Bühnenkunst

Brot und Puppen

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Zwei Marionetten hängen in der Villa P. in der Figurenspielsammlung in Magdeburg. © (c) dpa
Von Heike Wipperfürth · 13.03.2014
Es gibt sie immer noch: Die bunte unkonventionelle Truppe von "Bread and Puppet" zählt seit 50 Jahren zu den besten Figuren- und Straßentheatern nicht nur in den USA, sondern auch weltweit. Jetzt wollen sie in Europa auf Tour gehen.
Ein Freitagnachmittag im Bread & Puppet Museum, einer 150 Jahre alten Scheune auf einem ehemaligen amerikanischen Bauernhof nahe der kanadischen Grenze. Von dunklen Holzwänden und Decken baumeln eng an eng tausende von Puppen – bis zu drei Meter hoch. Es sind düstere, verträumte und traurige Figuren aus Pappmasche. Ihre Gesichter sind riesig, mit breiten Nasen, wulstigen Lippen und großen Augen: wilde Urzeit-Gestalten.
Heute hat Shante Gallard, eine Literaturstudentin aus Puerto Rico, ihren üppigen Körper in ein viel zu enges Kleid gezwängt. Die 23jährige steht auf einer selbstgezimmerten Bühne hinter einem geschlossenen Vorhang und trägt eine Art weiße Totenmaske.
"Ich bin die vergessene Frau, eine, die sitzengelassen wurde. Jetzt wartet sie als Anhalterin an einer Schnellstraße, aber niemand nimmt sie mit. Sie steht nur da und wird mehr und mehr zur Alkoholikerin. Deshalb habe ich eine kleine Wodkaflasche in meiner Handtasche. Ganz schön deprimierend, nicht wahr?"
900 Dollar für vier Wochen Ausbildung
Sie gehört zu den 200 Künstlern, Freidenkern und Hippies, die aus einer großen Liste von Bewerbern aus aller Welt ausgewählt wurden und hier nun ein oder zwei Monate lang zu Puppenspielern ausgebildet werden. Theatererfahrung ist nicht erforderlich, dafür die Lust am Experimentieren. Neulinge bezahlen gerade Mal 900 Dollar für vier oder 1200 Dollar für acht Wochen Ausbildung. Das geht nur, weil die Gründer und Betreiber des Theaters Peter und Elka Schumann die 104 Hektar große Farm von Elkas Eltern geschenkt bekommen haben und keine Pacht zahlen müssen.
Trotzdem kann vom Puppenspiel allein das Theater nicht leben. Deshalb werden im Puppenmuseum selbstgemachte Poster, Kalender und Bücher verkauft. Staatliche Unterstützung wollen die Betreiber dagegen nicht, weil sie um die politische Freiheit des Theaters fürchten. Und sie verzichten auf Eintrittsgelder, weil es ein zentraler Bestandteil ihres Konzepts ist, Kunst frei, kostengünstig und jederzeit verfügbar zu machen. Zuschauer können nach der Vorstellung Geld in einen Hut legen, aber das reicht oft nicht aus, sagt Linda Elbow, die Geschäftsführerin von Bread & Puppet.
"Ich zähle ständig unser Geld. Zu Beginn des Sommers hatten wir 104.000 Dollar auf dem Konto, vor ein paar Wochen waren es nur noch 65.000 Dollar. Es wird immer weniger. Wir müssen trotzdem Lebensmittel für viele Leute kaufen."
Nach jeder Vorstellung gibt es selbst gebackenes Brot
Das Bread & Puppet Theater wurde 1963 von Peter Schumann auf der New Yorker Lower East Side gegründet. Zwei Jahre zuvor war der Deutsche in die USA ausgewandert. Seitdem scheint sich der ausgebildete Tänzer und Bildhauer nicht groß verändert zu haben: Mit seinem langen Haar und Bart, offenem Hemd, kaputten Jeans und Schlappen sieht der 79-Jährige immer noch wie ein Hippie aus. Bis heute bietet er dem Publikum nach jeder Vorstellung selbstgebackenes Brot an.
Schon früh war der in Breslau aufgewachsene Künstler, den die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs prägten, mit seinen Aufführungen und Happenings gegen den Krieg in Vietnam und gegen die Zustände in amerikanischen Slums aufgefallen. Seine überlebensgroßen Puppen schwebten auf langen Stangen hoch über der Fifth Avenue, während er ihnen, eine riesige Geige spielend, auf hohen Stelzen folgte. Es ging um Kunst gegen die Macht.
