Bücherwelten

Von Marietta Schwarz |
Pünktlich zu Semesterbeginn nimmt die größte Freihandbibliothek Deutschlands an der Berliner Humboldt-Universität ihren Betrieb auf. Der Schweizer Architekt Max Dudler hat den Entwurf für das "Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum" geliefert.
Ein schmales Grundstück und ein enges Raumprogramm: Diese Zentralbibliothek mitten in der Stadt zu planen, war weiß Gott keine leichte Aufgabe. Mehr als 270 Architekturbüros versuchten beim Wettbewerb ihr Glück. Der große Preis ging an Max Dudler, einen Sprössling aus dem Hause Oswalt Mathias Ungers, jenes Quadrat-Architekten, der vor zwei Jahren verstarb. Dudler, inzwischen 60-jährig, hat schon mehrere Bibliotheken gebaut, in Münster und in Essen. Sie haben einen hohen Wiedererkennungswert. Und das Interessante daran ist, dass sie so etwas wie ein in Stein gemeißeltes bildungsbürgerliches Manifest darstellen: Man wird das Gefühl nicht los, dass es schon einen Weltuntergang bräuchte, der dieses Bollwerk wider die Vergänglichkeit mit sich in den Abgrund reißen würde.

"Wir meinen schon, dass Architektur aus der Zeit entstehen muss, aber auch eine zeitlose Angelegenheit sein muss. Dass dieses Gebäude noch in 50 Jahren modern ist. Und das ist eigentlich das Interessante an der Auseinandersetzung mit keiner Mode, sondern Kontinuität, was die letzten 2000 Jahre Architekturgeschichte gebracht haben."

Die letzten 2000 Jahre: Sie brachten uns unter anderem eine städtebauliche Symbolik, auf die Max Dudler beim Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum zurückgreift: Stein, Turm und Platz markieren seither öffentliche Orte in der europäischen Bürgerstadt. Auch wenn der Berliner Senat beim Grimm-Zentrum die Höhe des Turmes beschnitt und der Platz hin zur S-Bahn-Trasse die Bezeichnung kaum verdient. Dennoch: Der wechselnde Rhythmus der Fensterreihen und der wunderbar sandgestrahlte Kalkstein machen das Gebäude samt seinem Umfeld zu einem spannungsgeladenen Ort.

Innen neigt man dann dazu, das Wort "Spannung" durch "Disziplin" zu ersetzen. Bis hinein in den sechsgeschossigen Lesesaal dominiert ein rigides Raster. Tageslicht fällt über das Dach auf vier sogenannte "Leseterrassen" ein, der vielbeschworene Ausblick bleibt leider ein Versprechen. Die Stadt ist weit weg, irgendwo hinter den Räumen mit Computerarbeitsplätzen, Regalen und drei, vier Glasscheiben. Man kann die Raumwirkung dieses Saals durchaus als Aufforderung verstehen, gefälligst konzentriert zu arbeiten. Dem Architekten rutschten beim Rundgang dann auch Begriffe wie "Galeere" oder "klaustrophobisch" heraus. Später mildert er ab:

"Rigide ist vielleicht das falsche Wort. Aber streng ist es vielleicht. Aber ich glaube, dass gerade in dieser Ruhe und in dieser Reduktion von Elementen und Materialien eine unheimliche Sinnlichkeit herauskommt."

Die Huldigung an die Bücher als Archiv unserer Gedanken, Ideen und Forschungsergebnisse spiegelt sich in hochwertigen Materialen wie Holz und Naturstein wider. Hier geht es nicht um das entspannte Lesen, sondern ums Studium: An schweren, mit grünem Linoleum bezogenen Stahltischen, wie vor 100 Jahren auch schon. Und umgeben von Regalen - es ist ja eine Freihandbibliothek, mit 2,5 Millionen Büchern die größte Deutschlands. Und Freihand, sagt Milan Bulaty, Direktor der Universitätsbibliothek in Berlin, bedeutet auch Freiheit. Der Gang zum Regal soll zur Entdeckungstour werden:

"Sie finden da Sachen, die Sie suchen, aber auch Anregungen, die Sie sonst nicht bekommen. Und oft sind diese zufälligen Anregungen das, was uns weiterbringt."

Lesen ist eben doch mehr als aufs Desktop starren oder das E-book anschalten: nämlich ein sinnliches Erlebnis! In Berlin-Mitte steckt eine moderne Bibliothek im zeitlosen Gewand. Hightech findet man bei der Ausleihe, da wird das Laufband mit den rückgebuchten Büchern hinter Glas sogar inszeniert. Wireless-Lan und Steckdosen gibt es selbstverständlich an jedem Platz. Mehr braucht es aber an modernen Zutaten nach Ansicht von Dudler und Bulaty nicht. Keine knalligen Farben, ungewöhnliche Formen, modisches Design oder Lümmelsofas, wie zum Beispiel bei Rem Koolhaas’ Bibliothek in Seattle. Man setzt auf das Bewährte. Und auch wenn viel vom Sterben des Buches, der Zeitung und von E-books die Rede ist: Bibliotheken als öffentliche Begegnungsstätten gewinnen in Zeiten, in denen das Wohnzimmerregal vielleicht leerer wird, eher noch an Bedeutung, glaubt Milan Bulaty:

"Wie man durch DVD nicht die Kinos oder Theater oder Museen überflüssig gemacht hat, denke ich, dass die Bibliotheken gerade durch die neuen Medien noch reizvoller werden für die meisten Menschen."