Brutaler Balkan
Natasha Radojcic floh 1991 mit 22 Jahren aus ihrer Heimat Jugoslawien nach Amerika. Die Erfahrung der Flucht und des Bürgerkriegs schildert sie in ihrem Roman „Du musst hier nicht leben“ anhand der 14-jährigen Sasha. Die bekommt den Krieg in seiner ganzen Brutalität und Perspektivlosigkeit zu spüren.
Den Namen Natasha Radojcic muss man noch nicht kennen. Der Roman „Du musst hier nicht leben“ ist erst das zweite Buch der Autorin, die aus Jugoslawien stammt und heute in New York lebt und schreibt. Natasha Radojcic ist 1989, vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges, aus ihrer Heimatstadt Belgrad geflüchtet, wo sie als Tochter einer muslimischen Mutter und eines christlich-orthodoxen, serbischen Vaters bereits zu diesem Zeitpunkt Anfeindungen ausgesetzt war.
Ziel dieser Flucht war für die 22-jährige Natasha Radojcic Amerika – der große kapitalistische Erzfeind ihres kommunistischen Heimatlandes. Von New York aus beobachtet sie 1991, wie das fragile Gebilde des Vielvölkerstaates Jugoslawien in einer – so hat sie es selbst in einem autobiographischen Aufsatz beschrieben – „Explosion des Nationalismus“ auseinander bricht , wie ihre muslimische Familie in Sarajewo leidet und hungert.
In New York beginnt Natasha Radojcic zu schreiben und sich schreibend mit der Geschichte ihrer verlorenen Heimat Jugoslawien auseinanderzusetzen. In ihrem ersten Roman „Homecoming“, 2002 in Amerika erschienen, hat sie die Geschichte eines Soldaten erzählt, der aus dem Bosnien-Krieg traumatisiert in sein zerstörtes Heimatdorf zurückkehrt.
Natasha Radojcic schreibt auf Englisch – und das, obwohl sie ihre serbische Muttersprache als eine „wunderschöne Sprache voller verzaubernder slawischer Mythen“ charakterisiert. Sie hat sich die Sprache ihrer neuen Wahlheimat Amerika schnell und zielstrebig angeeignet und macht bereits mit dieser Entscheidung gegen ihre Muttersprache deutlich, aus welcher Perspektive sie auf die Konflikte und Probleme Jugoslawiens blicken möchte: aus der Perspektive der Fremden, der Außenseiterin, die kühl aus der Ferne beobachtet.
Sie blickt auf dieses Land wie eine Medizinerin, die die Ausbreitung einer Krankheit beobachtet, die Ausbreitung der „kollektiven Psychose des Nationalismus“ – wie sie sagt – eines „Fiebers“, das selbst Verwandte und Freunde befällt.
Das zweite Buch von Natasha Radojcic, „Du musst hier nicht leben“, verarbeitet deutlich stärker als das erste autobiographische Bezüge: Die Autorin erzählt die Geschichte der 14-jährigen Sasha, die im kommunistischen Jugoslawien der achtziger Jahre erwachsen wird – also in der Phase der Vorkriegszeit, in der die Spannungen und Konflikte zwischen den verschiedenen Volksgruppen wachsen.
Sashas Mutter ist muslimisch, die Familie ihres Vaters setzt sich aus Serben, Roma und Österreichern zusammen. Mutter und Vater haben sich schon kurz nach der Geburt ihrer einzigen Tochter getrennt. Es ist dieses komplexe und explosive Familienerbe aus verschiedenen religiösen und ethnischen Anteilen, das in Natasha Radojcics Erzählung den Hintergrund für eine leidenschaftliche, aggressive, sich teilweise haarscharf an der Grenze zur Selbstzerstörung bewegende Suche nach der eigenen Identität bildet.
Sasha reißt von zu Hause aus. Sie wird von der Polizei aufgegriffen und – wie es im kommunistischen Jugoslawien für „Ausreißerkinder“ vorgesehen ist – in einer psychiatrischen Klinik untersucht. Sasha wird nach Kuba reisen, nach Griechenland – schließlich wird sie in Amerika landen. Doch der Ort der Handlung bleibt eigentlich unwichtig: Den Grundkonflikt trägt das Mädchen in sich – die Unfähigkeit, den Ort zu finden, an den sie gehört.
Sasha rebelliert gegen die Angepasstheit ihrer Familie, die sich nichts mehr wünscht als die Anerkennung des kommunistischen Regimes. Sie entwickelt sich zu einem wilden, aufsässigen, respektlosen Mädchen, das sich wahllos mit Männern einlässt, das Drogen nimmt und gegen Wände anrennt, ohne auch nur zu wissen, ob sie dahinter etwas finden kann, das sie ihrem Ziel näher bringt.
