Brunnen und Hausfundamente im Watt

Von Lutz Reidt · 20.07.2013
1634 ertranken bis zu 15.000 Menschen bei einer verheerenden Sturmflut an der Nordseeküste. Betroffen war auch Hersbüll, ein kleines Dorf südlich der heutigen Insel Nordstrand. Die Reste dieser Ortschaft sind auch heute noch im Watt zu finden.
Der Wettergott meinte es heute gut mit Robert Brauer. Zwar zog in der vergangenen Nacht noch ein Sturmtief über die Küsten von Pellworm und Nordstrand, doch jetzt - am frühen Morgen - begleitet strahlender Sonnenschein den Heimatforscher hinaus ins Watt an der Südküste von Nordstrand.

Der Wattführer ist Mitglied der Archäologischen Gesellschaft Schleswig-Holstein. Der Friese weiß aus Erfahrung: Relikte historischer Siedlungen finden sich immer dann, wenn es gestürmt hatte, wenn das Watt am Morgen danach seine verborgenen Schätze freigibt:

"Hier haben wir sogar noch ´n Knochen. Wenn wir noch ´ne Suppe kochen wollen. Guck mal da, ´n Knochen."

Der Wattführer greift sich das rund 15 Zentimeter lange Fragment und reicht es weiter an Cornelia Mertens. Die Heimatforscherin weiß genau, warum der Knochen nicht bleich ist, sondern grau-schwarz:

"Ja, das kommt durch den Sauerstoffabschluss, diese Schwarzfärbung. Der hat ja hier lange in so einem moorigen, morastigen Untergrund gelegen, da werden diese Knochen alle schwarz und die färben sich wieder zurück, wenn sie der Sonne ausgesetzt sind; es ist schon ein bisschen unheimlich, wenn man diese Knochen in der Hand hat. Hier sind Menschen gestorben; und das sind auch bisweilen Menschenknochen, die wir hier finden; und das berührt einen dann schon, das lässt einen nicht kalt, dass Menschen hier gestorben sind und dass man ihre Überreste hier immer noch im Watt finden kann."

Reste von alten Siedlungen im Sand
Das Knochenstück scheint von einem Bein zu stammen, oder einem Arm. Deutlich ist die kugelförmige Gelenkfläche des Knochenkopfes zu erkennen. Immer wieder entdecken Cornelia Mertens und Robert Brauer auf ihrer Suche im Watt Reste von alten Siedlungen - so auch Kulturspuren von Hersbüll, einem untergegangen Dorf vor der Südküste von Nordstrand.

Im Oktober 1634 versank Hersbüll in einer gewaltigen Sturmflut, der Zweiten Groten Mandränke. Friedvoll und beschaulich ist die Stimmung auf Schloss Annettenhöh am westlichen Stadtrand von Schleswig. Das schmucke, ockerfarben verklinkerte Herrenhaus stammt aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts und ist von einem kleinen Park umgeben. Hier hat das Archäologischen Landesamt Schleswig-Holstein seinen Dienstsitz. Martin Segschneider ist hier zuständig für die Unterwasser-Archäologie und damit auch für die Funde von Hersbüll:

"Hersbüll ist ein sehr spannender Fundplatz, der über zahlreiche Siedlungsspuren verfügt, vom Hohen Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert; und es sind nicht nur Siedlungsspuren, sondern auch Deiche dort zu erkennen; und wir können anhand der Scherbenfunde zum Beispiel sehr genau sagen, dass hier eine Besiedelung vom 13. bis zum 17. Jahrhundert stattgefunden hat."

