mann in den kommenden Monaten überall in Griechenland hin- und hergefahren werden. Irgendwann fährt in einem griechischen Lager ein Bus vor. Namen werden vorgelesen, auch der Name Omar fällt. Sie steigen in den Bus ein, der sie nach Mazedonien bringen soll.
Kinder stehen zwischen den Zelten eines Flüchtlingslagers.
Flüchtlingslager auf einem Teil des ehemaligen Olympia-Geländes von Athen.© AFP/LOUISA GOULIAMAKI
Irgendwo mitten in einer ländlichen Gegend hält der Busfahrer an, bittet alle Flüchtlinge auszusteigen. Stundenlang laufen sie schon an einer Straßen entlang, als sie von griechischen Polizisten gestoppt werden. Diese sind nett, aber sehr bestimmt. Die Flüchtlinge werden auf verschiedene herangerufene Polizeiautos verteilt. Im Konvoi werden alle zur mazedonischen Grenze gebracht.
Dort schließen sie sich einer großen Zahl anderer Flüchtlinge an. In Gruppen von etwa Einhundert Flüchtlingen laufen sie jetzt tagelang durch Serbien, später durch Ungarn. Im tiefsten Winter kommen Felek und ihre Familie in Österreich an. Von Österreich aus fahren mehrmals am Tag Züge in Richtung Deutschland. Deutschland? Felek hat in der Schule von Europa gehört, aber wo Deutschland liegt, das weiß sie nicht.
Mitte Februar 2016 fährt ihr Zug in den Hauptbahnhof von München ein. Sie werden von Menschen herzlich begrüßt, selbst die Polizisten sind nett und höflich. Von der bayrischen Landeshauptstadt geht es nach Baden-Württemberg.

Von München nach Schwaben

Die Fahrt mit dem Bus endet in der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge im schwäbischen Meßstetten, über 200 Kilometer von München entfernt. Doch auch dort werden sie nur ein paar Tage bleiben können. Die sechsköpfige Familie wird weiter nach Heidelberg verlegt. In Heidelberg erfahren die Omars, sie werden bald in eine kleinere Unterkunft umziehen.
Wieder packen sie die wenigen Habseligkeiten ein, die ihnen auf dem langen Weg geblieben sind. Wieder fahren Busse vor. Dieses Mal dauert die Fahrt etwa zwei Stunden und endet in dem Reutlinger Teilort Sondelfingen, am Fuße der Schwäbischen Alb.
Im Dezember beziehen sie eine eigens für Flüchtlinge gebaute Unterkunft in Sickenhausen, ebenfalls ein Ortsteil von Reutlingen. Der Bezirksbürgermeister heißt die Flüchtlinge herzlich willkommen. Die Omars bekommen zwei Zimmer zugeteilt.Mit 55 weiteren Flüchtlingen leben sie jetzt in Sickenhausen unter einem Dach.

Ein neues Zuhause

Ein Freundeskreis kümmert sich um die Flüchtlinge in Sickenhausen. Felek ist heute 30 Jahre alt. Sie und ihre Familie werden von der Kunsttherapeutin Susanne Wendt-Auda betreut. Felek ist dankbar und weiß die Hilfe zu schätzen. Nach einer langen Flucht spürt Felek, sie kommt langsam an in der neuen Welt, es fühlt sich wie ein Zuhause an. Wie alle wünscht sie sich jetzt für ihre Familie eine Wohnung.
Heimweh nach Syrien hat Felek nicht. Ihre Mutter ist tot, der Bruder ermordet, das Land zerstört. Ihre Geschwister leben irgendwo in Europa verstreut, eine Schwester wohnt in der Türkei. Nur ihr Vater ist in Syrien geblieben und hat wieder geheiratet. Langsam kommt die Hoffnung zurück. Seit fast einem halben Jahr besucht Felek einen Deutschkurs. Wieder lernt sie auffallend schnell, versteht schon gut Deutsch.
Für ein Interview reicht der Mut noch nicht. Doch an anderer Stelle kommt der Mut zurück für einen Lebensentwurf, den sie als junge Frau in Syrien hatte, aber nicht weiter verfolgen durfte: Sie möchte eine Ausbildung machen. Lehrerin wird sie nicht mehr werden können, aber vielleicht Krankenschwester oder Erzieherin.

Hören Sie zum Thema Flucht auch den Beitrag unserer Autorin vom 18. Mai 2017 im "Länderreport": Von Ostpreußen nach Sickenhausen - Flüchtlinge in Baden-Württemberg nach 1945.
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