Buenos Aires im Independent-Fieber

Von Victoria Eglau · 22.04.2012
Das BAFICI ist in den letzten Jahren zum wichtigsten Independent-Filmfestival Lateinamerikas avanciert - und ausgesprochen beliebt bei Festival-Organisatoren aus Europa und den USA. Deutschland war in diesem Jahr mit mehreren Produktionen vertreten.
"Policeman" ist ein Film des israelischen Regisseurs Nadav Lapid. Er porträtiert Polizisten, die gegen eine Gruppe israelischer Revolutionäre vorgehen, und setzt sich schonungslos mit institutioneller Gewalt in dem nahöstlichen Land auseinander.

Beim Festival des Unabhängigen Films BAFICI, das heute in Buenos Aires zuende geht, gewann Policeman die wichtigsten internationalen Preise: bester Film und beste Regie.

Als bester Streifen des argentinischen Wettbewerbs wurde "Papirosen" des jungen Regisseurs Gastón Solnicki ausgezeichnet. "Papirosen", Name eines jiddischen Tangos, ist das Ergebnis elfjähriger Dreharbeiten. Solnicki, 34, filmte seine eigene Familie, angefangen bei der Großmutter, die aus dem polnischen Lodz vor den Nazis nach Argentinien flüchten konnte, bis hin zum jüngsten Familienmitglied, seinem Neffen Mateo.

"Papirosen" ist ein tief berührender Film über mehrere Generationen einer Immigranten-Familie, über die Gespenster der Vergangenheit und die Höhen und Tiefen des Lebens in der neuen Heimat. Dokumentation mit Spielfilm-artigem Aufbau, ist "Papirosen" auch eine universale Familiengeschichte, mit deren Akteuren sich die Zuschauer identifizieren können.

"Der Preis für ‚Papirosen’ bewegt mich zutiefst. Er ist eine wichtige Anerkennung, wichtig für meine Arbeit, für die Filme, die ich noch machen will, und die nicht einfach zu realisieren sind."

Zeigte sich Solnicki, der für seinen Film keinerlei finanzielle Förderung erhielt, erfreut über die Auszeichnung beim BAFICI – einem Festival, das Ende der neunziger Jahre klein anfing, und heute die wichtigste Independent-Filmschau Lateinamerikas ist. Das BAFICI hört nicht auf, zu wachsen: in diesem Jahr sahen mehr als 230.000 Zuschauer 450 Filme, darunter nicht nur die Wettbewerbsbeiträge, sondern eine vielfältige Palette weitgehend nicht-kommerzieller Produktionen aus der ganzen Welt. Das Festival bringt internationales Independent-Kino nach Buenos Aires und ist zugleich ein Ort, an dem vor allem lateinamerikanische Nachwuchs-Regisseure ihre Arbeit erstmals auf großer Leinwand zeigen können. Sergio Wolf, künslerischer Direktor des BAFICI:

"Wir wollen ein Schaufenster auch für kleine Filme sein, die ohne große Stars und üppige Budgets gedreht wurden. Das BAFICI will diese Produktionen fürsorglich behandeln und einem interessierten Publikum nahebringen. Wir wählen Arbeiten mit viel Persönlichkeit aus, die neue filmische Wege suchen."

Renata Costa aus Paraguay nahm in diesem Jahr zum fünften Mal am BAFICI teil, als Jurymitglied des Wettbwerbs für Filme mit Menschenrechts-Thematik. Die 31-Jährige ist selbst Regisseurin – ein Beruf, den im letzten Jahrzehnt immer mehr junge Lateinamerikaner gewählt haben. Filmhochschulen und Studiengänge sind in vielen Ländern des Subkontinents wie Pilze aus dem Boden geschossen. Obwohl üppige Budgets in den meisten Fällen nicht vorhanden sind, sei Filmemachen leichter geworden, meint Costa:

"Durch die digitale Technik ist es heute viel billiger, einen Film zu machen. Regisseure ähneln immer mehr Schriftstellern, die nur Papier, Stift und Kreativität brauchen. Ein brasilianischer Regisseur hat mal gesagt: Für einen Film braucht man eine Idee im Kopf und eine Kamera in der Hand."

Doch ein großer Teil der Absolventen der Filmhochschulen schafft es nicht, sich auf Dauer als Regisseure durchzusetzen. Einen ersten oder zweiten Film bei einem Festival zu präsentieren, sei leichter als die Chance zu bekommen, auch einen dritten oder vierten Film zu zeigen, glaubt Renata Costa.

"Viele Festivals unterstützen vor allem Erstlingswerke, aber es wäre wichtig, interessante Regisseure, die ihre eigene filmische Sprache gefunden haben, auch weiter zu fördern."

Geschichten aus dem nahen Lebensumfeld der Regisseure, verschwimmende Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion, sowie die Arbeit mit Laienschauspielern sind Merkmale, die viele beim BAFICI gezeigte Nachwuchsfilme charakterisieren. Der finnische Filmemacher Peter von Bagh, der in Buenos Aires der Jury des Internationalen Wettbewerbs angehörte, urteilt hart über das, was er als typischen Festivalfilm betrachtet:

"Viele der neueren Filme haben eine albtraummäßige Qualität, ob sie nun in Europa oder hier in Lateinamerika gedreht wurden. Er herrscht so eine Mode, Filme über fast nichts zu machen. Es ist traurig zu sehen, dass die Krankheit des modernen Kinos auch diesen Teil der Welt erreicht hat."

Filme mit Ideen und Humor vermisste Peter von Bagh in Buenos Aires, der dennoch glücklich über seine Teilnahme am BAFICI ist. Denn eine der zahlreichen Retrospektiven des Festivals wurde seinem eigenen Werk gewidmet - einer Reihe von Filmen, die der 69-Jährige während der letzten 40 Jahre für das finnische Fernsehen drehte.

"Die Festivalveranstalter sind fast blind das Risko eingegangen, meine Filme in Argentinien zu zeigen. In Finnland hat nie jemand daran gedacht, mein Werk zu exportieren. Und hier in Buenos Aires habe ich plötzlich die besten Reaktionen meines Lebens bekommen. Eine Zuschauerin sagte mir, sie sei seit Charly Chaplins ‚Großstadtlichter’ nicht so gerührt gewesen. Das ist ein Wunder für mich. Es zeigt, wie neugierig und aufmerksam das argentinische Publikum ist."

Experimentierfreudige Veranstalter und ein neugieriges und informiertes Publikum - auch bei seiner 14. Ausgabe hat das Festival des Unabhängigen Films in Buenos Aires diesem Ruf alle Ehre gemacht.