Bürger erwarten von der Politik die "Weltrettung"

Moderation: Holger Hettinger |
Stephan Speicher hat der Mehrzahl der Deutschen eine naive Haltung gegenüber der Politik vorgeworfen. Die Bürger erwarteten von einem Treffen wie dem G8-Gipfel den großen Wurf, sagte Speicher. Diese Haltung verkenne die Mechanismen der Politik und führe zu einem Verdruss an der Staatsform.
Holger Hettinger: Erst die Weltrettung erwarten, dann enttäuscht sein – darin äußert sich Untertanengeist, der sich den Mächtigen der Welt mit kindlicher Erwartung nähert. Das ist das Fazit eines Leitartikels von Dr. Stephan Speicher in der "Berliner Zeitung". Das ist eine bemerkenswerte These, die wir dann doch so interessant fanden, dass wir Stephan Speicher hier ins Studio eingeladen haben, um mit ihm die Frage zu diskutieren, wie viel Untertanengeist gibt es in diesem Land. Schönen guten Morgen, Herr Speicher.

Stephan Speicher: Guten Morgen.

Hettinger: Herr Speicher, Sie schreiben, die Diskussion um Heiligendamm, vor allem die Vorabverachtung, hat eine verbreitete Neigung offenbart, alle moralische Erwartung an die Politik zu delegieren. Wo zeigt sich das?

Speicher: Ich glaube beispielsweise in der Umweltfrage. Es gibt ja da seit vielen Jahren beständige Umfragen, und das Ergebnis ist immer das gleiche. Die Bevölkerung wünscht stärkeren Umweltschutz, sie ist von der Politik enttäuscht, die zu wenig tut. Aber wenn man dann beispielsweise nach der Bereitschaft fragt, ein Tempolimit hinzunehmen, ist schon Schluss mit der Freude am Umweltschutz. Dabei weiß ja im Grunde jeder, dass sein persönliches Konsumverhalten und das der vielen Millionen anderen, mit denen wir hier in diesem Land leben, entscheidend ist. Es wird eben kein Flug angeboten, in dem nicht Leute sitzen, die fliegen wollen, und kein Auto verkauft, das nicht irgendjemand gekauft hat. Es gibt das Drei-Liter-Auto nicht, ist aber wohl auch nicht nach gefragt worden. Und das ist etwas, was mich doch, muss ich sagen, wirklich ärgert, diese Bereitschaft, der Politik in jedem Moment Versagen zuzusprechen, das Einknicken vor der wirtschaftlichen Macht und persönlich aber auch nichts, sozusagen nach einer besseren Politik nicht wirklich verlangen.

Hettinger: Das ist das altbewährte Sankt-Florians-Prinzip: Verschon unser Haus, zünd andere an. Was hat das mit Untertanengeist zu tun?

Speicher: Na ja, ich glaube, der klassische Untertan ist ja derjenige, der – von Heinrich Mann zur literarischen Figur erhoben –, der alles von der Obrigkeit erwartet und ihr auch zutraut, dass sie das gibt, der sich an der Macht, die die Obrigkeit ausübt, ergötzt und indem er sich ihr selbst unterwirft, dann doch an dieser höheren Macht teilhat. Das, glaube ich, gibt’s inzwischen nur noch selten. Obwohl, wenn man genauer hinguckt, auch in Betrieben, ist die Neigung, glaube ich, so gering dann doch wieder nicht. Ich glaube, der heutige Untertan ist eigentlich derjenige, der mit Freunden zusammensitzt und sich über die Obrigkeit erhebt, mit allem unzufrieden ist, auf diese Weise auch sozusagen durch diesen Generalverdruss an den öffentlichen Dingen kaum mehr teilnehmen will, aber aus einer ähnlichen Haltung, aus dieser Erwartung, die öffentlichen Gewalten müssten alles richten. Das können sie aber nicht, das konnten sie auch früher nicht und werden sie wahrscheinlich nie können. Es gibt also so eine Erwartung, die gar nicht befriedigt werden kann. Herbert Grönemeyer hat in der "TAZ" gesagt, die Politik trifft sich in Heiligendamm nicht, um die Welt zu retten. Zum Schluss geht’s nur ums Geld. Da muss ich sagen, ja natürlich wird die Welt nicht gerettet. Wie sollte das auch gehen? Und die Erwartung, so was wie Weltrettung könne vonstatten gehen, ist eine Erwartung von Kindern, die Märchen lesen. Und zum Erwachsenwerden gehört zu wissen, das gibt’s eben nicht. Und ich glaube, in dieser Art von Generalkritik an der Politik zeigt sich so ein kindliches Vertrauen in höhere Mächte, das eben ganz unpolitisch ist.

