Bücherstadt mit Vorzeigearchitektur

17.10.2005
Etwa 40 Minuten von der südkoreanischen Hauptstadt Seoul entfernt entsteht derzeit eine ganze Kleinstadt, die sich ganz dem gedruckten Wort widmet und als künftiges Zentrum der südkoreanischen Verlagskultur gilt: Die Paju Book City. Ein Projekt, das dafür sorgen soll, Südkoreas Buchbranche zu modernisieren. Miriam Rossius hat den Architekten der Bücherstadt getroffen und in Paju auch den Mann besucht, der die Idee dazu entwickelt hat.
Obwohl das Büro des Verlegers Yi Ki Ung nur im zweiten Stock liegt, bietet es dem 65-Jährigen etwas, das in Südkorea immer seltener wird: Rundum freie Sicht auf die Natur. Weit und breit keine Hochhaussiedlung, die den Blick versperrt, weder auf die bewaldeten Berge im Osten, noch auf den Han-Fluss im Westen, der gleich vor Yis Bürotür liegt. Käme nicht ab und zu ein Auto vorbei, könnte man fast vergessen, dass parallel zum Fluss die "Freiheitsautobahn" verläuft. So benannt, weil sie direkt zur entmilitarisierten Zone zwischen Süd- und Nordkorea führt.

Wegen der Nähe zur Grenze ist die Landschaft hier noch lange nicht so zersiedelt wie in den meisten anderen Regionen des Landes. Die passende Umgebung für das neue Zentrum der südkoreanischen Verlagskultur, findet Yi Ki Ung:

"Ich hatte mir immer einen utopischen Ort vorgestellt, der weit weg sein sollte vom Lärm und von der Hektik großer Städte, und wo wir zugleich etwas völlig Modernes schaffen. Denn nur was den Buchhandel über das Internet angeht, ist Korea im 21. Jahrhundert angekommen. Der macht heute mehr als 10 % des Marktes aus. Aber sonst... Obwohl die Internationale Buchmesse in Seoul gut besucht ist, verkaufen wir zu wenig Übersetzungen ins Ausland, und was übersetzt wird, ist nicht gut genug übersetzt. Auch das Buchdesign hat sich erst seit einigen Jahren wirklich verbessert. Früher waren die meisten Bücher sehr ähnlich gestaltet, einfach und schmucklos. In Paju werden wir endlich eine Infrastruktur haben, die den Anforderungen des Marktes gewachsen ist. "

Konkret bedeutet das: Jeder Schritt des langwierigen Publikationsprozesses soll in Paju umgesetzt werden. Ob Lektorat, Satzgestaltung, Druck und Vertrieb oder Copyright-Verhandlungen. 20.000 Menschen werden hier einmal arbeiten, bis 2007 wollen sich etwa 300 Unternehmen ansiedeln: Alle führenden koreanischen Verlagshäuser haben Grundstücke erworben, Papiergroßhändler errichten ihre Büros neben Übersetzern und Buchdesignern, aber auch Galeristen und Computerfirmen ziehen nach Paju. Attraktiv sind für sie vor allem die Einrichtungen, die gemeinsam genutzt werden: eine automatisierte Lagerhalle mit Platz für 30 Millionen Bücher und das Vertriebszentrum, 440.000 Bände können täglich von hier ausgeliefert werden.

Yi Ki Ung: "Das Verlagssystem war bisher völlig ineffizient und schlecht koordiniert. Zwischen Verleger und Leser stehen endlos viele kleine Zwischenhändler. Darum erreichen zahlreiche Publikationen gar nicht erst das gewünschte Publikum. Das gilt für koreanische genauso wie für ausländische Titel. Die machen ungefähr 30% aus und werden oft viel schneller ins Koreanische übersetzt als in andere Sprachen. Aber dann verkaufen sich nur ein paar Tausend Exemplare. Der Rest stapelt sich in irgendwelchen Lagern - keiner weiß genau wo und wie viele, und die Kunden im Buchladen bekommen dann die Auskunft, der Titel sei vergriffen. "

Seit über 30 Jahren leitet Yi einen renommierten Kunstbuch-Verlag. Und seit inzwischen 17 Jahren arbeitet er daran, seine Vision von Paju Book City zu verwirklichen. Anfangs wurde das Projekt rein privat finanziert, von Yi und einigen befreundeten Verlegern. Aber mittlerweile erkennt auch die Regierung das Potential der Branche. Sie hat vor zwei Jahren die Mehrwertsteuer für gedruckte Bücher abgeschafft und beteiligt sich auch an dem Projekt Paju Book City, das nicht nur Südkorea im Blick hat, sondern ein Mekka für Nordostasiens Literaturszene werden will.