"Was wir sagen wollten, waren einfach die Tatsachen der Lower East Side: Die vielen Ratten, die vielen Cops. Und darüber waren die Stücke. Die Straßen waren nicht nur unsere Spielfläche, sondern auch das Material und das Sujet."
erzählt Peter Schumann. Die Vorführungen gelten als die weltweit besten der Straßentheater. Bread & Puppet sei “moralisches Theater" im besten Sinne seines Vaters Bertold Brecht, urteilte der inzwischen verstorbene Autor Stefan Brecht in seinem 1988 erschienen zweibändigen Werk über die Geschichte des Bread & Puppet Theaters. Auch Holland Kotter, Kunstkritiker der New York Times, ist voll des Lobes für das Theater. Er pries es als "Spektakel für Herz und Seele." Doch Peter Schumann begeistert nicht nur Kritiker und Theaterhistoriker. Er inspiriert auch seine Schüler, sagt die Puppenspielerin Katharine Nook.
"Peter hat mir beigebracht, dass gute Kunst vor allem dann entsteht, wenn man sich begrenzen muss. Beim Malen geht das, indem nur eine Farbe genutzt wird. Grün, zum Beispiel. Ein Puppenspieler kann sich begrenzen, indem er eine Puppe nicht schnell, sondern nur sehr langsam bewegt: Das erhöht die Ausdruckskraft."
Figuren im Vordergrund, Puppenspieler im Hintergrund
Generalprobe auf einer großen Wiese. Eine riesige Vogelfigur erscheint am Wal-drand. Gleichzeitig schreiten dunkle Figuren in hohen Hüten über die Wiese, währ-end Tänzer mit menschengroßen Arbeiterschuhen aus Pappmasche in den Händen so hoch in die Luft springen wie sie können. Eine der Tänzerinnen ist Ella Belenky. Dass die Figuren immer im Vordergrund, die Puppenspieler aber im Hintergrund bleiben müssen, ist nicht immer leicht zu bewerkstelligen, sagt die 25jährige Künstlerin.
"Ich habe entweder das Gefühl, sehr wichtig oder völlig unwichtig zu sein. Jeder Darsteller ringt mit einer Puppe, aber das sieht niemand, weil die Puppenspieler völlig gesichtslos sind. Ich denke oft, ich könnte weggehen und es wäre völlig egal. Aber ich weiß auch: Ich bin ich hier und wir sind alle zusammen. Und das ist doch das Wichtigste."
Für Aufsehen sorgen die Auftritte der Großpuppen und Masken unter freiem Himmel allemal. In den 80er Jahren dauerten die Vorstellungen zwei Tage lang und lockten bis zu 30.000 Zuschauer an einem einzigen Wochenende an. Das verlieh der Farm den Hauch eines Mini Woodstock, bis das Unvorstellbare geschah: Ein Streit im Pub-likum brach aus und kostete einem Zuschauer das Leben. Die Schumanns waren so erschüttert, dass sie die Großauftritte sofort beendeten und die Veranstaltungen seitdem im kleinen Rahmen weiterführen.
Eine Autofahrt zum Waldrand. Jason Hicks, Bandleader bei Bread & Puppet, hockt am Steuer eines alten Autos und chauffiert im Ruckeltempo über Schotterstraße und Wiese. Er will roh gezimmerte Bühnen für kleine Vorstellungen errichten – mit Hilfe klobiger Holzbalken, die nun auf dem Autodach gefährlich hin und her schaukeln. Er weiß: Hier wird nicht nur mit Puppen gespielt oder musiziert. Hier geht es auch um handwerkliches Geschick.
"Wir machen alle bei jeder Show mit. Und wir machen alles selber. Ganz egal, was es ist: Wenn etwas kaputtgeht, versuche ich, es zu reparieren. Weggeworfen wird hier nichts."
Puppen, Bühnenbild, Stücke - alles wird selbst gebaut
Alles wird selbst entwickelt und gebaut: Die Stücke, die Puppen, das Bühnenbild, die Kostüme. Der 36-Jährige in Latzhose und Schlappmütze zeigt auf dicke Klumpen in alten Bottichen – dort entstehen neue Figuren. In der Werkstatt daneben warten defekte Musikinstrumente und beschädigte Puppen auf ihre Reparatur. Oben im Nähstübchen surrt die einzige noch funktionierende Nähmaschine. In der Küche schälen Volontäre Kartoffeln, was das Zeug hält. Mit viel Humor ertragen Jason Hicks und seine Mitspieler die harten Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Viele übernachten in Zelten, ausrangierten Bussen oder auf Treppenvorsprüngen. Sie verzichten auf eine eigene Dusche und Toilette. Oder funktionieren sie um. So wie das Klohäuschen, das in eine Schlafstätte umgewandelt wurde - Jason Hicks Schlafstätte.
"Als der Spülkasten der Toilette kaputtging, haben wir erst ein Kompostklo gebaut und es dann wieder rausgenommen. Wir haben einen neuen Boden gelegt. Jetzt ist es ein Haus: Ein zwei Mal zwei Meter großer Kasten."