Hettinger: Wie sähe denn eine erwachsene Haltung aus zu diesem Problem?

Speicher: Ich glaube, erwachsen wäre zu sagen, das alles geht eben langsam, schwierig, schleppend. Ich habe so zur Vorbereitung auf Heiligendamm mal gelesen, was Bismarck über die Vorgeschichte des Berliner Kongresses schreibt. Und das ist wirklich interessant, weil er vor allem die Politik in England, einem demokratischem Land, mit der in Russland vergleicht. Er hält die englische Politik nicht für ideal, aber für besser – sehr interessant für einen Monarchisten –, aber interessant ist vor allem, wie dieser Mann beschreibt, wie schwer alles politische Sich-Verabreden ist, und dass auch in der Monarchie, in der man ja denken könnte, dass alles leichter geht, weil nur einer die Gewalt ausübt, dass auch in der Monarchie das alles schwierig ist, unberechenbar, durchkreuzt wird von verschiedensten Interessen, von persönlichen Empfindlichkeiten. Man muss einfach bereit sein, ununterbrochen mit Enttäuschungen und Rückschlägen zu leben, wie im Übrigen ja eigentlich in allen Lebensverhältnissen. Das ist ja im Beruf oder in der Familie nicht anders. Nur in der Politik habe ich den Eindruck, gibt es eine wirklich starke Neigung, auf den ganz großen Wurf zu warten. Und das kann nur Enttäuschung zur Folge haben und zum Schluss dann natürlich auch richtiger Verdruss an der Staatsform. Das ist es, was mich beunruhigt.

Hettinger: Glauben Sie nicht, dass dieses Gemecker, dieses Klein-Klein an der Politik auch so etwas wie eine reinigende Wirkung haben kann für diejenigen, die da schimpfen?

Speicher: Ja, das kann sein. Das weiß ich natürlich auch nicht so genau, ja, vermutlich haben Sie Recht. Und ob das dann auch wirklich so ernst gemeint ist und ob die Leute wirklich so enttäuscht sind, das weiß ich auch nicht. Aber immerhin, also diese sinkende Wahlbeteiligung in praktisch allen Ländern des Westens, die ist immerhin kein gutes Zeichen. Und ich glaube auch nicht an die Beruhigung, die Leute gingen nicht zur Wahl, weil sie die Dinge eigentlich für ganz gut in Ordnung hielten. Ich glaube, da gibt es schon eine Entfremdung zwischen Bürger und öffentlicher Sphäre. Ja, vielleicht haben Sie Recht, aber so ganz überzeugt’s mich nicht. Ich glaube, da gibt’s schon ein richtiges Problem.

Hettinger: Lassen Sie uns noch mal kurz zurückkommen, Stephan Speicher, auf Ihren Artikel. Sie schreiben: "Erst die Weltrettung erwarten, dann enttäuscht sein. Was hier klar ist, das ist der Untertanengeist, der sich ausstülpt, die kindliche Erwartung an die Obrigkeit." Über die kindliche Erwartung haben wir eben gesprochen, aber wieso Untertanengeist, denn die Protestler nehmen doch für sich auch in Anspruch, eben nicht zu allem Ja und Amen zu sagen, sondern sich da auch wirklich einzubringen, sich zu reiben.

Speicher: Das ist ja auch auf jeden Fall ein Fortschritt in der politischen Kultur. Allerdings, viele dieser Protestformen, die ja auch gelobt wurden für ihre Phantasie, sind eben doch so ein generelles Nein. Also beispielsweise diese Clowns-Verkleidung. Das sollte natürlich auch einfach das Vermummungsverbot umgehen, hat also so eine rein technische Komponente, aber es ist eben auch dieses generelle "Ich mach nicht mit". Der Clown ist ja sozusagen eine kindliche Figur. Der Clown ist derjenige, der sich von allem Kompromiss, von aller Beteiligung an der Wirklichkeit absetzt, der sich durch dieses grell geschminkte Gesicht schon gleich sagt, bei mir gibt es Ja und Nein und nichts dazwischen. Die feinere Mimik ist ja in der Clowns-Maske eigentlich ausgeschlossen. Mich befriedigt das nicht, diese, wie es dann heißt, fantasievollen Protestformen. Ich sehe da eher so eine generelle Verweigerung der politischen Vorgänge mit ihren notwendigen Kleinlichkeiten, die man hinnehmen muss, wenn man eben sich an der Politik beteiligt. Und Demokratie, glaube ich, besteht auch in dem Zwang, all diese ernüchternden und langweiligen und bürokratischen Dinge hinzunehmen.

