Brutale Repression bietet "weiteren Anlass für die Proteste"

Moderation: Korbinian Frenzel · 05.06.2013
Es gebe zwar immer Auslöser für Proteste, aber die funktionieren nur, wenn sie auf einen fruchtbaren Boden fallen, erklärt Jonas Wolff, Wissenschaftler bei der hessischen Stiftung für Konfliktforschung. Ein Missstand müsse breite Teile der Bevölkerung betreffen, und das sei in der Türkei der Fall.
Korbinian Frenzel: In der Türkei halten die Proteste an gegen Regierungschef Erdogan. Auch letzte Nacht gab es Demonstrationen. Es blieb insgesamt etwas friedlicher dabei. Aber die Leute sind weiterhin auf der Straße. Das Interessante daran: Vor einer Woche hätten wir uns das noch nicht träumen lassen. Nichts deutete darauf hin, dass es auf einmal derart explodieren könnte in der Türkei.

Wie kann das sein, dass quasi von einem Tag auf den anderen aus ganz friedlich dahinlebenden Gesellschaften solch ein Unmut hervorbricht, ohne Vorwarnung, ohne, dass es irgendwer hätte vorhersagen können?

Wir sind nicht die einzigen, die sich das fragen. Die hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung tut das ganz professionell. Vor allem Jonas Wolff tut das dort, Experte für Fragen von Herrschaft und gesellschaftlichem Frieden. Guten Morgen, Herr Wolff!

Jonas Wolff: Schönen guten Morgen!

Frenzel: Der Frieden, der gesellschaftliche Frieden ist dahin in der gesamten Türkei. Das kann man wohl jetzt schon sagen. Und dabei ging es doch eigentlich nur um ein paar Bäume. Wie kann das so eskalieren?

Wolff: Ich glaube, Sie haben zwei Stichworte genannt, die ich hier vielleicht zum Aufhänger nehmen kann. Das eine ist: Gesellschaften, die doch schon so friedlich sind, oder noch so friedlich sind. Wie kann man dann aber vorhersagen, dass das auf einmal so eskaliert.

Ich glaube, zum einen ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir, glaube ich, als Wissenschaftler und Forscher anerkennen müssen, dass wir es nicht vorhersagen können. Das wissen die Beteiligten nicht im Vorhinein und es ist bisher nicht die Zauberlosung gefunden, nach der wir so etwas vorhersagen können. Es lässt sich, glaube ich, schlicht nicht vorhersagen, weil zu unterschiedliche Akteure, Prozesse, Zufälle, Dynamiken hier im Spiel sind, als dass man das im Vorhinein wissen kann.

Frenzel: Was sind denn die Zutaten, die man braucht für eine solche Situation?

Wolff: Die andere Seite ist das, was Sie mit friedlich angesprochen haben. Natürlich ist es aber nicht so, dass in Gesellschaften, in denen sozusagen alles friedlich ist, alles in Ordnung ist, alle zufrieden sind, auf einmal wegen irgendeinem Projekts oder was auch immer, einem Bauvorhaben, jetzt Massenproteste eskalieren. Das ist nicht so.

Es gibt zwar immer Auslöser und diese Auslöser sind dann immer weniger als das, worum es im Endeffekt geht, aber die funktionieren nur als Auslöser, weil sie auf einen in irgendeiner Weise fruchtbaren Boden fallen, das heißt eine schon vorhandene Unzufriedenheit, ein Missstand, ein Leiden, eine generelle Frustration, die breitere Teile der Bevölkerung in irgendeiner Weise schon vorher betreffen muss, damit ein solcher Auslöser überhaupt als solcher fungieren kann.

Frenzel: Das heißt, wir brauchen erst mal eine generelle Unzufriedenheit in der Gesellschaft, auch wenn man sie nicht spürt, und dann einen Auslöser, und der kann auch gerne nichtig sein?

Wolff: Ja. Das interessante Phänomen, was wir feststellen, wenn wir nach den Ursachen allgemein von Konflikten, aber auch von Protestbewegungen, Rebellionen und solchen Phänomenen fragen, ist, dass die naheliegendste Antwort immer diese Unzufriedenheit ist, irgendein Missstand, aber wir feststellen, dass es solche Missstände und Unzufriedenheiten natürlich quer durch die Welt in allen Zeiten und an den meisten Orten gibt, sodass das Potenzial für solche Proteste im Prinzip immer da sein sollte, aber in aller Regel brechen sie trotzdem nicht aus. Insofern ist auch diese Unzufriedenheit an sich zwar notwendig, sozusagen als Grundlage, aber eben nicht hinreichend.

Frenzel: Und was braucht man noch? Braucht man einen gemeinsamen Feind beispielsweise?

Wolff: Das ist jedenfalls hilfreich. Was wir häufig in solchen Protest-Eskalationszyklen beobachten ist, dass sich da durchaus sehr heterogene Protestbündnisse formieren, sehr unterschiedliche Personen, Gruppierungen, politische Kräfte, unpolitische, gesellschaftliche Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen Ideen, Forderungen, auch sehr unterschiedlichen Arten von Unzufriedenheit, wenn man so will, zusammenfinden, und dieses Zusammenfinden sehr unterschiedlicher Gruppierungen wird natürlich dann gut möglich, wenn man sich irgendwie einen gemeinsamen Gegner konstruieren kann und gegen einen gemeinsamen Schuldigen zieht, der symbolisch vielleicht auch nur, aber eventuell auch real politisch verantwortlich ist für diese Missstände, den man als gemeinsamen Gegner, gemeinsamen Nenner dann auch angehen kann.

