Buchenwald

Von Jürgen Schiller · 16.09.2007
Jorge Semprun ist der KZ-Häftling Nr. 44904 in Buchenwald. Semprun, spanischer Schriftsteller, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels für seinen Roman "Was für ein schöner Sonntag". Der Erfahrungsbericht des spanischen KZ-Häftlings, aber immer wieder gebrochen mit Erinnerungen an die Gegenwart, an die Prager Schauprozesse, an den Stalin-Terror, an die Abkehr vom Kommunismus, an den Stempel Renegat.
"So – wir sind jetzt dort, wo Besucher normalerweise nicht hinkommen, nämlich im Torgebäude, das ja zum Symbol von Buchenwald geworden ist und zwar auf dem Weg auf den Wachturm selbst – links der sogenannte Bunker, das Gefängnis im Lager für Häftlinge, einer der großen Folter- und Sterbeorte Buchenwalds und auf der anderen Seite im Flügel die Räume für die SS-Lagerverwaltung für den Tages- und Nachtdienst. Zwischen uns das Tor mit dem Satz: Jedem das Seine. Jetzt gehen wir mal die Treppe hoch."

Volker Knigge, der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald auf den Spuren des spanischen Schriftstellers Jorge Semprun, Buchenwaldhäftling. Knigge geht vorsichtig die enge Stiege nach oben, es ist düster hier drinnen, überall kleine Ecken, Nischen wie Taubenverschläg.

"Wir sind jetzt ungefähr da, wo das Maschinengewehr stand, mit dem der gesamte Appellplatz zu bestreichen war, auf dem die Häftlinge morgens und abends standen und sich zählen lassen mussten unter Mitnahme der Umgekommenen."

Knigge also genau dort, wo das Maschinengewehr war. Blickrichtung Appellplatz, gerichtet auf die Häftlinge. Knigges Blick ist die verlängerte Achse hinunter zum Häftling Nummer 44904, Jorge Semprun. Der steht dort unten, blickt in die Mündung. Rechts von ihm ockerfarbene Kasernen, links das Kommandantenhaus mit Lampenschirmen aus Menschenhaut. Auf Knigges Netzhaut spiegelt sich die Szene. Es ist ein Sonntag. Im Sommer 2007, ein heller Tag, ein heißer Tag. Knigge zieht aus seinem schwarzen Leinenjackett ein abgegriffenes blaues Taschenbuch: ein verschwommenes Bild, neblig, ein offenes Tor, Stacheldrahtzäune. "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1994" als schwarzer Aufkleber. Jorge Semprun: "Was für ein schöner Sonntag".

"Kumpel, was für ein schöner Sonntag! hat der Kumpel gesagt. Er betrachtet den Himmel und sagt zu den Kumpeln, dass es ein schöner Sonntag sei. Aber am Himmel sieht man nur den Himmel, die Schwärze des Himmels, die Finsternis des Himmels voller Schnee, der im Licht der Scheinwerfer herabwirbelt. Ein tanzendes und frostiges Licht. Er hat das mit übertriebenem Gelächter gesagt, als sagte er: 'Merde!' Aber er hat nicht merde gesagt. Er hat gesagt: 'Was für ein schöner Sonntag, Kumpel!', auf Französisch, beim Anblick des schwarzen Himmels um fünf Uhr morgens. Der Kumpel sagt nichts mehr. Er hat alles, was er vom Leben hält, sagen müssen und taucht in die Finsternis des Schnees, zum Appell. Er ist nur noch ein dahineilender, vom Schneetreiben gekrümmter Schatten. Andere Schatten rennen hinter dem Schatten des Kumpels her, der gesagt hat, dass es ein schöner Sonntag sei. "

Volker Knigge steckt das Taschenbuch weg, steht regungslos noch immer auf dem Maschinengewehr-Platz. Grelle Sonne, Schweißperlen auf der Stirn. Ein Sonntag der Routine für ihn, mit Erklärungen, Antworten, Besuchergruppen, die über das Gelände gehen. Ein Sonntag, der für die Gefangenen im KZ immer etwas Besonderes ist. Trügerische Ruhe, der krasse Gegensatz zum tödlichen Lager-Alltag.