Hettinger: Oder wenn man sich engagiert letztlich, wenn man in eine Partei eintritt, ist es ja auch nicht gerade angenehm. Da sitzt man in verräucherten Hinterzimmern, da hat man mit irgendwelchen stieseligen Ortsvereinen zu tun – ist das der lange Atem, den man da braucht?

Speicher: Ja, ich denke mal. Das ist das, was man eben braucht, und dazu muss man Zeit haben. Es wird ja auch nicht von allen Bürgern verlangt, aber ich glaube, so geht das eben. Man muss sich durch langweilige Entwürfe arbeiten und Papiere. Aber wir wissen doch von uns allen, wie sehr wir selbst uns auch nichts gefallen lassen, beispielsweise bei der Steuererklärung, wie selbst wir durch unser eigenes Verhalten diese Art von Bürokratie in Gang setzen, die wir dann beklagen, wenn sie uns feindlich gegenübersteht, die wir aber bei jeder Gelegenheit nutzen natürlich.

Hettinger: Sie sprechen von einer Entfremdung gegenüber dem Politischen. Es ist aber doch nun so, dass die Politik auch sehr viel unternimmt, um möglichst bürgernah zu erscheinen, um den Eindruck zu erwecken, wir verstehen euch, wir kümmern uns um eure Probleme, oft halt mit Mitteln der Inszenierung. Inwieweit trägt ausgerechnet diese Hinwendung zur Entfremdung bei?

Speicher: Ja, ich glaube schon, dass da ein Problem liegt. Es ist, glaube ich, ganz künstlich. Politiker der 50er Jahre waren in gewisser Weise bürgernäher, die lebten einfach mehr wie andere Bürger. Ich weiß also von dem Finanzminister Fritz Scheffer, das hat mir ein Verwandter erzählt, dass der abends nach Hause kam, und dann wurde die Suppe auf den Tisch gestellt, der wohnte in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Bonn, und teilte also zusammen mit seiner Frau ganz viele Erfahrungen ganz normaler Bürger. Das ist, glaube ich, heute anders, allein schon, weil der Tag des Politikers viel größer geworden ist. Der ist ununterbrochen unterwegs, der sitzt nur in wirklich ganz seltenen Fällen abends mit seinem Ehepartner zusammen und schlürft die Suppe. Das heißt also, Bürgernähe ist heute eigentlich immer schon eine Inszenierung, auch natürlich aus Sicherheitsfragen. Und auch das führt natürlich zur Enttäuschung. Es liegt ja nicht nur an den Bürgern, es liegt ja auch an der Politik, natürlich.

Hettinger: Lassen Sie uns noch abschließend ganz kurz erörtern, was müsste man tun, um das zu ändern?

Speicher: Tja, wenn ich das wüsste. Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube, dass vieles auch unvermeidlich ist. Also dieser Inszenierungscharakter bei Heiligendamm war natürlich furchtbar, aber es wird eben alles heute stärker inszeniert. Man muss sich ja nur an die Fußball-Weltmeisterschaft erinnern. Und wer die WM 30 Jahre zuvor, 32 Jahre zuvor in Deutschland erlebt hat, der weiß, was sich inzwischen verändert hat in der Inszenierung. Ich weiß es nicht, und ich fürchte, wir müssen, jedenfalls einstweilen, mit diesem Dingen leben. Es gibt auch sicherlich Sachen, die uns dafür entschädigen. Vielleicht ist das der Weg, sich seelisch zu arrangieren.

Hettinger: Vielen Dank, Stephan Speicher von der "Berliner Zeitung". Weltrettung erwarten, dann enttäuscht sein, darin äußert sich Untertanengeist. Das war unser Thema.