Riccardo Nicolosi: „Putins Kriegsrhetorik“
© Konstanz University Press / Wallstein Verlag
Man hätte es voraussehen und hören können
05:36 Minuten

Riccardo Nicolosi
Putins KriegsrhetorikKonstanz University Press, Göttingen 2025191 Seiten
20,00 Euro
Der Slawist Riccardo Nicolosi beschreibt in seinem neuen Buch detailliert „Putins Kriegsrhetorik“ – und zeigt: Der russische Machthaber hat aus seinen kriegerischen Plänen nie ein Hehl gemacht. Auch wenn der Westen das lange nicht wahrhaben wollte.
„Das ist ja nur Gerede ...“ Zahlreich sind die Beispiele, bei denen eine demokratische Öffentlichkeit die Rhetorik zukünftiger oder sich bereits im Amt befindender Potentaten und Diktatoren unterschätzt hatte. Aus den ganz offensichtlichen Inkohärenzen, Lügen, Drohungen und Prahlereien dieser Redner war der fatale Fehlschluss gezogen worden, der jeweilige Herr könne es unmöglich ernst meinen – und noch weniger ein solches Amalgam in konkrete Politik überführen.
Ohne historisch gleichzusetzen: Auf diese Weise wurden von Hitler bis Trump schon allerlei Mächtige unterschätzt. Und Wladimir Putin, seit Anfang 2000 russischer Präsident, der sich ja nicht erst seit der Vollinvasion in der Ukraine vom 24. Februar 2022 einer gewalttätigen Sprache bedient? In seinem Buch „Putins Kriegsrhetorik“ analysiert der in München lehrende Slawistik-Professor Riccardo Nicolosi in sieben präzis strukturierten Kapiteln die Reden und Ansprachen des Gewaltherrschers.
Hier müssen sich auch Teile der deutschen Öffentlichkeit angesprochen fühlen. Denn obwohl Putins Äußerungen seit einem Vierteljahrhundert nachzuverfolgen sind: Weshalb schien man sich bis 2022 vor allem an die rhetorischen Schalmeienklänge in seiner aufs deutsche Gemüt perfekt zugeschnittenen Bundestagsrede von 2001 zu erinnern, jedoch nicht an die gewalttätigen Ankündigungen zuvor und danach, wie mit jenen zu verfahren sei, die der ehemalige KGBler als Feinde und Landesverräter ausgemacht hatte? Ein ostentatives Nicht-Wahrnehmen-Wollen, das in manchen, sich als „friedensbewegt“ bezeichnenden Kreisen bis heute fortdauert – paradoxerweise just unter dem Vorwand, „russische Interessen verstehen zu wollen“, deren oberstem Verkünder man freilich gar nicht zuhört.
Funktionärssprache plus Gossenjargon
Dabei hat Putin, so Riccardo Nicolosi, aus seinen Überzeugungen und Plänen nie ein Hehl gemacht, obgleich er selbst alles andere als ein mitreißender Redner sei, sondern geprägt von einer technizistischen Funktionärssprache, die er jedoch (zum Wohlgefallen des heimischen Publikums) mit Elementen von Gossensprache und Kriminellenjargon aufzulockern beliebt. Das geschah bereits 2000 während des Tschetschenienkrieges, als er versprach, „die Terroristen selbst bis auf die Latrine zu verfolgen“, und umso mehr dann in den Vortagen des Angriffs von 2022, als Putin der Ukraine mit einer Strophe aus der russischen Popmusik drohte, einer unverhüllten Vergewaltigung: „Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden.“
Putins Reden sind in ihrem autoritären Tonfall und den schier unendlichen Wiederholungen laut Nicolosi sehr wohl „bis zu einem bestimmten Grad ‚wirklichkeits- und wahrheitskonstituierend‘, weil sie einen diskursiven Möglichkeitshorizont eröffnen, innerhalb dessen Gewaltanwendung legitimiert und akzeptiert werden kann“. In ihrem Mittelpunkt steht die Überzeugung, dass der „kollektive Westen“ Russland seit jeher bedrohe und vernichten wolle. Dass dieser Verschwörungstheorie die Rhetorik von immenser russischer Stärke eigentlich logisch entgegensteht, schadet dem Überwältigungsmechanismus dabei keineswegs: Ihr wollt uns vernichten? Wir vernichten Euch!
Zwischen Paranoia und Allmachtsfantasie
Seit 2022 noch erweitert um Versatzstücke antikolonialistischer Reden, die den sogenannten „Globalen Süden“ umgarnen und die sowjet-russische Kolonialgeschichte vergessen machen soll, dient das Trommelfeuer aus Paranoia und Allmachtsfantasien nicht allein dem Aufputschen und gleichzeitig der Abstumpfung der Bevölkerung. Es gibt ein übergeordnetes Ziel: Kann mit diesem „Framing“ doch im In- und Ausland die Aufmerksamkeit von den Tatsachen des mörderischen Angriffskrieges gegen die Ukraine abgelenkt werden, hin zu jenem von Putin genau auf diese Weise suggerierten „Nachdenken, ob der russische Präsident nicht vielleicht doch oder zumindest teilweise recht habe“.
Riccardo Nicolosi hält es deshalb für fortgesetzte westliche Blindheit, im gegenwärtigen Putin lediglich einen „plötzlich unberechenbar, gar verrückt gewordenen Autokraten wahrzunehmen, (…) um mit dieser bequemen Verschiebung ins Irrationale das Versagen der eigenen Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte zu rechtfertigen“. Denn Wladimir Putin, der bereits 2005 die Implosion des Völkergefängnisses Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hatte, verbarg zu keiner Zeit seine revanchistischen Ambitionen: „Das russische Regime ist in Bezug auf die Ukraine nie ambivalent gewesen. Der aktuelle, furchtbare Vernichtungskrieg ist die endgültige Offenlegung und Realisierung aller Argumente und Narrative, die das Regime sorgfältig konstruiert und unzählige Male wiederholt hat.“
Dieses immens aktuelle Buch ist deshalb nicht zuletzt auch ein Antidot zu einer im Westen nach wie vor einflussreichen Rhetorik der Relativierung und Verdrängung.