"Das ist für Semprun zwischen Ironie und Sarkasmus gebrochen. Auf der einen Seite war für die meisten Kommandos der Sonntag arbeitsfrei, das heißt, es war ein Tag, an dem man größere Gewissheit hatte, dass man heute nicht stirbt, morgen schon eher. Und es war ein Tag, an dem man auch den einen oder anderen Freund, eben Kumpel oder Kamerad, wie das andere auch genannt haben, sehen konnten und es gehört offenbar – und da ist man wieder bei der Hoffnung zum Menschlichen dazu, das kennen wir auch aus anderen Lagern, das kennen wir auch aus dem Gulag, dass Hoffnung zuletzt stirbt."

"Und die Sonntagssuppe war immer besser", erinnert Semprun. Der Blick über das Lager vom Torturm: Barackengrundrisse aus schwarzer Schlacke, zwei Wachtürme, Stacheldraht, eine Baracke im Häftlingsrevier, im Krankenblock, die Reste des Lagerzoos, Vergnügungsort der SS direkt gegenüber dem Krematorium, der große Schornstein auf dem Krematorium. Knigge schaudert etwas, es sind Eiskristalle, die sich auf die Seele legen, sagt er. Hier oben wird es unerträglich heiß, der Holzboden als Sauna. Knigge atmet tief ein, wendet sich ab, hinab über die schmale Treppe.

Es riecht nach frischer Farbe, nach Harz, nach Holz. Das Innere wird renoviert, die kleinen Verschläge, die Plattform aufmöbliert. Unten die Suche nach einem Schattenplatz. Der Boden des Lagers, grauer Staub in gleißendem Sonnenlicht. Besuchergruppen gehen vorbei, Jugendliche in spärlicher Sommerkleidung, fröhlich, lautstark.

"Die meisten sagen, das ist ja ganz anders als in jedem Schulbuch, denn hier ist es passiert, hier wird es konkret. Dafür brauchen wir zwar Zeit, wir wollen nicht vollgelabert werden, wir wollen auch nicht sofort einen Fragebogen ausfüllen, wir wollen auch ernst genommen werden, in dem, dass es uns die Sprache verschlägt – aber hier ist es eben passiert, ist es konkret und hier entstehen so etwas wie innere Bilder. Die äußeren Bilder sind gar nicht so wichtig. Wir wollen ja nichts wiederholen oder wir wollen uns nicht zu Nekrophilen ausbilden. Es geht also nicht darum, Nachhilfeunterricht in deutscher Geschichte zu erteilen oder äußerliche Daten zu lernen oder 'let’s have a good cry', mal eben in den emotionalen Ausnahmezustand für zwei Stunden und dann mit so einem Gefühl von Selbstbetroffenheit zu sagen: Na was ist der Mensch schlecht. Darum geht es nicht, sondern es geht um solche Formen des konkreten Historischen und eben auch um Fragen, wie halt ich es denn mit der Solidarität und da ist man wieder bei dem große Thema von Semprun."

Knigge steht in seinem schwarzen Leinenanzug, dem schwarzen Hemd wie ein Denkmal auf dem Boden von Buchenwald. Am Ende des Lagers die wunderschöne Thüringer Tiefebene, ein grünes Meer, Biotop für seltene Pflanzen und Tiere - davor das kleine Lager, seit Ende 42 Quarantänezone, getrennt vom Hauptlager durch Stacheldraht.

"Was Buchenwald angeht immer dieser doppelte Blick: der Blick auf das kleine Lager. Das kleine Lager ist der Hauptsterbeort Buchenwalds, das kleine Lager ist der Ort, wo auf Grund der Situation selber, dieser Überlebensnot, Brüderlichkeit kaum möglich ist. Semprun beschreibt ja dieses Sterben, er hat es miterlebt und er beschreibt es immer doppelt: als reales Sterben dieses französischen Sorbonneprofessors, dieses großen Denkers und man kann sich ja dem schwer entziehen, dass er damit auch anspricht: Lasst dieses Gedächtnis nicht sterben und nehmt es ernst."

