Brutale Jugend

21.04.2009
"Kalte Kinder" ist ein aktuelles, sehr journalistisches Sachbuch. Die "Stern"-Reporterin Ingrid Eissele folgt der Spur von gut ein Dutzend aggressiven, hartherzigen, groben Kindern und Jugendlichen.
Da ist zum Beispiel die Clique von zwei Mädchen und zwei Jungen zwischen 17 und 22 Jahren, die einen Gleichaltrigen zum schwerstbehinderten Pflegefall schlug und sich kaum schuldig fühlt. Oder ein 8-Jähriger, der sein Meerschwein tötet und meinte, es habe doch vor Vergnügen gequietscht. In den jeweiligen Umfeldern recherchiert die Autorin, was die Heranwachsenden so brutal werden ließ und beschreibt, was der interessierte Leser wissen will: Wie die Täter selbst in ihrer Kindheit wahrgenommen wurden, ob und welche Gewalterlebnisse sie zu verkraften hatten, wie die Beziehung der Eltern zum Kind und zueinander ist, welche Krankheiten oder Abweichungen im Verhalten es gibt. Das ist der eine, sehr lebendig geschriebene Strang des Buches. Der andere führt in die Wissenschaft und zur Therapie und hat einen eher bemühten Charakter, der kaum zu neuen Einsichten führt.

Die Geschichten von den Kindern und Jugendlichen allerdings gehen unter die Haut. Allen voran die über den egozentrischen Lukas. Der 18-Jährige wird von seinen Eltern, seinem Bruder, den Verwandten, seinem Psychiater als eine Zumutung betrachtet. Dabei ist es beim Lesen kaum auszuhalten, wie der hochbegabte, hyperaktive Junge in seiner anständigen Mittelschichtfamilie um Aufmerksamkeit ringt, ohne das ihm je ein klares, deutliches, aber freundliches Gegenüber entgegentritt. Einen Aushilfsjob bei seinem Großvater hat er hingeschmissen, weil er halb fünf hätte aufstehen müssen. Kein Problem. Mama bezahlt schon die gewünschte Gitarre oder den teuersten Laptop. Und sie greift auch in die Auseinandersetzung der Geschwister ein, will Frieden und lässt die wilden wie berechtigen Impulse der Söhne ins Leere laufen und erklärt sich nicht einmal. Die Eltern halten an dem schönen Schein und an einer Ordnung fest, die den Jungen erkalten und entgleiten lassen. Darin sind sie eine Zumutung.

Doch das ist das Irritierende an dem Buch, dass sich Ingrid Eissele kaum um die kalten Erwachsenen und deren mangelndes Einfühlungsvermögen kümmert. Was ist mit der Mutter von Lukas los, die sich von ihrem Mann anhören muss, der missratene Sohn sei ihr Kind, und die sich zugleich ohne Mitgefühl für sich selbst für die Familie aufopfert? Was fühlt ein Lehrer, der seinen Stoff durchzieht, während die Mädchen der Klasse sich mit ihrem Zickenterror gegenseitig das Leben zur Hölle machen? Davon erfahren wir in dem Buch nichts.

In dem erklärenden Teil des Buches zeichnet die Autorin die Stufen nach, über die sich Empathie bis hin zur Fähigkeit der aktiven Fürsorge entwickelt. Dazu gehört nicht nur zu spüren, was mit den anderen los ist. Auf der höchsten Stufe setzt man sich auch für sie ein, zeigt Engagement und Zivilcourage. Die Autorin selbst bleibt mit ihrem Buch in der rationalen Form der Perspektivübernahme, in der kognitiven Empathie, stecken. Zwar bleibt sie damit ihrem Titel treu, schreibt über die "Kalten Kinder". Aber sie wagt es nicht, die Kälte der Gesellschaft, die Empathielosigkeit der Erwachsenen zu benennen. Schade. Vielleicht aber liegt gerade darin der Wert des Buches – dass es verstört, erschreckt, den Leser weiter fragen lässt. Lesen sollten es auf alle Fälle all jene Erwachsenen, die sich über die "Kalten Kinder" erregen. Ob sie auf den 220 Seiten aber sich gespiegelt sehen ist fraglich.

Rezensiert von Barbara Leitner

Ingrid Eissele: Kalte Kinder. Sie kennen kein Mitgefühl. Sie entgleiten uns.
Herder Verlag, 2009, 220 Seiten, 18,95 Euro