Bürgerbeteiligung

Die Hälfte des Parlaments per Losentscheid bestimmen

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Illustration einer Reihe von erhobenen Händen unterschiedlicher Hautfarbe.
In einer Demokratie müssen Bürger das Gefühl haben, dass ihre Stimme tatsächlich zählt, meint Matt Aufderhorst. © imago / Ikon Images / Gary Waters
Ein Kommentar von Matt Aufderhorst · 31.08.2021
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Der Journalist Matt Aufderhorst fühlt sich vom Wahlkampf der Parteien nicht angesprochen. Er fordert eine Demokratie zum Mitmachen, in der die Beschlüsse der Bürgerversammlungen ernst genommen werden und alle die Chance haben, Abgeordnete zu werden.
"Man müsse im Leben wählen zwischen Langeweile und Leiden", hat Madame de Staël mal gesagt. Aber nicht jetzt. Die Demokratie lädt zum aufregenden Engtanz ein. Dich und mich, wohlgemerkt.
Ich habe sogar einen Liebesbrief bekommen, klassisch per Post. Von ihr, der repräsentativen Demokratie. Alle vier Jahre umschmeichelt sie mich, schickt mir als Briefwahl-Präsent ein Kreuzworträtsel mit vielen Namen, deren Klänge auch diesmal, altbekannt, etwas ausgeleiert scheppern – Laschet, Scholz, Baerbock, Lindner.
Die Parteien wissen, dass sie uns vor der Wahl das Gefühl geben müssen, dass wir nicht nur ephemeres Verlangen hervorrufen, sondern dass unsere Stimme tatsächlich zählt. Deswegen das Einfallsreichtum an schmackhaften Ködern, die auf den Postern allerlei versprechen, was wohl am Ende grüner, schwarzer, gelber oder roter Kapitalismus-Eintopf wird.

Fortschritt kommt nicht durch Geschenke von oben

Noam Chomsky hat mal gewarnt, dass wir uns keine Illusionen über die politischen Parteien machen sollten und dass sowohl fortschrittliche Gesetze als auch sozialer Wohlstand im Laufe der Jahrhunderte stets durch den Kampf des Volkes und nicht durch Geschenke von oben errungen wurden.
Was das für uns als demokratische Wählerïnnen heißt, die in Klimakrisenzeiten mehr sein wollen als Stimmvieh für die nächste Legislaturperiode?
Neben dem Selbst-Aktiv-Werden in Parteien oder Vereinen – Grundvoraussetzung jeder Zivilgesellschaft – sollten wir Treffen mit anderen organisieren, regelmäßige, auf kommunaler Ebene: Citizens' assemblies. Die Einwohnerïnnenversammlungen stellen ein bewährtes Mittel der deliberativen Demokratie dar. Es finden öffentliche Beratungen über anstehende Entschlüsse statt.

Bürgerversammlungen beschließen Leitlinien

Nun zum Knackpunkt dieser Teilhabe: Die in der Citizens' assembly beschlossenen Leitlinien müssen genau dies sein: Leitlinien, die verbindlich Teil des Entscheidungsprozesses werden. Sprich: von den Verantwortlichen nicht ignoriert werden dürfen. Wie das gehen soll? Mit einem Kniff der 68er, allerdings, was die Geschwindigkeit betrifft, potenziert: dem juristischen Durchmarsch durch die Institutionen.
Was berechtigte Klagen erreichen können, haben junge Klimaktivistïnnen erst Ende April bewiesen, als das Bundesverfassungsgericht das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung für teilweise verfassungswidrig erklärt hat. Karlsruhe wurde zur politischen Arena, im Sinne Hannah Arendts, die Politik als einen Akt des gemeinsamen Handelns definiert hat.
Benjamin R. Barbers Credo, starke Demokratie sei die Politik von Amateurïnnen, knüpft hier an.

Wir brauchen eine Parlamentsreform

Davon inspiriert schlage ich eine Änderung des Wahlsystems vor: Wie wäre es mit "Sortition" bei der Wahl der Volksvertreterïnnen? Per Losverfahren, also nach dem Zufallsprinzip, würde die Hälfte des Parlaments bestimmt, aus der Gesamtheit der Bevölkerung, sagen wir alle zwei Jahre. Sortition wurde schon im attischen Seebund eingesetzt. Du oder deine Nachbarin könnten ausgelost werden. Die parteiunabhängigen Neulinge bekämen Rat von Expertïnnen. Versuche in Belgien und den Niederlanden haben gezeigt, wie konstruktiv solche reformierten Parlamente sein könnten.
Hängen wir also unsere eigenen Plakate auf. Was auf ihnen steht? Demokratie fürs Jetzt.

Matt Aufderhorst ist Radio- und Fernsehjournalist und Mitbegründer von »Authors for Peace«. Er studierte Kunstgeschichte und Deutsche Literatur. Seine Essays über Architektur und Erinnerung sind unter anderem in »Lettre International« und »WOZ« erschienen.

© Ali Ghandtschi
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