Für Knigge verblasst Erinnerung nicht, er holt Vergangenheit überzeugend in die Gegenwart. Wie Semprun mit seinem Roman "Was für ein schöner Sonntag". Der Erfahrungsbericht des spanischen KZ-Häftlings Nummer 44904, aber immer wieder gebrochen mit Erinnerungen an die Gegenwart, an die Prager Schauprozesse, dem Stalin-Terror, die Abkehr vom Kommunismus, der Stempel Renegat. Knigge bewundert die Vielzahl der Semprunschen Tarnkappen. Immer wieder Besuchergruppen. Auf einer Bank im Schatten, direkt neben den Hundekäfigen der SS, ältere Amerikaner, einer mit Cowboyhut und Lederhosen. Volker Knigge nimmt noch einmal das Taschenbuch in die Hand, 395 Seiten Zeitgeschichte und Poesie. Ein leichter Windhauch bildet eine Krone aus seinem grauen, gelichteten dünnen Haar über hoher Denkerstirn. Die grün grauen Augen suchen die Stelle der Stille und des Todes.

"Die Stille ist etwas Seltenes, dicht und zugleich zerbrechlich. Die Dichte der Stille ist so beschaffen, dass das geringste Geräusch sich deutlich davon abhebt. Die Holzbaracken um den Platz herum sind heiter und schick grün gestrichen. Der Rauch aus dem Krematorium ist mattgrau. Sie haben im Krematorium wohl nicht viel zu tun, wenn sie nur einen so dünnen Rauch erzeugen. Oder die Toten verbrennen gut. Die ausgetrockneten Toten, die Leichen der Kumpel wie Weinranken. Sie schaffen uns diese letzte Blüte mattgrauen und dünnen Rauchs. Ein freundschaftlicher Rauch, ein sonntäglicher Rauch, gewiss. 'Das ist nicht wahr', sage ich. Henk schaut mich an, er lächelt. 'Nein, das ist nicht wahr', sagt er, 'das ist ein Traum.' Wir gehen über den Appellplatz, in diesem Traum."

Der Gang über den Appellplatz, in diese Realität 2007. Grauer Staub, ein paar Steinchen, Schotter, Kies. Kein Grün, kein Gras. Staub. Ein heißer Sonntag. Über dem Schornstein des Krematoriums ein blauer Himmel, Federwolken.

"Wenn hier von Stille die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass der Lautsprecher nicht gequäkt hat, die Lager waren ja laut, überall Lautsprecher, Hitlerreden, Parademärsche, Siegesmeldungen oder eben dröhnende Befehle: Nummer so und so ans Tor oder zur Lager-Gestapo und man wusste, dass ist dann deren Todesurteil. Also diese Stille meint eben auch dies: die Stimmen der Henker und derjenigen, die einen beherrschen und einen treten, für einen Moment nicht zu hören."

Wieder die grelle Sonne. Kleine schwarze Fliegen sind überall, beißen, nerven. Knigge versucht sie zu verscheuchen, klatscht auf Arme und Hals, vergeblich. Nur Schatten hilft, also hin zum zweistöckigen Verwaltungsgebäude. Drinnen: ein schnurgerader Gang, über 50 Meter lang, weiße Wände, weiße halbrunde Leuchten, an den Fenstern am Ende des Ganges Heizkörper, grau-bräunliche Kacheln, ein grauer Fußbodenbelag. Unten die Direktion, die Besprechungsräume, oben das Archiv.

Der Arbeitsplatz von Elena Rodriguez, eine junge Spanierin, Mallorquinerin. Geschichtsstudium, Praktikum in Buchenwald, jetzt arbeitet sie hier im Archiv. Randlose Brille, blaue Augen, ein langes, schmales Gesicht, große Ohrläppchen, ein beige Pullover, hellbraune Haare zum Pferdeschwanz gebändigt. Einmal trifft sie in Buchenwald Jorge Semprun, nur kurz, aber die Begegnung mit einem Überlebenden hat sie bis heute nicht losgelassen.
Auf dem Bildschirm ein Text aus Sempruns Roman, sein Arbeitsplatz in der Schreibstube.

"Am Ende des Verwaltungsraums voller Verwaltungsgegenstände: Karteikästen, Aktenordner, Register; Tische und Regale zur Unterbringung all dieser Gegenstände; Stühle, um unsere Ärsche vor diesen Verwaltungsgegenständen niederzulassen; Schränke, um diese wertvollen Verwaltungsgegenstände einzuschließen; also am Ende zwei Türen. Sonst lässt sich nichts über diese Einrichtung sagen."

Elena holt tief Luft, wirft den Kopf in den Nacken, der Pferdeschwanz wippt, denkt nach, nickt, sieht Ähnlichkeiten.

"Klar, was diese Personen in der Schreibstube machen, das ist mehr oder weniger das, was wir jetzt machen. Sie haben die Dokumente hergestellt und unsere Aufgabe ist es diese Dokumente aufzuarbeiten."

