Rob Wijnberg: “Ruinen der Wahrheit. Eine kurze Geschichte unserer Zeit”

Auf der Suche nach einer gemeinschaftsstiftenden Erzählung

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Das Buchcover von “Ruinen der Wahrheit. Eine kurze Geschichte unserer Zeit”
© C.H. Beck

Rob Wijnberg

Übersetzt von Bärbel Jänicke

Ruinen der Wahrheit. Eine kurze Geschichte unserer ZeitC.H. Beck, München 2025

206 Seiten

24,00 Euro

Von Vera Linß |
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Westliche Gesellschaften haben ihren Fortschrittsglauben verloren, sagt der niederländische Journalist Rob Wijnberg. Statt nur an sich selbst zu denken, sollten die Menschen wieder das Gemeinsame entdecken.
Die Wahrheit ist umkämpft wie nie. Corona, Ukraine-Krieg, Nahostkonflikt, Klimawandel – nichts scheint schwieriger, als sich einig zu werden bei den Themen unserer Zeit. Doch leben wir deshalb in einer Post-Truth-Society, in der nur Gefühle und persönliche Überzeugungen zählen? Hat die Wahrheit wirklich ausgedient?
Das Gegenteil ist der Fall, sagt Rob Wijnberg. Nur die Funktion von Wahrheit habe sich verändert. Statt Gemeinschaft zu stiften, erzeuge sie heute Spaltung. Entscheidend sei deshalb, ihre Rolle wieder neu zu bestimmen.
Und das ist möglich! Denn nie ging es bei der Wahrheit nur um reine Fakten oder die nachprüfbare Beschreibung der Wirklichkeit. Wahrheit hatte immer auch die Aufgabe, einen gemeinsamen Blick auf die Welt zu erzeugen, wie der niederländische Journalist in seinem fulminanten Rückblick auf zweitausend Jahre Menschheitsgeschichte zeigt.
Angefangen in der vormodernen Zeit, als Wahrheit etwas war, das die Menschen schlicht als gegeben hinnahmen – vermittelt vom Christentum oder von Denkern wie Platon. Das unhinterfragte Versprechen: die Erlösung im Jenseits.
In der Moderne dagegen galt die Wahrheit als (wissenschaftlich) objektivierbar und als Chance, mit ihrer Hilfe gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen – um in der Postmoderne dann „zur eigenen Entscheidung“ zu werden. Ihre gesellschaftliche Funktion hier: Sie einzusetzen für die individuelle Emanzipation.
Was bei all dem immer gleich blieb: Dass der Wandel von Wahrheit im Westen stets zu mehr Wohlstand führte und zu mehr Freiheit für den Einzelnen. Doch was ist passiert, dass dieses Prinzip nicht mehr greift und Wahrheit inzwischen so destruktiv wirkt?

Wie das Umdenken stattfinden soll, lässt Wijnberg offen

Rob Wijnberg erklärt dies mit einer Entwicklung, die wie ein „roter Faden“ von Anfang an sichtbar war. Wahrheit sei immer mehr zum Privatbesitz des Individuums geworden und drehe sich mittlerweile zunehmend um das „Ich“. Ein gefundenes Fressen für die kapitalistische Verwertung!
Anschaulich beschreibt der Journalist, wie Wahrheit zum Konsumgut geworden ist, das sich jeder maßschneidern kann – befeuert vom Markt der Selbstoptimierung, von neoliberalen Politikern und profitorientierten Medien, die auf Schlagzeilen setzen statt auf Zusammenhänge. Auf der Strecke geblieben sei die „gesellschaftliche Vision“.
Deshalb nennt er den Westen, anders als heute üblich, eine Post-Progress-Society, die den Glauben an den kollektiven Fortschritt verloren hat, und fordert eine neue Erzählung, die individuellen Wohlstand und Gemeinschaft zusammen denkt. 
Dass der Mensch dazu in der Lage ist, davon ist Rob Wijnberg überzeugt. Denn im Wesen sei er kooperativ und fürsorglich – Studien, die der Autor dazu anführt, belegen dies auch. 
Wie angesichts von zunehmendem Populismus und einer ungeheuren Medien-Macht etwa von sozialen Plattformen dieses Umdenken entstehen kann, das lässt Rob Wijnberg allerdings offen. Sein mahnender Essay ist so schlüssig und überzeugend, dass er dazu einlädt, über das Wie verstärkt nachzudenken.
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