Yi Ki Ung: "Darauf setzen wir wirklich große Hoffnungen. Noch für dieses Jahr haben wir Verleger aus Peking, Shanghai und Tokio hierher nach Paju eingeladen. Weitere Treffen sollen natürlich folgen, ich wünsche mir eine richtige Vernetzung. Seit sich China geöffnet hat, verkaufen wir bereits mehr Lizenzen als früher und japanische Comics waren in Korea schon immer beliebt. Aber der Austausch könnte noch intensiver sein. Darum haben wir in Paju auch eine große Konferenzhalle gebaut und sie "Asiatisches Informations- und Kulturzentrum" getauft. Geografisch ist das genau der richtige Standort, um die Branche zusammen zu bringen."

So visionär wie die Paju Book City für Südkoreas Verlagswesen ist, so innovativ will sie auch für den Städtebau sein. Yi überzeugte den berühmtesten Architekten des Landes, Seung H-Sang, die Planung zu leiten. Für die in Paju investierenden Verleger und auch für den Architekten selbst war das zunächst eine Zumutung, erinnert sich Seung H-Sang:

"Als die Anfrage kam, war ich sehr, sehr enttäuscht, denn der Masterplan für Paju war bereits fertig und er verstieß komplett gegen meine Prinzipien. Das Gelände hier zwischen dem Fluss und den Bergen ist sehr feucht, darum ist die Vegetation üppig und es gibt unglaublich viele Vögel und Blumen, einfach wunderschön. Aber die Investoren wollten all das zerstören, das ganze Land trockenlegen und eine Siedlung errichten, wie sie überall in Korea gebaut werden könnte."

Standardisierte Flächenaufteilung, serienmäßige Fertigbauanlagen, Hochhauskomplexe, die alles dominieren – so ist es in Südkorea noch immer üblich, wenn neue Städte aus dem Boden gestampft werden. Doch Seung wollte einen fließenden Übergang zwischen urbanem Raum und natürlicher Umgebung schaffen. Mit modernem Design, das alten Grundsätzen folgt:

"Ich habe viel von der traditionellen koreanischen Architektur gelernt. Früher war alles aus Erde, Holz und Stein gebaut, und am Ende wurde es wieder zu Erde. Das finde ich auch für die moderne Architektur sehr bedeutsam. Denn auch heutzutage kann alles, was wir erschaffen, jederzeit wieder verschwinden. Darum sollten wir es besser auf die Natur abstimmen. Ich setze nicht auf monumentale, pompöse Architektur. Sie hat in meinen Augen keine Zukunft, diese Epoche sollten wir hinter uns lassen."

Zusammen mit fünf anderen Architekten erarbeitete Seung ein völlig neues Konzept. Zurückhaltend und mit fließenden Übergängen zwischen urbanem Raum und natürlicher Umgebung: Kein Gebäude hat mehr als vier Stockwerke, es gibt weder Mauern zwischen den Grundstücken noch große Reklametafeln. Dafür Außentreppen, begrünte Dächer und Brücken zwischen den Häusern; Öffnungen, durch die das Prasseln von Regentropfen nach innen dringt.

Sichtachsen, Terrassen und transparente Fassaden gewähren Einblicke in benachbarte Büros und – oberstes Gebot - immer auch Ausblicke auf den Fluss, die Berge und den Himmel. Einzelne Bauten sind ineinander verschachtelt oder verschlungen, andere liegen in der Landschaft wie riesige Steine.

Spektakuläre, überdimensionierte Gebäude sind aber die Ausnahme. Und selbst diese fügen sich harmonisch ins Ganze ein. Der ovale Bau eines Medienkonzerns zum Beispiel: als schwebten zwei Fußballfelder übereinander, die zuvor in Schwingung versetzt und dann durch Stahl und Glas verbunden wurden.

Zwischen den Gebäuden bleibt viel Raum für Blumenwiesen, Schilfgras, Kiesbetten, und auch im Innern gibt es immer wieder Leerräume ohne bestimmte Funktion.
Seung: "Leere, das ist ein altes koreanisches Konzept für die Gestaltung von Raum. Ohne Raum zu haben können sich Ideen, Kreativität und Träume nicht entfalten. Aber im vergangenen Jahrhundert haben wir das vergessen, weil wir der westlichen Kultur folgen wollten. Wie waren überzeugt, das ist der einzige Weg für eine erfolgreiche Zukunft. Als ich 1998 Gastprofessor in London war, hat es mich dann sehr verblüfft, wie oft europäische Architekten genau diesen Begriff benutzten: Leere. Im Westen ist heute also sehr verbreitet, was früher für unsere Architektur ganz wesentlich war."

Dass sich der Architekt und seine Auftraggeber nach langem Hin und Her doch einig wurden, dafür hat Kunstverleger Yi Ki Ung übrigens eine ebenso poetische wie einleuchtende Erklärung:

"In jedem Buch wohnt eine Seele, denn ein Buch ist wie eine Schüssel, in die man die wichtigen Dinge des Lebens hineinpackt. Mit der Architektur ist es genauso: Wer ein Haus baut, muss daran denken, was das beste und nützlichste für den Menschen ist, der darin lebt."

Service:
Mehr über Paju Book City und Seung H-Sang bieten zwei Ausstellungen in Berlin: "Paju Book City" – noch bis 27. Oktober im Aedes West und "Seung H-Sang" im Aedes Ost bis 3. November.