Auch hier lauter Verwaltungsgegenstände: Aktenordner über Aktenordner, die Aufkleber: Kopien, Anfragen. Karteikästen in braun, Papierstapel kreuz und quer als geordnetes Chaos, das Merian-Heft über Weimar. Links führt eine Tür in das eigentliche Archiv mit allen Unterlagen und Dokumenten, rechts führt eine Tür in einen kleinen Raum mit den Lesegräten für die Mikrofilme. Ein ständiges Sirren, Klicken, Filmeinlegen, Suchen. Elena tippt die Nummer 44904 ein, Jorge Semprun, findet den Film in abgegriffener Papphülle, legt ihn ein.

"Das ist ein Gerät, mit dem wir die Filme ansehen können, und wenn er einmal fest ist, dann können wir …"

Schatten, Striche, nicht erkennbar, rasen vorbei. Aus Nummern werden Menschen, Schicksale, Geschichten. Sekunden für ein ganzes Leben.

"Bald muss es hier sein … hier haben wir die Karte von Jorge Semprun. Und hier kann man noch mehr Informationen sehen über seine Person, die Kategorienummer, er ist als spanischer Häftling registriert. Hier steht zu welcher Religion er gehörte, hier steht katholisch, dann, das er ledig war, er hatte keine Kinder, seine spanische Nationalität und dann der Name des Vaters, wo er gewohnt hat - und es ist auch immer wichtig für uns, wann wurde er verhaftet, hier steht: am 10. Oktober 1943 in Paris und dann wurde er am 29. Januar 44 nach Buchenwald eingeliefert. Normalerweise steht da eine Unterschrift und dann ist es für uns ein Orginaldokument."

Elenas Gesicht ist blass, leicht verschwommen im künstlichen Licht der Lesegeräte. Die Arbeit belastet immer wieder psychisch, trotzdem findet sie hier Erfüllung, macht weiter, will in den nächsten Jahren forschen über das Schicksal der spanischen Häftlinge in deutschen KZs. Der Blick vom Arbeitsplatz aus dem Fenster fällt genau auf das Lager, den Eingang: Jedem das Seine. Besonders schlimm ist es beim Praktikum, da schaut sie genau auf das Krematorium.

"Ich habe immer gedacht, das kann nicht sein, wie eine Fantasiegeschichte, das kann nicht real sein – und das war das erste Mal, dass ich solche Gefühle hatte. Es ist so unmöglich, das so etwas passiert ist, obwohl alles real ist. Ja es waren viele Gefühle dabei, Geschichte, der Ort, die Geschichte, die Sprache. Und dann, ehemalige Häftlinge zu treffen, die Möglichkeit mit ihnen zu sprechen, es waren viele Gefühle Ich muss ehrlich sagen, es war nicht einfach."

Ein markantes Gesicht, offen und freundlich. Elena arbeitet hier nur vier Tage in der Woche, dazu verdient sie etwas mit Spanisch-Kursen an der Volkshochschule. Aufbruch nach Weimar. Ein letzter Blick : Fotos von Naomi Salmon, gerahmt an der Wand, Fotos von Ausgrabungen in Buchenwald, eine Schere, eine Puppe, eine Schreibmaschine, ein Kamm, gesägt aus einem alten Lineal.

"Hier ist der Bahnhof, wo die Häftlinge in den Transporten nach Buchenwald kamen und hier ist der Platz des ehemaligen Gustloff Werkes. Hier haben jeden Tag Tausende von Häftlingen für die Rüstungsindustrie gearbeitet. Heute gibt es nur noch ein paar Ruinen. Hier ist die Blutstraße, das ist jeden Tag mein Weg nach Weimar."

Beklemmung – es ist die Straße, wo Menschen wie Vieh von Weimar nach Buchenwald getrieben werden. Vorsicht-Lebensgefahr-Schilder am Waldrand – ehemaliges militärisches Übungsgebiet. Das Mahnmal und der Glockenturm.

"Buchenwald liegt auf dem Ettersberg und diesen Turm kann man von vielen Orten sehen. Und ich arbeite nebenbei und unterrichte Spanisch und egal wo ich bin, ich sehe immer den Turm. Buchenwald ist immer da, ist immer präsent."

Der Bahnhof, der sich mit dem Schild Kulturbahnhof schmückt, der Marktplatz mit dem Rathaus und den Rostbratwürsten, das Hotel "Elephant", mit Tomas Mann und "Lotte in Weimar". Der Theaterplatz.

Das Ziel ist das Nationaltheater. Elena verschwindet zwischen Besuchergruppen. Vor dem Kulturtempel die beiden Heroen auf dem Sockel mit Lorbeerkranz: Schiller und Goethe. Daneben der Hausherr, Stephan Märki. Generalintendant. Weißes offenes Hemd, dunkle Sommerschuhe, keine Strümpfe, eine helle längsgestreifte Hose. Auch hier eine Begegnung mit Semprun. Märki hat ihn viel gelesen. In der rechten Hand das Taschenbuch. Viele kleine gelbe Zettel.

"Unter Karl August und seinen Nachfolgern wurde die Stadt ein liberaler Mittelpunkt der Künste und der Literatur. Dieser letzte Aspekt im Leben der Stadt wird, nicht ohne eine gewisse nebulöse Geschwollenheit, in einer Dokumentensammlung über das Konzentrationslager am Ettersberg stark hervorgehoben. Weimar, kann man darin lesen, war bis dahin weltbekannt als Stadt in der Lukas Cranach der Ältere, Johann Sebastian Bach, Christoph Martin Wieland, Gottfried Herder, Friedrich von Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Franz Liszt gelebt und unsterbliche Werke geschaffen hatten. Mit Goethe traf sich die ganze intellektuelle Elite von Weimar gern auf dem Ettersberg, um die Ruhe und die frische Luft zu genießen."

Märki schlägt das Taschenbuch zu, steckt es weg, murmelt so etwas wie: ‚mhm, das habe ich mir schon gedacht’. Blickt hinauf zu Schiller und Goethe, die auch nicht Weimar, Ettersberg und Buchenwald auf die Reihe kriegen, sondern wegblicken. Goethe erhaben nach rechts unten, Schiller, leicht arrogant, nach links oben. Zusammenhänge sieht Märki nicht – hier: Hochkultur, Aufklärung, Humanismus; dort: Kälte, Grausamkeit und Mord. "Nein", nachdrücklich schüttelt er den Kopf.

"Ich sehe da keine Verbindung und jede Verbindung, die man versucht zu ziehen, führt in die Irre. Ich meine, wir stehen hier genau an dem Ort, wo das deutsche Theatersystem entstanden ist, nämlich aus dem Geiste Schillers, Goethes, Herders mit dem Versuch einer ästhetischen Erziehung der Menschen mittels Kunst und die moralische Anstalt ist in diesem Geist entsprechend nicht so zu sehen, dass man von der Bühne herab Moral predigen soll, sondern dass man untersucht, was ist der Mensch und wozu ist er in der Lage. Natürlich ist beides hier entstanden Hochkultur und Buchenwald. Natürlich denken wir bei jeder Arbeit, die wir angehen, und auch wenn wir dabei sind jede künstlerische Arbeit, gedenken wir dieser beiden Dinge, aber Verbindungen lassen sich für einen reflektierenden Menschen nicht ziehen."

Auf dem Platz vor dem Theater. Weimarer Alltag: ein Kleiderladen, ein Kaufhaus, Weltmeistersenf wird angepriesen, Tauben und Spatzen vergnügen sich zwischen Bierflaschen und Zigarettenkippen. Eine Gruppe Jugendlicher auf der Theatertreppe, davor ein einsamer Skater. Auf rotem Untergrund ein Schild "Der kleine Horrorladen". Märki lacht, "nein, nicht unser Theater", sondern ein Musical, das heute zum vorletzten Mal läuft. Märki geht in sein Haus, seit der Spielzeit 2000/ 2001 leitet er es.

Märki ist Schweizer, Jahrgang 55, Fotograf, Werbeleiter, Journalist, fährt professionell Autorennen, wird Schauspieler, dann Intendant. Erst in Potsdam, jetzt in Weimar. Im Zuschauerraum kaum Licht, die Sitze abgedeckt, auf der hell erleuchteten Bühne Umbauarbeiten für das Musical. Möbelteile schweben durch die Luft, Türen, halbe Zimmer. Dazwischen die Technik, die Bühnenarbeiter. Musik. "Die gehört nicht zum Musical", sagt Märki, "das ist für die Truppe da vorne, die brauchen das". Märki dreht sich nach links, nach rechts, genießt sein Imperium. Freundliches Winken von oben nach unten. Momente der Entspannung in der permanenten Auseinandersetzung um Existenzen, um Konzepte, um Kunst. Er schlägt Semprun auf, auch der schreibt darüber, im Gespräch mit Eckermann und Goethe auf dem Ettersberg, als Zeitsprung in die Gegenwart des Konzentrationslagers.

"'In Wirklichkeit, mein Guter', fügte Goethe hinzu, 'ist das Thema, das ich mit Monsieur Blum hätte erörtern wollen, das der Beziehungen des Intellektuellen, wie man heutzutage sagt, zur Politik und zur Macht. Sie kennen meine Gedanken diesbezüglich. Ich glaube, dass der Intellektuelle der Politik, den Machthabern gegenüber nicht gleichgültig sein kann, dass er diesen Ratschläge erteilen und seine Geistesblitze mitteilen muss, unter der Voraussetzung freilich, dass er sich von der unmittelbaren Ausübung besagter Macht fernhält. Denn die Intelligenz und Die Macht sind dem Wesen nach völlig verschieden. Daher erleiden die echten Intellektuellen nur Schiffbruch, wenn sie sich so weit pervertieren, dass sie sich zur unmittelbaren Ausübung der Macht bereit erklären."

Eine starke Wirkung hier im Theater. Märki ist nachdenklich, es arbeitet in ihm, der Körper wippt vor und zurück, die Augen leicht zusammengekniffen. Seine kurzen schwarzen Haare weisen nach vorn, im Dämmerlicht leichte weiße Einsprengsel. Ein weißer Drei-Tage-Bart. "Roman und Theater ergänzen sich", meint er.

"Der Intellektuelle verliert natürlich dann seine Wirkung und seinen Einfluss, wenn er sich mit der Macht verbindet. Deshalb bin ich ja auch Intendant und kein Politiker, wiewohl man gerade in diesem Job leicht korrumpierbar wird. Das schließt aber nicht aus, dass ich sehr viele anregende Gespräche mit intellektuellen Politikern habe, wie zum Beispiel mit Antje Vollmar oder Richard von Weizsäcker – aber gerade weil das Amt des Intendanten eben oft die Grenze verschwinden lässt, weil man so viel mit Politik und Macht zu tun hat, muss man die Unterscheidung immer wieder ganz klar feststellen und die Grenze auch ziehen, um seine Wirkung und damit seinen Einfluss nicht zu verlieren."

Märki klappt das Taschenbuch zu, schlägt die Beine übereinander, blickt noch einmal rund in seinen leeren Zuschauerraum, hinauf zu den Rängen, düster, abgedunkeltes Rot. Er scheint selbstzufrieden. Er kennt seinen Semprun, erinnert an eines der Vorworte im Roman von Milan Kundera: Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen. "Das machen wir hier im Theater", sagt er, "im nächsten Jahr ein Projekt mit Volker Knigge".

"Das ist ja eigentlich ein Projekt, was über Jahre gehen soll und es ist der Versuch, eine Straße der Menschenrechte zu begehen, wo wir thematisch eben die Menschenrechtsentwicklung den Demokratisierungsprozess der letzten 200 Jahren – aber natürlich mit Blick auf die Zukunft, und nichts als die Zukunft, beleuchten, verarbeiten wollen – auch thematisch so weit das geht – unter diese Präambel zu setzen. Das geht hin bis zur Stückauswahl, über Podiumdiskurse, Anregungen. Wir planen eine ständige Ausstellung im Theater, die aber auch in sich lebendig bleiben soll. Weil, Erinnern muss immer etwas mit Lebendigkeit, mit Wandel und mit Blick auf die Zukunft zu tun haben."

Auf der Bühne formt sich das Bild, die Technik gibt ihr okay, der Bühnenboden wird gefegt, Märki ist zufrieden, blickt auf die Uhr, muss zur Probe: "Judith" von Hebbel - geht hinaus. Draußen hüpft noch immer der Skater, ziehen Besuchergruppen über den Platz. Tauben und Spatzen im Kampf um Krümel. Die Sonne brennt. Eine Drossel versucht kunstvolle Triller, kapituliert vor der Hitze. Ein Sonntag in Weimar und in Buchenwald.
Jorge Semprun
Jorge Semprun© AP Archiv