Je unangepasster, je aufsässiger und respektloser sie sich verhält, desto stärker treibt sie den Hass und die Vorurteile ihrer Umwelt gegen das Mädchen mit der muslimischen Mutter und dem „Zigeuner-Vater“ hervor.
Geschildert wird das teilweise so hart und so kompromisslos, dass es dem Leser an einigen Stellen fast körperlich weh tut. Etwa wenn das Mädchen – in dem Glauben, schwanger zu sein – versucht, ihr ungeborenes Kind selbst abzutreiben. Distanziert, nüchtern, manchmal schockartig unterkühlt erzählt Natasha Radojcic die Entwicklungsgeschichte des Mädchens als Anti-Bildungsroman: Ihre Heldin ist ein Punk in Zeiten des Krieges.
Verlangt die klassische Konstellation des Genres, dass die junge Heldin in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt „wächst“ und „reift“, um am Ende eine „harmonische Aussöhnung“ mit dieser Umwelt zu erreichen – dann sprengt die Entwicklungsgeschichte von Sasha diesen Rahmen brutal: Wenn diese mit einem bosnischen Polizisten schläft, der sie beim Stehlen erwischt hat, dann wird das junge Mädchen aus dieser Erfahrung nichts lernen – weder über sich selbst, noch über das System, gegen das sie rebelliert. Sie wird einfach nur härter werden und die Kluft zwischen sich und ihrer Umgebung weiter vertiefen.
Wenn Sasha Drogen nimmt, dann zieht sie aus dieser Erfahrung keine Konsequenzen; sie flüchtet einfach nur für kurze Zeit in ein vergängliches Glück. Haruki Murakami hat seinen Protagonisten in „Kafka am Strand“ – ebenfalls ein Ausreißerkind – als den „coolsten 15-Jährigen dieses Planeten“ charakterisiert. In Natasha Radojcics „Du musst hier nicht leben“ bekommt es der Leser mit der härtesten 14-Jährigen auf dem Balkan zu tun.
Der Verlust einer ahnungslosen, unschuldigen Kindheit wird in diesem Roman als Verlust der Heimat erzählt. Die wachsenden Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen Jugoslawiens sind gleichsam in der Hauptfigur Sasha selbst verdichtet.
Natasha Radojcic sagt selbst, sie begreife es als die einzigartige Möglichkeit und politische Kraft des Geschichten-Erzählens, in der Geschichte eines Einzelnen die große Geschichte so erzählen zu können, dass sie den Leser wirklich bewegen und berühren kann – mehr als abstrakte historische Daten und Fakten. In ihrem Roman „Du musst hier nicht leben“ gelingt ihr genau das: Sie macht den Verlust von Heimat und Identität, die Folgen des Jugoslawien-Krieges für Hunderttausende, in ihrer ganzen Brutalität und Perspektivlosigkeit spürbar.
Natasha Radojcic: Du musst hier nicht leben
aus dem Amerikanischen übersetzt von Friederike Meltendorf
Berlin Verlag 2006,
208 Seiten. 19,90 Euro
Ziel dieser Flucht war für die 22-jährige Natasha Radojcic Amerika – der große kapitalistische Erzfeind ihres kommunistischen Heimatlandes. Von New York aus beobachtet sie 1991, wie das fragile Gebilde des Vielvölkerstaates Jugoslawien in einer – so hat sie es selbst in einem autobiographischen Aufsatz beschrieben – „Explosion des Nationalismus“ auseinander bricht , wie ihre muslimische Familie in Sarajewo leidet und hungert.
In New York beginnt Natasha Radojcic zu schreiben und sich schreibend mit der Geschichte ihrer verlorenen Heimat Jugoslawien auseinanderzusetzen. In ihrem ersten Roman „Homecoming“, 2002 in Amerika erschienen, hat sie die Geschichte eines Soldaten erzählt, der aus dem Bosnien-Krieg traumatisiert in sein zerstörtes Heimatdorf zurückkehrt.
Natasha Radojcic schreibt auf Englisch – und das, obwohl sie ihre serbische Muttersprache als eine „wunderschöne Sprache voller verzaubernder slawischer Mythen“ charakterisiert. Sie hat sich die Sprache ihrer neuen Wahlheimat Amerika schnell und zielstrebig angeeignet und macht bereits mit dieser Entscheidung gegen ihre Muttersprache deutlich, aus welcher Perspektive sie auf die Konflikte und Probleme Jugoslawiens blicken möchte: aus der Perspektive der Fremden, der Außenseiterin, die kühl aus der Ferne beobachtet.
Sie blickt auf dieses Land wie eine Medizinerin, die die Ausbreitung einer Krankheit beobachtet, die Ausbreitung der „kollektiven Psychose des Nationalismus“ – wie sie sagt – eines „Fiebers“, das selbst Verwandte und Freunde befällt.
Das zweite Buch von Natasha Radojcic, „Du musst hier nicht leben“, verarbeitet deutlich stärker als das erste autobiographische Bezüge: Die Autorin erzählt die Geschichte der 14-jährigen Sasha, die im kommunistischen Jugoslawien der achtziger Jahre erwachsen wird – also in der Phase der Vorkriegszeit, in der die Spannungen und Konflikte zwischen den verschiedenen Volksgruppen wachsen.
Sashas Mutter ist muslimisch, die Familie ihres Vaters setzt sich aus Serben, Roma und Österreichern zusammen. Mutter und Vater haben sich schon kurz nach der Geburt ihrer einzigen Tochter getrennt. Es ist dieses komplexe und explosive Familienerbe aus verschiedenen religiösen und ethnischen Anteilen, das in Natasha Radojcics Erzählung den Hintergrund für eine leidenschaftliche, aggressive, sich teilweise haarscharf an der Grenze zur Selbstzerstörung bewegende Suche nach der eigenen Identität bildet.
Sasha reißt von zu Hause aus. Sie wird von der Polizei aufgegriffen und – wie es im kommunistischen Jugoslawien für „Ausreißerkinder“ vorgesehen ist – in einer psychiatrischen Klinik untersucht. Sasha wird nach Kuba reisen, nach Griechenland – schließlich wird sie in Amerika landen. Doch der Ort der Handlung bleibt eigentlich unwichtig: Den Grundkonflikt trägt das Mädchen in sich – die Unfähigkeit, den Ort zu finden, an den sie gehört.
Sasha rebelliert gegen die Angepasstheit ihrer Familie, die sich nichts mehr wünscht als die Anerkennung des kommunistischen Regimes. Sie entwickelt sich zu einem wilden, aufsässigen, respektlosen Mädchen, das sich wahllos mit Männern einlässt, das Drogen nimmt und gegen Wände anrennt, ohne auch nur zu wissen, ob sie dahinter etwas finden kann, das sie ihrem Ziel näher bringt.
Je unangepasster, je aufsässiger und respektloser sie sich verhält, desto stärker treibt sie den Hass und die Vorurteile ihrer Umwelt gegen das Mädchen mit der muslimischen Mutter und dem „Zigeuner-Vater“ hervor.
Geschildert wird das teilweise so hart und so kompromisslos, dass es dem Leser an einigen Stellen fast körperlich weh tut. Etwa wenn das Mädchen – in dem Glauben, schwanger zu sein – versucht, ihr ungeborenes Kind selbst abzutreiben. Distanziert, nüchtern, manchmal schockartig unterkühlt erzählt Natasha Radojcic die Entwicklungsgeschichte des Mädchens als Anti-Bildungsroman: Ihre Heldin ist ein Punk in Zeiten des Krieges.
Verlangt die klassische Konstellation des Genres, dass die junge Heldin in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt „wächst“ und „reift“, um am Ende eine „harmonische Aussöhnung“ mit dieser Umwelt zu erreichen – dann sprengt die Entwicklungsgeschichte von Sasha diesen Rahmen brutal: Wenn diese mit einem bosnischen Polizisten schläft, der sie beim Stehlen erwischt hat, dann wird das junge Mädchen aus dieser Erfahrung nichts lernen – weder über sich selbst, noch über das System, gegen das sie rebelliert. Sie wird einfach nur härter werden und die Kluft zwischen sich und ihrer Umgebung weiter vertiefen.
Wenn Sasha Drogen nimmt, dann zieht sie aus dieser Erfahrung keine Konsequenzen; sie flüchtet einfach nur für kurze Zeit in ein vergängliches Glück. Haruki Murakami hat seinen Protagonisten in „Kafka am Strand“ – ebenfalls ein Ausreißerkind – als den „coolsten 15-Jährigen dieses Planeten“ charakterisiert. In Natasha Radojcics „Du musst hier nicht leben“ bekommt es der Leser mit der härtesten 14-Jährigen auf dem Balkan zu tun.
Der Verlust einer ahnungslosen, unschuldigen Kindheit wird in diesem Roman als Verlust der Heimat erzählt. Die wachsenden Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen Jugoslawiens sind gleichsam in der Hauptfigur Sasha selbst verdichtet.
Natasha Radojcic sagt selbst, sie begreife es als die einzigartige Möglichkeit und politische Kraft des Geschichten-Erzählens, in der Geschichte eines Einzelnen die große Geschichte so erzählen zu können, dass sie den Leser wirklich bewegen und berühren kann – mehr als abstrakte historische Daten und Fakten. In ihrem Roman „Du musst hier nicht leben“ gelingt ihr genau das: Sie macht den Verlust von Heimat und Identität, die Folgen des Jugoslawien-Krieges für Hunderttausende, in ihrer ganzen Brutalität und Perspektivlosigkeit spürbar.
Natasha Radojcic: Du musst hier nicht leben
aus dem Amerikanischen übersetzt von Friederike Meltendorf
Berlin Verlag 2006,
208 Seiten. 19,90 Euro