Rundgang über die Farm mit Lily Pink, ehemaliges Mitglied der Truppe. Jetzt verbringt sie seit Jahren den Sommer auf der Farm. Vorbei geht es an Blumengärtchen, Hühnerstall und Schafherde zum sogenannten "Billigen Kunstladen", der in einem kaputten VW Bus ohne Räder untergebracht ist. Neben Ohrringen aus Federn und handgemachtem Briefpapier gibt es hier auch das " Billige Kunst Manifesto" von Peter Schumann zu kaufen. Kunst kämpft gegen Krieg und Dummheit! " steht darin. Und: "Kunst. dürfe nicht den Banken und feinen Investoren gehören". - Mottos, denen sich Schumann und seine Truppe bis heute verpflichtet fühlen.
Gedenkstätte für ehemalige Mitglieder
Ein Fichtenwäldchen auf dem Theatergelände wurde zur Gedenkstätte für verstorbene Mitglieder der Truppe umgewandelt: mit Puppenhäusern, Photographien und Kunstwerken. Lily Pink kannte fast alle. Mit den meisten hatte sie Freundschaft geschlossen.
"Das ist die Gedenkstätte von Poppy Gregory. Hat sie nicht ein wunderschönes Gesicht? Sie ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben. Kurz vor ihrem Tod war sie noch hier und hat gekocht und mit uns gefeiert. Sie wusste aber, dass sie uns verlassen würde."
Die Königin von Saba, König Salomon, Jesus und nun auch der Enthüller Edward Snowden - das sind Figuren aus Peter Schumanns neuestem Stück. Inspiriert wurde er durch die Fresken von Piero Della Francesca, einem italienischen Maler aus der Frührenaissance, und dem US Enthüllungsskandal. Während Schumann Anweisungen gibt, bewegen fünf erprobte Bread & Puppet Schauspieler die übergroßen Masken, auf denen die Gesichtszüge der biblischen Figuren dargestellt sind. Mehr Schauspieler können für das Stück nicht engagiert werden - aus finanziellen Gründen. Denn Peter Schumann hat vor, nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa auf Tour zu gehen.
"So ein Stück darf höchstens fünf Leute dick sein, sonst kann man es gar nicht bezahlen, um es rüber nach Italien zu nehmen und nach Frankreich."
Jeden Morgen trifft sich die Truppe pünktlich um 9 Uhr im Garten neben dem Puppenmuseum. Sie bespricht den Tagesablauf und macht Ankündigungen. Unter den Puppenspielern aus aller Welt, die an diesem sonnigen Donnerstagmorgen gut gelaunt um einen Holztisch hocken, befindet sich auch Ute Ledwon – eine 62-jährige Deutsche. Auch wenn die pensionierte Studienrätin aus Berlin in einem ausrangierten Schulbus übernachten muss, genießt sie ihren Aufenthalt auf der Farm.
"Ich bin immer dort. Ich bin dort sehr sehr willkommen, sehr anerkannt, ich möchte fast sagen, geliebt, so fühle ich mich."
Heute bringt sie den Puppenspielern ein politisches Lied aus Deutschland bei. Und obwohl die zierliche Frau nicht stark genug ist, um die riesigen Puppen zu tragen oder zu bewegen, macht sie beim Theaterspiel mit - so gut sie eben kann.
"Am liebsten bin ich hinter den Kulissen oder davor. Zum Beispiel Claqueur. Das ist der Anklatscher. Damit das Publikum weiss: Jetzt ist der Moment. Wir können klatschen. Das gibt es aber nicht nur bei Bread and Puppet, das gibt es beim Theater überhaupt."
Das jährliche Dorffest in Glover. Kaum wehen an einem frühen Samstagmorgen die ersten Fähnchen auf dem Dorfplatz, ist die Bread & Puppet Band da, um zu beweisen, was sie kann. Auch die Puppenspieler sind schon aktiv: Während einige von ihnen ein kleines Puppentheater aufbauen, tragen andere einen übergroßen Elefanten aus Pappmasche, der bei einem Wettlauf der Dorfbewohner mitläuft - und als einer der letzten die Zielgerade erreicht - unter großem Beifall der Zuschauer. Von Bread & Puppet profitiere das ganze Dorf – kulturell und finanziell, sagt diese Dorfbewohnerin.
"Ich finde es toll, was Bread & Puppet alles macht. Ich nehme schon seit vielen Jahren an den Veranstaltungen teil. Als die riesigen Happenings unter freiem Himmel stattfanden, habe auch ich beim Ambulanztransport geholfen und damit auch Geld verdient. Wir haben ein großes Zelt auf der Wiese aufgebaut, um da zu sein, wenn Besucher Hilfe brauchen. Ich vermiete auch Wohnungen an Leute, die zu den Vorstellungen kommen."
Soviel ist gewiss: Das Bread & Puppet Theater gehört zu den bedeutendsten Figurentheatern des 20. Jahrhunderts. Die Hauptrolle aber spielt die Kunst, die für jeden zugänglich ist. Und das schon seit 50 Jahren.