Die Funde aus dem Watt ergänzen historische Quellen wie etwa alte Urkunden, die Hersbüll erstmals im Jahr 1198 erwähnen. Im Gegensatz zum legendären Rungholt, deren Reste einige Kilometer weiter westlich entdeckt wurden, hatte Hersbüll die Erste Grote Mandränke von 1362 noch überstehen können:

"Zumindest hat eine Wiederbesiedlung stattgefunden. Wir kennen die Schäden nicht genau. Es kann sehr gut sein, dass in der Ersten Groten Mandränke dort umfangreiche Verluste eingetreten sind, aber die Leute waren in der Lage, diese Landschaft dann wiederzubesiedeln; und das dann bis ins 17. Jahrhundert, als dann diese Flächen endgültig verloren gegangen sind."

11 Häuser wurden zerstört, 49 Menschen starben
Alten Quellen zufolge fielen der Sturmflut von 1634 insgesamt 49 Einwohner von Hersbüll zum Opfer, 11 Häuser wurden dabei zerstört. Spuren davon finden sich aber immer noch, wenige hunderte Meter vor der heutigen Deichlinie vor Nordstrand im Watt.

Bei Niedrigwasser winden sich kleine Rinnsale und weitläufige Priele durch die sandige Wattlandschaft. Die Morgensonne lässt das Wasser in den Pfützen glitzern und funkeln. In der Ferne sind dunkle Flecken über dem Wattenboden zu erkennen: Verwitterte, schwarzbraune Holzstümpfe, die aus dem gelbgrauen Schlick hervorlugen. Die Reste eines Jahrhunderte alten Stackdeiches:

Robert Brauer: "Stackdeich muss man sich vorstellen: Alle zwei Meter einen Pfahl in die Erde ´rein, quer verbohlen bis auf eine Höhe von Mitteltidenwasser kurzüber; und das würde dann eine Höhe von 1,50 Meter sein; und dann kommt die Deichschrägung; nach innen den gleichen Verlauf wie heutzutage auch, nur ein anderes Profil. Somit war Normaltide immer an der Holzwand."

Die Normaltide, wohlgemerkt. Anders war es jedoch es jedoch in der Oktobernacht von 1634. Zeitgenössischen Berichten zufolge soll der Pegel bei dieser Sturmflut etwa vier Meter über dem mittleren Tidehochwasser gelegen haben. Somit konnten die noch nicht einmal halb so hohen Stackdeiche keinen Schutz mehr bieten:

"Die waren sehr anfällig. Wenn Sturm war, dann schlugen die Wellen über das Holz rüber und kolkten hinter der Holzwand aus; und somit wurde der Deich angenagt und dementsprechend gingen sie kaputt."

Eine Scherbe mit Seepocken
Nicht nur das Holz solcher Stackdeiche ging bei der Groten Mandränke von 1634 kaputt, sondern auch das Hab und Gut der Bewohner von Hersbüll. Martin Segschneider hält jetzt in seinem Büro in Schleswig eine etwa zwanzig Zentimeter lange, honigfarbene Scherbe in der Hand. Sie stammt von einer großen Schale oder Schüssel:

"Die hat einen ausbiegenden Rand, der ist dann sehr verdickt, so dass also der flüssige Inhalt auch drinblieb; innen ist sie schön honigfarben glasiert, außen ist sie aber unglasiert; das heißt, man hat also Glasur gespart. Das ist eine Alltagsware, die auf dem Tisch zum Einsatz kam; und die gehört in das 16. oder 17. Jahrhundert. Und wenn man jetzt genau hinguckt, dann sieht man noch sehr viele graue Seepocken drauf; man sieht also: Die Scherbe muss aus dem Wattenmeer gekommen sein, die hat dann irgendwann unter Wasser gelegen, wurde besiedelt von den Seepocken, und wurde dann von Frau Mertens vor einiger Zeit gefunden."