Das Zweite - und deswegen ist es vielleicht auch kein Zufall, dass es häufig auch um solche Arten von relativ konkreten politischen Vorhaben, Projekten oder politischen Entscheidungen geht: Man hat auch eine politische Entscheidung, gegen die man sich konkret wenden kann, weil man braucht in aller Regel, damit man breitere Proteste hinbekommt, so was wie ein erreichbares Ziel. Wenn das sehr weit reichende allgemeine Forderungen sind, ist das schwierig. Wenn man relativ konkret sagen kann, wir sind gegen Stuttgart 21, wir sind gegen das Bauprojekt XY, wir sind gegen die Person XY, ist das natürlich ein sehr viel greifbareres und auch irgendwie realisierbares Ziel.

Frenzel: Ich habe es anfangs gesagt: Ihr Arbeitsbereich beschäftigt sich mit gesellschaftlichem Frieden, aber auch mit Fragen der Herrschaft. Wenn wir uns die Seite mal angucken, was empfehlen Sie denn den Herrschenden, den Regierenden? Wie reagiert man auf solche Proteste am besten, Stärke zeigen, dagegen halten?

Wolff: Der völlig skrupellose Konfliktforscher würde vermutlich sagen, man sollte sich entscheiden, entweder oder: Entweder man hat die Macht und hat die Möglichkeit dazu, kohärent brutal repressiv vorzugehen - ich sage bewusst skrupellos; das wäre nicht eine politische Empfehlung, die ich mache.

Aber was wir beobachten in der Empirie ist, wenn ein Regime, eine Regierung, ein Staatsapparat in der Lage ist und willens ist, massiv repressiv vorzugehen, dass er Proteste frühzeitig in der Lage ist, letztlich einfach zu unterdrücken, die entscheidenden Leute ins Gefängnis zu schmeißen, im Zweifelsfall auch über Leichen zu gehen, kann das erfolgreich sein, setzt aber auch voraus, dass die Regierung den Staatsapparat, den Polizeiapparat, Sicherheitsapparat auf seiner Seite weiß.

Die Alternative ist ein möglichst frühzeitiges, im Idealfall schon fast präventives Zugehen auf entsprechende Proteste, Angebote von Einbindung, von Gesprächen, von Partizipationsprozessen, von Mediationsprozessen. Da muss noch nicht mal - und das sehen wir ja - ich sitze ja hier in Frankfurt, wo wir die Erfahrungen mit dem Flughafen-Mediationsverfahren hier bei dem Ausbau hatten, Stuttgart 21 ist ein ähnlicher Fall.

Da muss noch nicht mal am Ende wirklich bei rauskommen, dass sich die Protestierenden durchsetzen. Es kann sein, dass am Ende gar keine nennenswerten Zugeständnisse gemacht werden. Aber man bietet Foren, Institutionen der Partizipation, der Mediation, des Dialogs, der Alternativen zum Protest auf der Straße bietet und der dann auch in der Regel dazu führt, dass sich die Protestierenden spalten - das ist jetzt auch wieder taktisch -, dass ein paar eher radikal bleiben, wir wollen aber nicht, wir vertrauen dem Staat nicht, andere machen aber mit, sodass die geschwächt werden. Das ist jetzt strategisch formuliert eher Erfolg versprechend. Wünschenswert ist natürlich jetzt aus einer normativen Perspektive, je friedlicher und je demokratischer und je ernst gemeinter man solche Verfahren steuert.

Was am schlechtesten funktioniert im Sinne von, dass es solche Protesteskalationen weiter anheizt, ist die Kombination von Repression, ein bisschen Repression, man schickt die Polizei, man schickt Sicherheitskräfte, die gehen auch brutal vor, aber gleichzeitig ist man jetzt auch in der Türkei oder auch in den deutschen Erfahrungen: Man hat sozusagen im Prinzip ein demokratisches Regime, was jetzt nicht einfach die Bevölkerung unterdrückt mit Gewalt und das auch nicht kann und auch nicht will vielleicht.

Das heißt, man hat irgendwie Repression, gleichzeitig macht man aber keine wirklichen Angebote. Man beharrt darauf, dass die Entscheidung gefallen ist, dass man doch selbst demokratisch legitimiert ist, diese Entscheidung zu treffen, und irgendwelche Bevölkerungsgruppen jetzt nicht auf einmal was anderes wollen. Man verschließt sozusagen Dialogkanäle und bietet gleichzeitig, indem man durchaus brutal teilweise vorgeht, dann noch weiteren Anlass für die Proteste, jetzt erst recht zu eskalieren.

Frenzel: Wasserwerfer und Tränengas sind selten eine gute Idee - Jonas Wolff, Wissenschaftler bei der hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung war das im Gespräch, und das haben wir vorher aufgezeichnet.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema