Kommentar

Warum die Literaturkritik in der Krise steckt

04:32 Minuten
Ein aufgeschlagenes Buch.
Buch: Was steckt drin? Professionelle Literaturkritikerinnen und -kritiker haben an Bedeutung verloren, können aber noch immer qualifizierte Urteile fällen. © picture alliance / dpa / imageBROKER / Ulrich Niehoff
Ein Kommentar von Sigrid Löffler · 19.03.2024
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Die Literaturkritik ist nicht mehr das, was sie mal war. Sigrid Löffler benennt die Gründe für ihren Bedeutungsverlust - und beschreibt die Nische, in der eine sachkundige Literaturkritik auch künftig noch gefragt sein wird.
Gerade zu Buchmesse-Zeiten wird man als professioneller Literaturkritiker manchmal gefragt, ob sich dieser Beruf nicht längst erledigt hat. Wer liest heutzutage noch Literaturkritiken – außer andere Literaturkritiker? Buchkritik scheint nicht mehr zeitgemäß. Sie gilt als antiquiert und daher als überflüssig. Das finden auch viele Print-Medien. Sie haben deshalb die Buch-Rezensionen ganz abgeschafft.
Auch an anderer Stelle hat die professionelle Literaturkritik Autorität eingebüßt und unerwünschte Konkurrenz bekommen – in Form des allgegenwärtigen elektronischen Geschnatters. Im Internet dominieren zumeist Amateure – Blogger, Influencer, selbstermächtigte Hobby-Kritiker –, die die Welt mit ihren subjektiven Geschmacksurteilen über Bücher behelligen.

Unqualifizierte Kritik aus dem Netz

Ein Beispiel: Ein Amateur-Kritiker, der an dem anspruchsvollen Roman "Parallelgeschichten" des großen ungarischen Autors Péter Nádas gescheitert ist, urteilt: "Was für ein absolutes Scheißbuch!!! Nach gut 700 Seiten zerrissen und in den Müll gefeuert." Hinzu kommt: Bei lobenden Pseudo-Rezensionen im Internet lässt sich nicht überprüfen, ob wir es hier nicht vielleicht doch mit bezahlter Werbung zu tun haben.
Wie ist es zu diesem Bedeutungsverlust der professionellen Kritik gekommen? Wie konnte der klassische Rezensionsjournalismus derart marginalisiert werden?
Zum einen ist der Literaturkritik die Kundschaft abhandengekommen. Der tonangebende Großkritiker ist eine Figur des vergangenen Jahrhunderts, genauso wie seine Klientel, das klassische Bildungsbürgertum. Die traditionelle Kritik hat ihr angestammtes Biotop verloren.

Paradigmenwechsel in der Kulturwelt

Zum anderen hat die Buchbranche, die Kulturwelt überhaupt, einen drastischen Paradigmenwechsel vollzogen. Die Kulturindustrie durchdringt und beherrscht heute alle Bereiche des kulturellen Lebens. Folglich dreht sich alles um Konsumkultur. Der Konsument, der allmächtige Verbraucher, ist an die Stelle des streitbaren, souveränen Kritikers getreten. Sein Geschmacksurteil entscheidet, nicht das Kunsturteil des Kritikers. Was er konsumiert und was sich gut verkauft, gilt automatisch auch als gut. Das Kriterium des Markterfolgs setzt alle Qualitätskriterien außer Kraft.
Und doch gibt es ihn noch, den Literaturkritiker, wenngleich mit eingeschränkter Wirksamkeit. Seine unabhängige Urteilsfähigkeit ist heute sogar nötiger denn je – vor allem als Markt-Korrektiv. Der Kritiker darf sich allerdings nicht zum verlängerten Arm der Marketing-Abteilungen der Verlage machen lassen. Wenn er in den Verdacht gerät, nur ein Verkaufsagent der Verlage zu sein, dann verliert er seine Glaubwürdigkeit. Und seine Glaubwürdigkeit ist die einzige Existenzberechtigung des Kritikers.

Ein Reservat der Expertise

Die Deutungshoheit der professionellen Literaturkritik ist heute eigentlich nur noch in einem kleinen, aber feinen Reservat des Buchmarktes in Kraft: in der Belletristik im engeren und strengeren Sinn sowie im Bereich des Qualitäts-Sachbuchs. Dort kann und muss der Literaturkritiker seine Zuständigkeit behaupten, dort hat seine Stimme noch Gewicht, dort ist seine Expertise gefragt.
Die Qualitätsanforderungen an seine Texte sind allerdings gestiegen. Seine Buchbesprechungen müssen heute mehr denn je elegant geschrieben und unterhaltsam zu lesen sein. Dann wird er mit seinen Texten auch seine Zielgruppe erreichen – den anspruchsvollen, wählerischen Konsumenten, der im unübersichtlichen Buchmarktgeschehen nach Orientierung verlangt und Qualitätsargumenten zugänglich ist. Diese Zielgruppe existiert, und es wird sie auch weiterhin geben.

Sigrid Löffler ist eine der profiliertesten Literaturkritikerinnen Deutschlands. Sie war u.a. Feuilletonchefin der "Zeit" sowie viele Jahre lang Mitglied des "Literarischen Quartetts" im ZDF. Auch im DLF Kultur tritt sie immer wieder als Literaturrezensentin auf.

Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler in Weimar beim Festakt zur Verleihung der Goethe-Medaillen während ihrer  Festrede.
© picture-alliance/ dpa / Martin Schutt
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