Dass dieses Gefäß damals auch in der Region genutzt wurde, vielleicht sogar von Bewohnern aus Hersbüll, ist zwar möglich, lässt sich heute jedoch nicht mehr zweifelsfrei klären. Überzeugt ist der Archäologe jedoch, dass die Töpferware importiert wurde und nicht aus der Heimarbeit vor Ort stammen dürfte:

"Wir haben also lokal hergestellte Keramik, die relativ schlicht ist und dann haben wir eben die besseren Importwaren, die man natürlich dann auch teurer bezahlen musste, die aus dem Rheinland kamen. Die Leute konnten sich das aber durchaus leisten. Diese Scherbe hier ist sicherlich kein lokales Produkt, sondern eine vielleicht aus Hamburg oder Bremen oder zumindest Husum eingehandelt worden."

Die aufwändige Innenglasur spricht für handwerkliches Geschick, die ebenen Wände ebenso, und nicht zuletzt der sehr gleichmäßige Brand, den der Töpfer beherrschen musste:

"Das war ein Profi, der kannte genau die richtige Brenntemperatur im Ofen; und so eine Glasur aufzubringen ist auch nicht so ganz einfach; diese Schale ist also sicherlich von einem Fachmann, von einem echten Töpfer-Handwerker hergestellt worden und dann zu hunderten wurden diese Produkte verkauft in alle Welt."

Das Watt überdeckt die Funde wieder
Wer heute auf der Suche nach alten Tonscherben durch die pittoreske Priellandschaft des Wattenmeeres stapft, der wandelt auf versunkenen Äckern und Weiden, überschreitet die dunklen Linien von ehemaligen Entwässerungsgräben und stößt auf schwarze Striche und Konturen im ockerfarbenen Sand. Es sind Relikte eines eigens aufgeschichteten Erdhügels - einer Warft:

Cornelia Mertens: "Das ist im Prinzip der Rest einer größeren Warft, die hier gestanden hat. Und auf dieser Warft haben logischerweise auch Häuser gestanden; und wir haben ganz lange dort die Fundamentabdrücke des Hauses sehen können; und das ist ja leider so, dass das Watt sehr dynamisch ist, sich ständig verändert; und deshalb öffnet sich für uns immer ein kleines Zeitfenster; das ist manchmal ein Jahr, manchmal sind es zwei und manchmal drei Jahre, wo wir solche Funde sehen können. Und dann werden sie verdriftet, die werden vielleicht auch endgültig abgetragen; insofern ist es immer ganz spannend, wenn wir was Neues sehen. Dann sollte es möglichst schnell dokumentiert werden, damit diese Standorte und Fundorte der Nachwelt erhalten bleiben."

Eine kreisrunde Vertiefung am Rand der ehemaligen Warft ist mit Wasser gefüllt - ein Brunnenring. Hier schöpften die Menschen damals ihr Trinkwasser aus der Tiefe.

Nicht weit entfernt erspähen wir den schnurgeraden Verlauf des alten Deiches, mit zwei dunkleren Linien darauf, schnurstracks nebeneinander. Kaum zu glauben: Es sind Wagenspuren. Hier fuhren damals die Pferdefuhrwerke auf der Deichkrone entlang. Ein Wunder, dass diese Spuren die Jahrhunderte überdauern konnten:

Robert Brauer: "Wie kann sich das erhalten? Ihr müsst euch das so vorstellen, dass es 200 oder 300 Jahre von einer Sandbank oder von Schlick zugedeckt war. Denn nach einem Sturm, wenn die Deiche brechen: Die ganzen Massen von dem Erdreich laufen über die Fläche drüber und das deckt alles zu. Es wird konserviert! Dann kommt das Salzwasser dazu - das konserviert auch noch. Und dementsprechend wird es erhalten und deswegen können wir heutzutage immer wieder neue Funde machen; und deswegen haben wir immer dieses Zwischenspiel: Es wird wieder zugedeckt und es wird wieder freigelegt."

Ebbe und Flut bestimmen den Takt, dem die Archäologen und Heimatforscher bei ihrer Spurensuche folgen. Das unbestechliche Gedächtnis der Gezeiten - es legt die Zeugnisse der Vergangenheit frei und lässt sie Stunden später wieder verschwinden.
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